Folkers, H.

Der Rechtsbegriff in Hans Dombois’ “Recht der Gnade”

1990

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Horst Folkers

 

Der Rechtsbegriff in Hans Dombois’ “Recht der Gnade”

 

I. Zugang zum “Recht der Gnade”: der Rechtsbegriff

Die Schwierigkeiten, die das Dombois’sche Werk, insbesondere der erste Band des “Rechts der Gnade”, der Lektüre bereitet, sind oft bemerkt worden. Mancher, der vor ihnen nicht resigniert, mag doch immerhin an Adornos Bemerkung zu Hegels “Logik” erinnert werden, daß in ihr “in vielen Partien … der Sinn selbst ungewiß” ist, so daß “man buchstäblich zuweilen nicht weiß und nicht bündig entscheiden kann, wovon überhaupt geredet wird”.1 Doch hat dieser auf den ersten Blick betrübliche Sachverhalt, wie ohnehin bei Hegel auch bei Dombois einen in der Sache selbst liegenden Grund. Der Rechtsbegriff Dombois’ ist in der Antinomie von Gerechtigkeit und Gnade begründet.2 Beide, Gerechtigkeit und Gnade, sind “als solche betrachtet, unvereinbare Gegensätze, … beide sind zugleich untrennbar miteinander verschlungen, wie sie einander auch verdrängen. Proteusartig ist in allen Beziehungsformen je eine Seite dieses Verhältnisses (nämlich von Gerechtigkeit und Gnade, d. Vf.) darstellbar. Bedingung ist nur, daß der Dualismus von Gerechtigkeit und Gnade durchgehalten wird”.3 Die folgenden Ausführungen gehen von der Einsicht Dombois aus, den Rechtsbegriff in der Dualität von Gnade und Gerechtigkeit zu begründen. Sie machen den Versuch der weiteren Klärung ihres Verhältnisses.


1 Theodor W. Adorno, Skoteinos oder Wie zu lesen sei. In: ders., Drei Studien zu Hegel, Frankfurt 1963, 105-173, hier 107.
2 Vgl. etwa die Bemerkung RdG I, 222: “Hier zeigt sich eine echte Antinomie … zwischen Gerechtigkeit und Gnade.”
3 RdG I, 206.

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Dombois’ Rechtsbegriff ist aus der Praxis erwachsen, die Realität des Rechts ist ihm näher als sein normativer Maßstab. Damit hat er von vorneherein eine gewisse Nähe zu einem philosophischen Rechtsbegriff, der wie der hegelsche und kantische Recht als Lebensverhältnis denkt. Die einfachste Form eines kommunitären, also nicht primär normativen Rechtsbegriffs lautet: Recht ist das Vereinigtsein der Menschen. Dieser Begriff erfaßt Recht und Gerechtigkeit in einem und steht damit in der Dimension, die Hegel Sittlichkeit nennt. Das Miteinandersein4 der Menschen — nicht das Menschsein der Menschen überhaupt — erfüllt sich im Recht, denn “die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen”.5

Diese Bestimmung Hegels, die auch heute noch als Maßstab der Gesellschaftskritik akzeptiert werden kann,6 knüpft ihrerseits an den kantischen Rechtsbegriff an, der den “Inbegriff der Bedingungen, unter denen … vereinigt werden kann”,7 für Recht erklärt. Die Spannung kommt in diesen, auf den ersten Blick vielleicht allzu trivial erscheinenden Rechtsbegriff, indem der Mensch als Moment des Vereinigtseins in seiner spezifischen conditio humana ins Spiel gebracht wird. Der Mensch ist als Ding der Natur, Einzelnes unter Einzelnen, als Vernunftwesen aber mit dem Vermögen der


4 Faßt man die Beziehungsformen der Einzelnen in der Gemeinschaft unter den Stichworten Gegeneinander, Nebeneinander, Miteinander, Füreinander, so umfaßt das Recht die ersten drei Momente unter den Primat des dritten, während das Füreinander rechtens nur eröffnet, aber nicht geboten werden kann. Einen Hinweis auf diese Formen der Gemeinschaft gibt Pinchas Lapide, Die Bergpredigt — Utopie oder Programm?, Mainz 1982, 79: “Es ist die hoffnungsvolle Erkenntnis, daß es nicht genügt, aus dem brutalen Gegeneinander ein gleichgültiges Nebeneinander zu machen, denn der Mensch hat es in sich, zum fruchtbaren Miteinander aufzurücken, das in einem liebevollen Füreinander gipfeln kann.”
5 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 258 Anmerkung.
6 Vgl. Michael Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, Berlin 1982, 14.
7 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797/98), in: ders., Werke in 6 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. IV, Darmstadt 1956, 303-634, hier 337.

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Allgemeinheit begabt. So kann das Recht, das Vereinigtsein, auch als das Band definiert werden, durch das die Allheit aller Einzelnen in die Allgemeinheit, von der jeder abhängt, in der allein jeder frei ist, überführt wird. Der Antagonism, das heißt “die ungesellige Geselligkeit der Menschen”8 ist die conditio humana, die hier ins Spiel zu bringen ist. “Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften; weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, das ist die Entwicklung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang sich zu vereinzelnen (isolieren); weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seiner Seits zum Widerstande gegen andere geneigt ist.”9

Man wird diesen auf Vereinigung abzielenden Rechtsbegriff, der jeden Einzelnen von der Gemeinschaft aller differenziert und die Verbindung in dieser Differenz für Recht erklärt, nicht vorwerfen müssen, er harmonisiere. Fragen könnte man allerdings, was den der Inhalt des Rechtes ist, worin die Güter des Rechtes bestehen. Doch sind sie bereits impliziert, insofern der Mensch, als Lebewesen Teil der Gesamtheit neben anderen Teilen, nur durch einen Anteil an den Lebensgütern aller, dem allgemeinen Rechtsgut, sein Leben erhällt. Der einzelne Mensch ist Teil der Natur freilich nur, insofern er sich mit Bewußtsein zum Teil macht und sich einen Anteil an den Lebensgütern des Gesamtgutes teils nimmt, teils zubilligt. Der erste Anspruch auf ein Gut ist der auf sein eigenes Leben und dieses das erste Rechtsgut, aus ihm folgen Ansprüche auf das, was unmittelbar seiner Erhaltung dient. Das Recht als Einigung solcher, ihre Person und ihre Habe als Anteil beanspruchender Teilhaber vollendet sich in der gerechten Verteilung der Güter. Sie geschieht nach der Maxime: Jedem das Seine. Diese Maxime muß in zwei antinomische Maximen auseinandergelegt werden, die nur zusammen gelten. Jedem das Seine


8 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: ders., Werke in 6 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1964, 31-50, hier 37.
9 A.a.O., 37 f.

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heißt zum einen, jedem das Gleiche, insofern er als Person mit allen anderen gleich ist. Und ebenso heißt es, jedem das Ungleiche, insofern er als Naturwesen — schon durch Ort und Zeit — von allen anderen geschieden ist.

Diese Antinomie hat ihren Grund wiederum in der Bestimmung des Menschen als vernünftig-natürlichem Wesen. Zwar leben die Menschen als Rechtspersonen aus der Freiheit, aber sie können nicht von ihr leben. Dazu bedarf es derjenigen beschränkten Güter, die der eine nur hat, insofern der andere sie nicht hat, die also immer verschieden verteilt sind. Die Grenze von Freiheit und Natur und der ihr entsprechenden Gleichheit und Ungleichheit ist nicht von Natur gesetzt, sondern durch Freiheit bestimmt — ebenso wie der Ausgleich des Ungleichen. Mit Hilfe von Maßen und Maßstäben, vor allem dem gesellschaftlichen Maße, dem Geld, werden ungleiche Güter vergleichbar und können os, wenigstens dem Prinzip nach, gleichmäßig verteilt werden. In den Begriffen Teilsein und Anteilhaben als Rechtsbegriffen ist stillschweigend die gesamte gegenständliche Welt als Eigentum der Rechtsgesamtheit vorausgesetzt. “Es ist möglich, einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben; das ist: eine Maxime, nach welcher, wenn sie Gesetz würde, ein Gegenstand der Willkür an sich (objektiv) herrenlos (res nullius) werden müßte, ist rechtswidrig.”10 Die Verteilung der Güter hat hier die Form des Eigentumerwerbs, dessen Art und Weise als gleichgültig erscheint. Seine Grundform ist die Aneignung herrenloser Sachen durch faktische Inbesitznahme, davon abgeleitet ist die Inbesitznahme mit Einwilligung des Vorbesitzers, die als erste rechtlich geregelte Form der Umverteilung angesehen werden kann — wenn hier wie billig von den rechtswidrigen Formen des Raubes etc. abgesehen wird.

In diesen letzten Bestimmungen ist dem Recht als Vereinigtsein gewissermaßen die ökonomische Struktur inkorporiert; aber vielmehr ist sie in seinem Begriff als Vereinigtsein der Menschen als Individuen erhalten, denn ihr bloßes Vereinigtsein ohne Realität ist


10 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, a.a.O. (Anm. 7), 354.

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lediglich ihr — wahrhafter oder unterstellter — Consensus als  wahrheitsfähiger Individuen. Recht ist aber nicht Consensus, sondern Communio,11 als solche aber Frieden der Vereinigten nur als das verborgene Band der Streitenden, fühlbar nur in der seltenen Wohltat des Innehaltens des Streites. Recht ist ebenso das Vereinigtsein der Getrennten wie das Getrenntsein der Vereinigten.

 

II. Der Rechtsbegriff bei Hans Dombois. Zum Ansatz

Der Rechtsbegriff Dombois’, in seiner außerordentlichen Selbständigkeit gegenüber allem Gewohnten und Anerkannten verblüffend, ist schon deswegen fruchtbar, weil er eine bis zur Paradoxie gesteigerte Spannung nicht scheut. Zwar arbeitet Dombois von vorneherein mit einem Rechtsbegriff, der alles  Recht, also auch das Kirchenrecht, umfaßt — insofern gehört er den monistischen Kirchenrechtslehren an.12 Aber dieser Rechtsbegriff enthält selbst die Dualität, in jedem die Fülle der Phänomene nicht verkürzenden Rechtsdenken müsse “der Dualismus von Gerechtigkeit und Gnade durchgehalten”13 werde. Mit den Stichworten der Gnade und der Gerechtigkeit sind schon die beiden Begriffe genannt, durch die die beiden Grundtypen allen Rechtes, das Gerechtigkeitsrecht mit dem zugehörigen normativen Formenkreis und das Gnadenrecht mit dem zugehörigen


11 Die Formen Consensus und Communio können den Typen Gerechtigkeitsrecht und Gnadenrecht zugeordnet werden. Ist Consensus die bürgerliche Grundlage von Rechtsbeziehungen in der Form des Vertrages, so ist Communio die ursprüngliche Totalität der Rechtsbeziehungen, die allgemeine Teilhabe, die für jeden einen statusbegründenden Akt voraussetzt. An der Wiedergewinnung des Gnadenrechts interessiert, kann Dombois auch das Verdienst von Marx neu sehen, “auf die existenzbegründenden Fakten als Daten zurückgegangen” zu sein (RdG I, 185). Dombois fährt fort: “Darin liegt die Wirksamkeit seiner Kritik. Das bürgerliche Rechtsdenken hat nicht begriffen, daß sie die Frage nach der Existenz als Gabe und Gegebenheit nicht mit den Postulaten der Personalität und Freiheit und den Axiomen der Gerechtigkeit beantworten kann.” (185).
12 So auch Ralf Dreier, Bemerkungen zum “Recht der Gnade”, in: Zeitschrift für Evangelisches Kirchenrecht 29 (1984), 405-422 (in diesem Band S. 11-31) und Siegfried Grundmann, Zur Einführung — Evangelisches Kirchenrecht, in: Juristische Schulung 6 (1966), 466-472, hier 467.
13 RdG I, 206.

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statusrechtlichen, institutionellen Formenkreis beschreibbar werden. Die beiden, die Einheit des Rechts ausmachenden Rechtskreise “des fordernden und des gegebenen Rechts” ergänzen sich nicht einfach, vielmehr sind in ihnen “gegenläufige, wesentlich unterschiedene Beziehungen und Existenzsituationen erfaßt und dargestellt”.14 Nur innerhalb einer theologischen Rechtsbegründung kann “die Entgegensetzung von Gnadenrecht und Gerechtigkeitsrecht” in gewisser Weise aufgehoben werden, in dem beide als “Ausdruck des Herrschaftswillens Gottes”15 aufgefaßt werden.

Den aus dieser gegenläufigen Struktur spannungsvoll aufgebauten Rechtsbegriff gewinnt Dombois, indem er den im modernen Recht weitgehend verdeckten und unterbestimmten Rechtskreis des Gnadenrechts neu ans Licht hebt. Die Analyse dieses Rechtskreises zeigt die Defizite in dem herrschenden, normativistisch verkürzten Rechtsbegriff auf und erlaubt, den Grund des Rechts in der Religion neu zu bestimmen. Die dem Gnadenrecht entsprechende conditio humana ist das Bewußtsein der Menschen, das die Antike noch hatte, “daß der Mensch nicht von sich selbst herkommt”.16 Freilich ist damit im christlichen Denken innerhalb des Gnadenrechts zugleich das Gottesverhältnis des Menschen angesprochen und damit eine Beziehung, die schon deshalb nicht ausschließlich als Rechtsbeziehung thematisiert werden kann, weil in Gottes Gerechtigkeit ebenso seine Wahrheit offenbar wird. Aus dem Ineinanderspielen der Strukturen eines weltlichen Rechtskreises der Gnade und eines Gnadenverhältnisses zwischen Gott und Mensch ergeben sich die schwierigsten Problem im Dombois’schen Rechtsverständnis und die Anlässe für die schärfsten Widersprüche. Dennoch kommt für das Verständnis seines Rechtsbegriffs alles darauf an, die Ursprünglichkeit und die qualitative Vorgeordnetheit des Rechtskreises der Gnade im Auge zu behalten. “Gottes Gnade verleiht … dem Menschen einen neuen Stand”.17


14 RdG I, 189.
15 RdG I, 197.
16 RdG I, 205.
17 RdG I, 197.

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Wer, wie Dreier, Dombois’ Ansatz, die Dualität von Anspruch und Anerkennung aufnehmend, wieder den Anerkennungstheorien zuordnen will, bringt die Dombois’sche Leistung, den Rechtsbegriff betreffend, um das wesentliche.18 Es ist vielmehr geboten, gerade umgekehrt auch die Darstellung des Gerechtigkeitsrecht bei Dombois vom Gnadenrecht her zu interpretieren. Denn auch “der Bereich der Gerechtigkeit” kann nur recht beschrieben werden, wo “das ihr eingestiftete Verhältnis von personaler Entscheidung und durchhaltender Sachbindung und Sinneinheit der Entscheidungen”19 ins Auge gefaßt und geklärt wird. Gerade die merkwürdigen Defizite, die die Dombois’sche Beschreibung des Gerechtigkeitsrechts enthält, lassen sich nur verständlich machen vom Hintergrund des Gnadengedankens aus.

 

III. Das Gerechtigkeitsrecht

Die hier versuchte Nachzeichnung der beiden Rechtskreise folgt der Darstellung Dombois’, die zunächst vom normativen Formenkreis ausgeht. Die Definition des Gerechtigkeitsrecht lautet: “Recht sind anerkannte Ansprüche, die notfalls gegen die Willkür des einzelnen Widersprechenden durch den Richterspruch im Namen der Gesamtheit anerkannt werden.”20 In diesen Bestimmungen sind die drei das Recht ausmachenden Momente enthalten: der Anspruch des einen, die Pflicht des anderen — den Anspruch zu erfüllen, und die Anerkennung als die rechtliche Einigung zwischen beiden.

Ist der Anspruch des Berechtigten bestritten, so tritt ein Gegenanspruch des Verpflichteten auf. Dann kann die Anerkennung nicht — wie im Normalfall — vorausgesetzt, dann muß sie vielmehr ausdrücklich festgestellt oder erzeugt werden. Feststellung (Deklaration) oder Erzeugung (Konstitution) der Anerkennung als der Rechtseinigung streitender Parteien sind daher nicht grundsätzlich verschieden,


18 Dreier, a.a.O. (Anm. 12), 413 (in diesem Band S. 22).
19 RdG I, 197.
20 RdG I, 164.

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sondern Formen jenes dritten Momentes des Rechts, der Einigung oder Anerkennung, die “immer … die allgemeine Anerkennung”21 ist. Die Anerkennung kann durch Vergleich zwischen den Parteien zustande kommen, “daß etwa der Beklagte (oder vor dem Prozeß der Verpflichtete, d. Vf.) selbst den Anspruch anerkennt — dann bedarf es des Richters nicht”.22 Die Anerkennung kann auch durch Prozeß, durch eine ausgebildete Rechtsgewalt, der beide Parteien von vorneherein unterworfen sind, “durch den Richterspruch im Namen der Gesamtheit”23 zustande kommen. Die fraglose Überlegenheit der im Richterspruch sich aussprechenden Rechtsgewalt, der “Gesamtheit”, vorausgesetzt,24 kann gesichert sein, daß der “ausgeklagte Anspruch ein neuer” ist, der “auf der Rechtskraft des Urteils”25 beruht. Soweit das im Dreieck von Anspruch (oder “Forderung”),26 Verpflichtung und Anerkennung sich abspielende Grundverhältnis des “Gerechtigkeitsrechtes”, wie Dombois es darstellt.


21 RdG I, 165.
22 RdG I, 165. Der Form des Vergleiches muß auch der Schiedsvertrag zugeordnet werden. Auf den Schiedsvertrag kommt Dombois in der Aufnahme der Ansichten Max Webers zu sprechen: “Der aus den Sühneverträgen der Sippen hervorgegangene Schiedsvertrag, die Unterwerfung unter Rechtsspruch oder Gottesurteil ist Quelle nicht nur allein allen Prozeßrechtes, sondern auch … die ältesten Typen privatrechtlicher Verträge gehen auf Prozeßverträge zurück.” (RdG I, 187). Dadurch erweist sich der Vergleich als Urform der Anerkennung noch vor der Ausbildung einer richterlichen Rechtsgewalt.
23 RdG I, 164.
24 Ohne diese Bedingung, welche das beanspruchte, aber bestrittene Recht im Namen und nach Maßgabe des Rechts gewährleistet, ist der Rechtsbegriff nicht vollständig auszubilden. Insofern wird die dreigliedrige Struktur des Rechtsbegriffs noch deutlicher ausgesprochen durch die Momente: Anspruch (des einen), Anerkennung (durch den anderen), und Gewährleistung (durch die Rechtsgemeinschaft in geordneten Verfahren). Gewährleistung ist die selbständig gewordene Anerkennung, welche den anerkennenden anderen nur insoweit noch würdigt, als er selbst Mitsubjekt der Rechtsgemeinschaft ist. Zu den drei Dimensionen des Rechtsbegriffs, Anspruch, Anerkennung und Gewährleistung, siehe auch vom Vf., Zur Theorie der Menschenrechte — Perspektiven ihrer Weiterentwicklung, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 76 (1990), 12-36.
25 RdG I, 165.
26 RdG I, 193.

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Eine gewisse Irritation über die Gestalt dieses Typus läßt nun aber die oft wiederholte duale Formel “Anspruch und Anerkennung”27 entstehen. “Anspruch und Anerkennung bilden erst in ihrem Zusammentreffen objektives Recht”.28 Das ist insoweit unbestreitbar, als nur ausgesagt sein soll, daß jeder beliebige Anspruch für sich allein noch keinen Rechtscharakter hat. Die Formel kann auch aus eine sinnvolle Darstellung der existentiellen Rechtserfahrung eines Klägers gelten, der zunächst nur einen Anspruch geltend macht, in der Anerkennung des zu sprechenden Urteils aber nunmehr Recht erhält. Für ihn, so läßt sich sagen, erwächst sein Anspruch durch richterliche Anerkennung zu Recht. Aber wie die Rechtserfahrung des Klägers unzureichend ist, die Gesamtstruktur des Rechts zu entwickeln, so ist es diese Formel. Ebenso ist die Rechtserfahrung des Beklagten miteinzubeziehen, dem eine Verpflichtung rechtens auferlegt wird, die er bestritten hat. Recht entsteht oder wird gesprochen zwischen zwei Streitenden, von denen a priori keiner Recht hat. Aber so wie der Kläger gehört wird, so der Beklagte. “Audiatur et altera pars” ist nicht nur eine Rechtsmaxime neben anderen, sie führt zum Fundament alles Rechtes, das verkannt wird, wo nur der Kläger und die Anerkennung seines Anspruchs im Blick sind. Recht ist die Einigung über die umstrittene Sache. Es vollzieht sich immer so, daß dem einen, Kläger oder Beklagten, die Sache nur zugesprochen werden kann, indem sie dem anderen abgesprochen wird. Die Anerkennung, sei es im Vergleich, sei es im Richterspruch, enthält die rechtliche Grenze zwischen Anspruch und Verpflichtung bzw. Gegenanspruch. Die Anerkennung, das Urteil, enthält nach Gesetzen des Rechtes den gerechten Ausgleich zwischen den Parteien, indem es umstrittenes Gut gerecht verteilt.

Das kommutative, ausgleichende wie das distributive, verteilende Moment gehören mitnichten “einem nachcharismatischen, rationalen Rechtsdenken, also einer historischen Form des Rechtsdenkens”29


27 Vgl. Register RdG III, 450; im einzelnen etwa RdG I, 16530, 16738, 1682-6, 16934, 17023.
28 RdG I, 165.
29 RdG I, 166.

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an, sie sind allem Recht vielmehr eingeboren. Die Sache des Rechtes, die Vereinigung der Menschen, ist unvollziehbar, ohne daß den Einzelnen begrenzter Anteil an der Gesamtheit begrenzter Güter zuteil wird und zwischen den Einzelnen Ausgleich in Gabe und Gegengabe geschieht, wobei quantitative Maßstäbe weder für die Verteilung noch für den Ausgleich ursprünglich notwendig sind.

Ist bereits die Formel “Anspruch und Anerkennung” Indiz für eine Verkürzung des Rechtsbegriffs des Gerechtigkeitsrechtes, indem sie den Beklagten (den prozessualen Nachfolger des Verpflichteten), der gegenüber dem Kläger gleichberechtigt ist, übergeht, so wird im Fortgang der Darstellung Dombois’ in der Analyse des “ursprünglich personal charismatischen Urteils des Richters”30 die theologische Motivation dieses Ausfalls greifbar. Worauf es Dombois in dieser Richtergestalt nämlich ankommt, ist nicht schlicht die Friedensstiftung zwischen “Streitenden”,31 in der die Anerkennung des beiderseitigen Rechts im “Namen der Gesamtheit”32 ausgesprochen wird, sondern die überlegene Hoheitsmacht des Richters, mehr noch, daß “dem Charisma … die Transzendenz immanent”33 ist. Nur so ist die folgende — von der Lage des Prozesses weit abführende — Aussage zu verstehen: “Der Kläger erhält von daher vom Richter auch nicht Recht, weil und soweit er Recht hat, sondern weil und soweit sein Anspruch mit dem Recht des Richters übereinstimmt. Der Kläger beruft sich vor dem Richter nicht auf seine Gerechtigkeit, sondern auf diejenige des Richters, auf dessen Geneigtheit und Gnade, um seines eigenen, des Richters Rechts willen, den Kläger zu schützen.”34 Aus Anspruch und Anerkennung sind hier Kläger und Richter geworden, der Beklagte ist vergessen und damit, was rechtens ist. Mitnichten beruft sich der Kläger darauf, daß “sein Anspruch mit dem Rechte des Richters übereinstimmt”,35 mitnichten auf die


30 RdG I, 165.
31 RdG I, 165.
32 RdG I, 164.
33 RdG I, 166.
34 RdG I, 166.
35 RdG I, 166.

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“Geneigtheit und Gnade … des Richters”.36 Gerade der rechtstreue Kläger, und ihn unterstellt nicht nur die moderne, sondern jede Rechtsordnung überhaupt, beruft sich darauf, daß ihm nur das Recht verschafft werden soll, das er wirklich hat. Deshalb läßt er sich ja gerade über das, was sein Recht ist, belehren, nicht durch Gnade oder Ungnade, sondern durch die begründete Rechtmäßigkeit des Urteils. Nur in ihr kann auch der Beklagte den Umfang seiner Verpflichtung wiedererkennen, den auch er als rechtmäßig begreifen und so rechtens erfüllen kann. Wie der Richter, der den Kläger aus “Geneigtheit” ihm gegenüber schützt, Rechtsbeugung begeht, so mißbraucht der Kläger, der seinen Anspruch in Übereinstimmung mit dem des Richters zu bringen unternimmt, die Rechtsmacht des Gerichtes zum Versuch rechtswidriger Enteignung des Beklagten. Der Aufbau einer Rechtsordnung auf diesen Prämissen ist unvollziehbar. Wo immer der Richter nicht, die Rechtsmacht der Allgemeinheit verkörpernd, unparteiisch Anspruch und Gegenanspruch abzuwägen in der Lage ist und somit weder aus “Übereinstimmung” noch aus “Geneigtheit” noch aus “Gnade” beiden Parteien zumißt, was ihnen zusteht, dort wird er selbst Partei, unfähig, sei es den vorrechtlichen Unfrieden in einen Rechtsfrieden zu verwandeln, sei es innerhalb einer Rechtsordnung, den nunmehr außerrechtlich gewordenen Streit als einen Schaden am Recht aufzuheben.

“Anspruch und Anerkennung” reichen sowenig wie Kläger und Richter allein hin, die Struktur des Rechts aufzuhellen. Sie “können sich überhaupt nur vollziehen, wenn zwischen den Beteiligten … eine … Gemeinschaft vorweg besteht”.37 Das “Vorwegbestehen” der Gemeinschaft ist selbst das Recht. In ihr ist jeder potentiell und aktuell Fordernder und Verpflichteter und die Gemeinschaft selbst Grenze, Ausgleich und Gewährleistung von Forderung und Verpflichtung durch Ausbildung einer Rechtsgewalt, deren ursprüngliche Manifestation eher der Gewalthaber als der Richter ist.


36 RdG I, 166.
37 RdG I, 167.

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Ist aber ein irdisches Richtercharisma von Transzendenz bestimmt — wie, nehmen wir es nach dem Zeugnis des Alten Testaments an, das des Salomo — so deswegen, weil der Richter zu einem Abbild göttlicher Gerechtigkeit wird, weil er Übereinstimmung und Geneigtheit als Liebe — nicht zu Kläger und Beklagtem —, sondern zur Gerechtigkeit Gottes in Austrag bringt.38 Aber selbst wenn in dem Dombois’schen Richterbild der göttliche Richter selbst gesehen werden sollte — aber wie könnten wiederum Menschen vor ihm als Kläger auftreten? —, so müßten auch hier Geneigtheit und Gnade mit Sachlichkeit und verläßlicher Treue übereinstimmen, weil sonst die “schöpferische Kontingenz”39 seiner Entscheidung nicht mehr Gerechtigkeit aufrichtet, sondern Willkür ausübt. So wenig wie das Bild des Pneuma kann das der Gerechtigkeit Gottes durch “das volle Moment der Kontingenz”40 recht gezeichnet werden. Es ist die Unberechenbarkeit überlegener Mächte vielmehr ein sicheres Kennzeichen ihrer dämonischen Abkunft.

So wenig Gott berechenbar ist, so sehr ist der Sachlichkeit seiner Gerechtigkeit zu vertrauen. Sie ist ja der Grund dafür, daß die Aussage Dombois’, “der charismatische Richter richtet nicht ohne Ansehen der Person”,41 — jedenfalls, wenn wir in diesem Richter Gott sehen wollen — schlicht und eklatant dem biblischen Zeugnis widerspricht. Ohne Ansehen der Person richtet Gott vielmehr, sowohl denjenigen, der nach weltlichen Maßstäben als Herr über Sklaven den Vorrang hat (Eph 6, 9), wie auch den, der umgekehrt als Sklave in der Welt nachrangig ist (Kol 3, 25). Vollständiger als in diesen Zeugnissen ist die gnädige Sachlichkeit Gottes ja kaum auszusprechen, alle, die sich im Vertrauen auf Christus versammeln, haben den gleichen Zugang zum Vater.


38 In diesem Sinne betont Dombois im 3. Band des Rechts der Gnade selbst den sachlichen Gehalt des Gerechtigkeitsbegriffes: “Spricht man davon, daß ein Richter gerecht sei, so meint man nicht seine Person, sondern die inhaltliche Bewährung seines Gerechtigkeitssinnes.” (RdG III, 38).
39 RdG I, 166.
40 RdG I, 167.
41 RdG I, 165.

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Im Vorgriff auf die Gesamtstruktur des Dombois’schen Rechtsbegriffs kann nun der Grund für die aufgewiesenen Defizite in der Bestimmung des Typus des Gerechtigkeitsrechts angegeben werden. Formal liegt er darin, daß in der dem Recht eigenen Triplizitätsstruktur die Gestalten, die das zweite Moment annehmen kann, der Beklagte als Gegner im Rechtsstreit, der Rechtsgenosse, der Andere als Mitmensch übergangen werden. Das verwundert, weil Dombois die Triplizitätsstruktur des Rechts zunächst voraussetzt und sie im Verlauf seiner Darstellung implizit immer wieder mitberücksichtigt und auch unter dem allerdings juristisch fragwürdigen Ausdruck der Drittwirkung auf das ausfallende zweite Moment des anderen Rechtsgenossen zu sprechen kommt. Material liegt der Grund darin, daß die nun verbleibende Dualität von Einzelnem und Recht, Kläger und Richter, Anspruch und Anerkennung erlaubt, die Asymmetrie schlechthinniger Machtunterworfenheit darzustellen, “daß der eine dem Anderen und dessen faktischer Überlegenheit unterworfen ist”,42 um so das Phänomen der “das System transzendierenden, frei eingreifenden Macht”43 anzusprechen. Auf die duale Asymmetrie  eines Machthabenden und eines Abhängigen kommt es Dombois an, um die Überlegenheit Gottes gegenüber den Menschen auszudrücken und der Vorstellung zu widersprechen, “daß der Mensch kraft eines natürlichen Vermögens vor Gott zu stehen vermöge”.44

Doch ist die schlechthin asymmetrische Konstruktion des Verhältnisses von Gott und Mensch gar nicht die letzte Absicht Dombois’. Vielmehr führt er in einer hochbedeutsamen Abhandlung über die “Rechtsstruktur personaler Bezüge”45 alle reine Dualität, in der sich “allein Gott und der Mensch in einsamer Zweisamkeit gegenüberstehen”,46 radikal zu ihrem Ende. “Alle übrige Religion bedeutet ein


42 RdG I, 173.
43 RdG I, 184.
44 RdG I, 137.
45 So der Titel der ersten Abschnitts des II. Kapitels von RdG I: “Die Rechtsstruktur personaler Bezüge”, 90-97.
46 RdG I, 94.

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Zweierverhältnis.”47 Aber “in dem Glauben an die Fleischwerdung Gottes in die volle Mitmenschlichkeit”48 ist eben dies “Einzigartige”49 behauptet, daß “etwas Hinreichendes”50 eintritt, um “zwischen Gott und Mensch ein Drittverhältnis herzustellen”.51 “Erst durch die Trinitätslehre, in dem Verhältnis Vater-Sohn-Mensch im Geiste ist ein theologisch relevanter Drittbezug geschaffen.”52 In der Trinitätslehre sind alle dualen Verhältnisse auf eine nur relative Selbständigkeit zurückgeführt, durch die Trinität werden sie begrenzt, von ihr her gewinnen sie ihren Sinn. Was für das Kirchenrecht gilt, daß es “insofern die Probleme der Trinitätslehre”53 enthält, “als für seine Gesundheit das Gleichgewicht zwischen immanenter und ökonomischer Trinität wesentlich ist”,54 gilt mutatis mutandis für alles Recht. So sehr gerade einer phänomenologischen Rechtsbetrachtung auch an der Herausstellung dualer Bezüge im Recht gelegen sein muß, die theologischen Grundeinsichten Dombois’ verbieten ihre Isolierung. Das duale asymmetrische Verhältnis von Gott und Mensch einerseits, seine Vermittlung, Verleiblichung und Versöhnung in der Trinität Gottes, in die die Kirche und die Menschheit heilsgeschichtlich einbezogen sind, andererseits, sind die Grundformen, in denen Dombois seine rechtlichen und theologischen Einsichten vorträgt. Macht die Verwendung beider Formen den Reichtum seiner Darstellung aus, so ist der methodisch nicht gesicherte Übergang der einen in die andere Ursache vielfältiger Verwirrungen und Verkürzungen. In der Zwiespältigkeit von dualer Asymmetrie und trinitarischem Gleichgewicht, die nicht zum Austrag der legitimen Dualität beider Formen durchstößt, liegt der Grund aller Mißverständlichkeiten des Dombois’schen Rechtsbegriffs.55


47 RdG I, 94.
48 RdG I, 94.
49 RdG I, 94.
50 RdG I, 94.
51 RdG I, 94.
52 RdG I, 94.
53 RdG I, 94.
54 RdG I, 95.
55 Dreier, a.a.O. (Anm. 12), S. 414 (in diesem Band S. 23), führt zur Problematik aus: “Mißverständlich ist ferner, daß Dombois beide Formenkreise ➝

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IV. Das Gnadenrecht

Auf die Ausgliederung der dualen Formen von Anspruch und Anerkennung, Kläger und Richter aus der Triplizitätsstruktur des Rechtes fällt ein neues Licht, wo der von Dombois wieder geltend gemachte Rechtskreis des Gnadenrechtes betrachtet wird. Vergegenwärtigt man sich zunächst noch einmal, das im vorigen Abschnitt über den Typus des Gerechtigkeitsrechts Gesagte, so ist damit für das moderne Rechtsbewußtsein zunächst schon die Struktur allen Rechtes bestimmt. Rechtsanspruch des einen, Pflicht des anderen, Anerkennung als Vergleich, richterliches Urteil und staatliche Gewährleistung; was sollte über die Fundamentalstruktur des Rechtes noch weiter gesagt werden?

Es ist das Verdienst Dombois’, die in diesem Rechtsbewußtsein steckenden nachrevolutionären bürgerlichen Vorurteile aufgedeckt zu haben. Siegreichem bürgerlichen Bewußtsein erscheint die errungene allgemeine Rechtspersonalität jedes Subjektes als historischer Erfolg, alles Recht auf dieser Basis aber als gegebenes, positives Recht, alle Rechtsgüter als rechtens verteilt und durch das Instrument des Vertrages weiter verteilbar. Über die die Positivität des Rechts erzeugenden, wie auch die Verteilung der Güter bewirkenden instituierenden Akte weiß dieses Bewußtsein nichts auszusagen. Die Instituierung von Recht wird in die Voraussetzungen des Rechts, theoretisch in die Rechtsbegründung durch die Rechtsidee, Naturrecht und dergleichen, praktisch in politische Verfahren abgeschoben. Den Grund des Rechts wieder in den Rechtsbegriff selber


➝ zusätzlich vermittels der Begriffe Gerechtigkeit und Gnade … unterscheidet. Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß Akte freier Zuwendung dem Gerechtigkeitsurteil entzogen seien. Daß dies nicht zutrifft, hat Dombois an anderer Stelle selbst gesehen.” Auch Steinmüller (Wilhelm Steinmüller, Evangelische Rechtstheologie, 2. Hbd., Köln/Graz 1968) kommt zu einer vergleichbaren Auffassung (640, Anm. 4): “Zugleich zeigt sich in seiner abwägenden Argumentation, daß die von Dombois gegebene definitorische Beschreibung des Gnadenrechts die Drittbezüge nicht berücksichtigt (‘Gnade ist ein Rechtsvorgang … zwischen zwei Personen’) und soweit zu ergänzen ist”.

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einzuholen, ist nun die Leistung des Gnadenrechts. “Der statusrechtliche, institutionelle Formenkreis … umfaßt die Vorgänge der Einräumung des Rechtsstatus und diesen selbst mit seinen Rechtsfolgen.”56 Die “Einräumung des Rechtsstatus” unterliegt offenbar weder dem Gerechtigkeitsurteil, das einen vorhandenen Rechtsstatus schon voraussetzt, noch ist sei einfach außerrechtlich. Einräumung ist selbst Recht schaffende Macht. Sie nennt Dombois Gnade.

Im Grundsätzlichen ist sie in die zwei Formen der (erstmaligen) Einräumung und der Wiedereinräumung unterschieden. Während “bürgerliches Rechtsdenken” das Recht in einer alle Bindung übersteigenden Freiheit begründet sieht und daher die Tendenz hat das Recht immer nur als Verfallsform der Freiheit aufzufassen,57 geht es Dombois um die Begründung von Freiheit und Recht. Gegenüber dem “magnus consensus” zumindest der evangelischen Kirchenrechtslehre, “darüber, daß das Recht im Lichte des Evangeliums eine negative Existenzbestimmung des Menschen ist”,58 hat Dombois


56 RdG I, 179.
57 Bürgerlichem Rechtsdenken kritisch entgegentretend (vgl. RdG I, 185), teilt Dombois das liberalistische Mißverständnis einer Rechtsbegründung allein aus Freiheit nicht. Dem Scheincharakter liberaler Rechtstheorie gilt schon die Rechtskritik, die Walter Benjamin in seiner ‘Kritik der Gewalt’ (Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt (1921), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. II, Hrsg. Tiedemann/Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1977, 179-203) vorlegt. Vgl. dazu meine Arbeit ‘Zur Gewaltkritik bei Walter Benjamin’, in: Dogmatik und Methode. Festgabe für Josef Esser, Kronberg/Ts. 1975, 23-35. Bürgerliches Recht ist grundlos — bei Hegel explizit und seinem eigenen Begriffe nach — weil es die Freiheit zum Grund allen Rechtes erklärt. Zu ihr treten Hab und Gut, alles Substantielle des Rechts nur nachträglich und sekundär hinzu. Den in der Freiheit verlorenen Grund des Rechts gewinnt Dombois im Gnadenrecht wieder. Dem Menschen muß zunächst ein Status vergeben sein, eine Gabe, in die, sei sie als Gabe Gottes oder als Gabe der Natur, als Begabung gedeutet, er eingesetzt ist, bevor sich einzelne Rechte und Normen entwickeln können. Auf einer entwickelteren Stufe der Rechtsverhältnisse mag sich der Status dann in ein Normenbündel von Rechten und Pflichten ausfächern. Aber der Status bleibt das Erste, er trägt die Norm als nachfolgende Verpflichtung, er wird nicht erst durch die Summe der Normen konstituiert; als Normenbündel erscheint er lediglich der Betrachtung  ex post. Hier wieder die Dinge vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben — nicht zufällig sieht Dombois seine eigenen Überlegungen in einer Analogie zu Marx (vgl. RdG I, 135) —, ist das Verdienst der Herausstellung des Typus des Gnadenrechts.
58 RdG I, 81.

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einzuwenden: “Gott selbst gibt frei. Diese positive Existenzbestimmung des Menschen im Recht ist die Gnade.”59 “Gnade ist Restitution eines zerstörten, Neuinstitution eines alten Verhältnisses: die ihr analogen Rechtsvorgänge grundloser Zuwendung sind dagegen Institution eines neuen Verhältnisses.”60 Offenbar liegt das Interesse an diesem “Rechtstypus” — oder wohl besser: dieser Rechtsbegründung in dem Verhältnis von Einräumung und eingeräumten Status, in der Differenz von Grund und Begründetem. Damit aber steht im Gnadenrecht tatsächlich eine duale Struktur im Mittelpunkt. “Akte freier Zuwendung … enthalten … eine Rechtseinräumung statusrechtlicher Art.”61 Machen freie Zuwendung und eingeräumter Status die beiden Momente des Gnadenrechtes aus, so zeigt sich weiter die Asymmetrie in dieser Dualität. Auf sie kommt es Dombois gerade an.

“Gnade ist ein Rechtsvorgang, in welchem zwischen zwei Personen ein zerstörtes Rechtsverhältnis wiederhergestellt oder ein neues dadurch begründet wird, daß der einseitig berechtigte Geber kraft überlegener Rechtsmacht durch eine konkrete Zuwendung dem Nichtberechtigten eine Neubegründung oder Mehrung seines Rechtsstandes als freie, nicht geschuldete Begünstigung zukommen läßt.”62 Indem hier die duale Struktur von Grund und Begründetem, Gabe und Status als ein Verhältnis zweier Personen dargestellt wird, treten die Personen ungleich, als einseitig berechtigt und nichtberechtigt, gegenüber. Ihr Ranggefälle erinnert an die duale Struktur von Kläger und Richter — und ist so wenig wie diese in der Lage, einen Typus des Rechtes zu umschreiben. Wird das Verhältnis von Zuwendungsakt und Status in Personen verlegt, so wird damit das Problem der außerrechtlichen Rechtsbegründung nicht näher bestimmt, sondern in seinem Sinn zerstört. Zwischen Personen, deren eine einseitig berechtigt, deren andere nichtberechtigt ist, wird nicht etwa


59 RdG I, 81.
60 RdG I, 178.
61 RdG I, 178.
62 RdG I, 178; diese Umschreibung der Gnade — Dombois geht von der “grundsätzlichen Undefinierbarkeit” (178) aus — stellt Steinmüller in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, a.a.O. (Anm. 55), 637 f.

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Recht begründet, sondern existiert schon vorweg ein Rechtsverhältnis: das des gebotenen Ausgleichs. Die theologische Aussage, daß Gottes überlegene Macht dem Menschen einen Rechtsstatus einräumt, kann als Aussage über das Verhältnis zweier Personen nicht wiederholt werden. Wenn wirklich die Vermutung — an eine “metaphysische Wahrheit” rührend — statthat, “daß in den Anfängen alles Recht ‘Vor’recht der Könige oder der Großen, kurz, der Mächtigen gewesen sei”,63 dann folgt daraus ersichtlich nur die Verwerfung des Rechts dieses Typus, das aufzuheben zur Aufgabe wahren Rechts wird.64

So fruchtbar der Rechtstypus des Gnadenrechts gemacht werden kann, die (göttliche) Herkunft des Rechts zu beschreiben, indem auf die Fakta zurückgegangen wird, die das Gerechtigkeitsrechts bereits voraussetzt, so wenig angemessen ist es, diesen Typus als Verhältnis von Personen zu umschreiben. Gerade wenn die Tendenz moderner Rechtsentwicklung “from status to contract”, der Versuch, alles Recht von einem Urvertrag abzuleiten, als zu kurz gegriffen dargestellt und entsprechend die im Status aufbewahrten Momente jedes Rechts gerettet werden sollen, darf der Typus des Gnadenrechts nicht in die Nähe von Willkürakten geraten. Dieser Gefahr entgeht Dombois dort, wo er als bestimmende Momente der Rechtsbegründung die Struktur der Gabe und des Gebens aufzeigt.65 Gnade ist als Institution Vergabe eines Gutes, als Restitution ist sie Vergebung. “Sie schafft schöpferisch eine neue Lage, hinter die der Betroffene nicht einfach zurück kann. Deshalb verpflichtet Gnade aufs stärkste. Geben ist die stärkste Inanspruchnahme. Nehmen ist sicher, Geben ist dem Wagnis seiner Wirkung gewiß.”66 Deswegen gilt, daß Geben seliger als Nehmen ist, nicht als Forderung, sondern als “eine erfahrene


63 Walter Benjamin, a.a.O. (Anm. 57), 198.
64 Zu diesem Resultat führt denn auch die Benjaminsche Rechtskritik, die alles Recht von der göttlichen Gerechtigkeit her kritisiert.
65 Zur Gabe vgl. das Register RdG III, 455; zum “Geben” vgl. etwa RdG I, 17532,33, 17727, 18326, 18425-30, 19330-39. Zustimmend zitiert Dombois die Definition des Gebens von van der Leeuw: “Geben ist etwas von sich selbst in das fremde Dasein bringen, so, daß ein festes Band geknüpft wird.” (193)
66 RdG I, 175.

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Wirklichkeit”.67 In dieser Weise ist Gnade der Ursprung des Rechts, weil durch Gnade ein Status, der seinerseits Rechtsfolgen erst entfaltet, begründet wird. Die Einräumung eines neuen Standes schafft Recht. Gnadenrecht ist insofern Standesrecht. In theologischer und heilsgeschichtlicher Perspektive läßt sich sagen, daß in “acta salutifera … der Stand des Menschen aus fremden, überlegenen Vermögen unverdient und unkonditional verändert, hergestellt, geheilt, vermehrt wird”.68 Im Rückgang auf die rechtsbegründenden facta durchstößt Dombois die Begrenztheiten bürgerlichen Rechtsdenkens. Wo dieser Rückgang jedoch nicht fundamental ist, die menschliche Rechtsordnung insgesamt auf ihren Ursprung hin transzendierend, wo er lediglich vorbürgerliche Rechtsform erreicht, führt das vorwiegende Interesse Dombois’ für asymmetrische Machtverhältnisse dazu, daß die Gesamtstruktur des Rechts verkannt und Akte zwischen Rechtspersonen als Gnadenakte gedeutet werden, die von Willkür- und damit Unrechtsakten kaum zu unterscheiden sind. Dies sei am Lehnrecht aufgewiesen, das für Dombois eines der hervorragenden Beispiele des statusrechtlichen Rechtskreises ist.

Die Dombois interessierenden eigentümlichen Merkmale des Lehnrechts seien aus der folgenden Passage entwickelt: “Das Königsglück, sein Charisma, zugleich seine konkreten und freien Gaben verbinden die Gefolgschaft zur realen Einheit und verpflichten sie nicht im Sinne des auf bestimmte Leistungen bezogenen und beschränkten Vertrages, sondern zur vollständigen Hingabe, zur Treue bis zum Tode. Im Lehnsrecht sind Gabe und Verpflichtung noch eigentümlich ungeschieden beieinander, schon in einer überreifen form, dem Mißbrauch und der Zersetzung sehr nahe. Verleihungsakt und Treueverpflichtung im Lehnsverhältnis sind sachlich aufeinander bezogen. Aber sie sind nicht konditional voneinander abhängig, sondern bedeuten auf beiden Seiten ein Vertrauenswagnis, bei dessen Scheitern erst nachträglich eine Auflösung des Verhältnisses in Frage kommt. In dem unkonditionalen Charakter dieses Verhältnisses


67 RdG I, 193.
68 RdG I, 179.

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kommt jene vorrationale Ungeschiedenheit der Strukturelemente noch zum Ausdruck.

Die dem bürgerlichen Rechtsdenken vorausgehenden Rechtssysteme, das ältere Gefolgschaftswesen wie das Lehnsrecht, sind also wesentlich auf dem statusrechtlichen Denken aufgebaut, das sachlich auf dem Verpflichtungscharakter der vorausgehenden Gabe mit personaler (nicht primär sachlich umschriebener) Bindungswirkung beruht.”69

Im Zusammenhang des Gnadenrechts kommt es also auf drei Momente des Lehnsverhältnisses an: Die freie ungeschuldete Gabe des charismatischen Herrschers, die Verpflichtung des Lehnsmannes “zur Treue bis zum Tode” und die sachliche Bezogenheit von Gabe und Verpflichtung — gegenüber der (bürgerlichen) konditionalen (oder kausalen) Abhängigkeit (gemäß dem do-ut-des-Prinzip) —, die ein “Vertrauenswagnis” einschließt. Schon wegen des, an sprachlichen Einzelheiten wie “Charisma”, “vollständige Hingabe” und “Vertrauenswagnis”, hervortretenden theologischen Interesses ist es nützlich, einen Hinweis auf die gewöhnliche Betrachtung des Lehnrechts zu geben.70

Der Jurist Coing beschreibt das Lehnrecht in folgender Weise: “Welche Machtmittel aber hatte der Herrscher, um seinen Funktionen zu genügen? Hier wird die politische Bedeutung des mittelalterlichen Lehnrechts sichtbar. Das Lehnsverhältnis war rechtlich die


69 RdG I, 182.
70 Die genannten Vokabeln gehören in dieser Zusammenstellung der versunkenen Sprachwelt der Theologie der 50er Jahre an, deren Wurzeln ihrerseits in die Gedanken- und Sprachwelt der religionsgeschichtlichen Schule der 20er Jahre (Rudolf Otto, van der Leeuw) zurückreichen. Hier wurde inmitten der Profanität und wohl auch im Erschrecken über die durchgreifende Entzauberung der Welt, insbesondere von Thron und Altar, in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg der Versuch gemacht, ein Numinosum zu rekonstruieren, das den irrationalen Grund zu den rationalen Begriffen Gottes abgeben sollte (vgl. Rudolf Otto, Das Heilige, zuerst 1917, München 1963, 2). Das erstrebte Numinosum mußte zwar geeignet sein, dem Bürger ein tremendum fascinosum zu bescheren, sollte ihn aber zugleich davon entbinden, an einem “vernünftigen Gottesdienst” teilzunehmen. Insofern liegt hier ein nicht neutraler Durchgangspunkt deutscher Tradition und Zukunft.

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Kombination eines persönlichen Treueverhältnisses mit der Vergabe von Grundbesitz oder nutzbaren Rechten. Der Lehnsmann tritt zum Lehnsherrn durch feierlichen Vertrag in ein persönliches Treueverhältnis, das ihn zu bestimmten persönlichen Leistungen verpflichtet, zu consilium et auxilium, wie die Quellen sagen, zu Rat und Hilfe. Er muß am Hofe des Lehnsherrn in dessen curia Rat geben, in politischen Dingen ebenso wie in Gerichtssachen, und er muß Militärdienst als Ritter leisten, allein oder mit einem bestimmten Kontingent. Diese Leistungen können freilich beschränkt sein; örtlich etwa auf Reichsgebiet oder zeitlich auf einen bestimmten Zeitraum im Jahr. Damit der Lehnsmann diese Leistungen erbringen kann, erhält er vom Lehnsherrn Grundbesitz verliehen, von dem er lebt. Das Lehnsverhältnis ersetzt, etwas überspitzt gesagt, funktionell in einem Zustand der Naturalwirtschaft das Beamtentum des späteren Staates.”71 Nun muß diese Deutung des Lehnssystems als eines Machtsystems, das auf persönlicher Wechselverpflichtung aufgebaut ist, die im Gedankenkreis des Vertrages und in der Absicht, auf die Funktion eines späteren Beamtentums hinzuführen, ansetzt, nicht das letzte Wort über die Sache sein. Doch fällt sofort ins Auge, daß weder von einer freien Vergabung des Lehens die Rede ist, noch auf eine unkonditionale Bezogenheit von Gabe und Verpflichtung ein Hinweis geschieht.

Ein ähnliches Bild der Sache ergibt sich aus den Bemerkungen zum Lehnssystem, die der Historiker Fleckenstein im Verlauf einer größeren Darstellung über den Beginn der deutschen Geschichte namhaft macht. Im älteren Lehnswesen kam zu den “beiden Elementen Vasallität und Benefizien” (beneficium = Lehen, wohl auch als “Gnadengabe” übersetzbar) “durch die Aufnahme des Treuegedankens” noch ein drittes Element hinzu. Hierdurch wird das Verhältnis “als ganzes ethisiert, und indem die Treue zum Zentralbegriff des Lehnswesens wird, wird die alte Einseitigkeit der Verpflichtung durch eine neue Zweiseitigkeit ersetzt; die Treue verpflichtet den


71 Helmut Coing, Epochen der Rechtsgeschichte in Deutschland, München 1967, 22 f.

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Gefolgsmann und den Herrn”.72 Fleckenstein betont im eigentlichen Lehnsverhältnis die Wechselseitigkeit des Treueversprechens, wodurch das Recht als Ausgleich in das zuvor asymmetrische Verhältnis von Lehnsherr und Lehnsmann eintritt. Der Ursprung des Benefizialwesens in der Merowingerzeit wird wie folgt beschrieben: “Der König hat sich natürlich zu allen Zeiten veranlaßt gesehen, Männer, die ihm besonders wertvolle Dienste geleistet hatten, durch Schenkungen zu belohnen. Im Zeitalter der Naturalwirtschaft bezogen sich die wertvollsten Schenkungen naturgemäß auf Grund und Boden oder auf nutzbare Rechte, die damit vergleichbar waren. Das Reservoir, aus dem er dabei schöpfte, war zunächst das Königsgut. Diese Schenkungen haben in der Merowingerzeit noch nichts mit Lehen zu tun: es sind Landvergabungen zu gebundenem Eigen, wobei das Obereigentum des Schenkers gewahrt bleibt — eine Form, die auch später noch immer möglich sein wird.”73 Seit den fränkischen Hausmeiern können diese Landvergabungen als Lehen charakterisiert werden. In dieser Zeit konnte es zu größeren Schenkungen und damit der Ausbreitung des Benefizial- und Lehnswesen kommen, da


72 A.a.O., 112.
73 Josef Fleckenstein, Grundlagen und Beginn der deutschen Geschichte, Göttingen 1974 (19802), 113. Dieser Betrachtungsweise, die auch für das Lehnsverhältnis den Blick auf den Ausgleich zwischen Lehnsherrn und Vasall und die ihnen gemeinsamen Verpflichtung lenkt, nähert sich Dombois in RdG III deutlich an: “Im Mittelalter erklärt sich die relative Verträglichkeit des Lehnssystems mit dem christlichen Glauben und der Existenz der Kirche trotz der bekannten Konflikte daraus, daß dieses System auf der Verbindung von freien Vergabungen mit wechselseitigen Verpflichtungen aufgebaut war. Der Lehnsmann brauchte nicht zu fragen, ob er einen gnädigen Herrn habe —; denn er lebte auf der Grundlage des ihm anvertrauten Amtes oder Gutes, welches ihm jener verliehen hatte. Er schwor diesem Herrn oder der Herrin einen körperlichen Eid, der den trinitarischen Glauben der Christenheit widerspiegelt. Er gelobte Treue im Blick auf die Treue Gottes, die alle Welt erhält. Diese Pflicht aber sollte er nicht nur nach ihrem bloßen positiven Umfange, sondern mit innerer Neigung und Identifikation erfüllen, indem er ihm hold war — im Blick auf die Gnade Christi, in dem die Liebe Gottes manifest war. Und er sollte auch nicht nur überschaubare, definierte Verpflichtungen gutwillig erfüllen, sondern dem Lehnsherrn auch in den Verwicklungen gewärtig sein, die etwa auf ihn zukamen — dies im Horizont der Gebrechlichkeit aller Dinge und der letzten Dinge überhaupt. Dieser große Nexus besaß eine geistliche und geschichtliche Dignität unbeschadet der eigenen Rechte der Kirche”. RdG III, 29 f.

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die Hausmeier zu Beginn des 8. Jahrhunderts in großem Umfang Säkularisationen von Kirchengut vorgenommen hatten. “Denn da das Königsland für Landschenkungen nur zum Teil zur Verfügung stand, hat Karl Martell auf das Kirchengut zurückgegriffen, indem er bei der Kirchen gewissermaßen Zwangsanleihen nahm, wofür diese dann durch sogenannte Zehnten entschädigt wurden. Da das Kirchengut aber nach kanonischem Recht unveräußerlich war, gab es rechtlich nur die Möglichkeit, den Besitz auf Zeit an sich zu nehmen und als Leihgabe weiterzugeben. Solche Landleihen bei der Kirche auf Veranlassung des Hausmeiers, der im Namen des Königs handelte, hießen ‘Precariae verbo regis’. Sie hatten den Vorteil, daß sie den Besitz der Kirche grundsätzlich nicht verkürzten, weil die Kirche ja weiterhin die Eigentümerin blieb und daß sie dennoch die Ausstattung der Vasallen erlaubten.”74

Es gab auch die gewissermaßen umgekehrte Begründung des Lehnsverhältnisses, in dem der zunächst unabhängige Herr und künftige Lehnsmann sein eigenes Land dem Lehnsherrn “übergab” und es von diesem als Lehen zurückerhielt. Diese Form fand insbesondere dort statt, wo Herrscher das Vorfeld ihres Reiches zu sichern suchten. Hier hätte “tributäre Abhängigkeit … Herrschaft unter Ausschluß von Partnerschaft” bedeutet, ein Freundschaftsbündnis hingegen “Partnerschaft unter Ausschluß von Herrschaft”.75 “Demgegenüber bot nun die Vasallität die Möglichkeit, Herrschaft und Partnerschaft zu verbinden. Dank dieser Verbindung ließ sie sich für die Festigung auswärtiger Beziehungen nutzbar machen. So hat Ludwig der Fromme im Jahre 826 den Dänenkönig Harald zu seinem Vasallen gemacht. Ermoldus Nigellus hat uns in einem Gedicht die Kommendation des jungen Harald beschrieben, mit der dieser Kaiser Ludwig als seinen Senior, seinen Lehnsherrn anerkannte. Die Praxis, die Ludwig der Fromme hier begründete, hat im Mittelalter Schule gemacht. Die deutschen Könige haben sie häufig angewandt, um auf diese Weise durch das Mittel der lehnrechtlichen Oberhoheit ihre Herrschaft


74 A.a.O., 112.
75 A.a.O., 118.

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noch über das Reich hinaus auszudehnen.”76 Von einem Lehnsgut als freier, ungeschuldeter Gabe an einen Lehnsmann kann hier keine Rede mehr sein, vielmehr wird das, was der künftige Lehnsmann ohnehin besitzt, in eine Rechtsform von Schutz und Gefolgschaft einbezogen. Darin zeigt sich, daß wenigstens eine Quelle des Lehnrechtes der Versuch ist, faktischen Besitz und faktische Macht durch Erhebung in den Bereich des Rechtes überhaupt erst zu koordinieren und insofern zuverlässiger zu machen. Besitz und Macht als pure Fakta werden im Lehnsverhältnis gewissermaßen rechtlich überkleidet. Das Lehnrecht ist so der Versuch einer noch schwachen Zentralgewalt des Königs, die zunächst mächtigen Landbeherrscher, die beati possidentes in einen zunächst lockeren Rechtszusammenhang hineinzuziehen. Doch wie immer sich der geschichtliche Ursprung des Lehnswesens im 8. und 9. Jahrhundert darstellen mag, so muß man gegenüber den spirituellen Interessen am Begriff der Gnadengabe, die Dombois auch in der Darstellung des Lehnswesens leiten, auf das Ursprungsmoment des faktischen Innehabens des Landes und der Pfründe sowie der Beschränktheit der zu vergebenden Gütern als der conditio sine qua non weltlicher Vergabungen hinweisen. Wie der Lehnsherr nur vergeben kann, was er zuvor selbst in Besitz genommen hat, so wird er regelmäßig bei der Zuteilung eines Lehens nicht davon abstrahieren können, in welchem Umfang er die anderen Edlen bedacht hat. Jedes Lehen, in der Grenzziehung beim Lehen eines Landes besonders anschaulich, hat unmittelbare “Drittwirkung”, in dem alle diejenigen mitbetroffen sind, die auch bedacht werden können. Die Rivalität unter den Gefolgsleuten zu steuern, ist nicht die kleinste der Aufgaben der “freien” Vergabungen des Lehens, wobei es die geringere Rolle spielt, daß eine Verpflichtung des Lehnsherrn keinen Richter gefunden hätte.77


76 A.a.O., 118 f.
77 Die vielfältigen rechtlichen Bindungen, die das Lehnswesen ausbildete, betont Karl-Heinz Spieß, Art. Lehn(s)recht, Lehnswesen in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, II. Bd., Berlin 1978, Sp. 1725-1741, bes. Sp. 1728: “Der Keim für das Lehnsrecht war also erst dann gelegt, als sich für die anfangs willkürliche Kombination von Vasallität und Benefizium besondere Rechtsätze ausbildeten, wie dies seit Karl d. Großen der Fall war.”

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Was sich für das Lehnrecht als einer Institution weltlichen Rechts erweist, ließe sich ebenso etwa am Erbrecht, das Dombois neben Staatsbürgerschaft, öffentlichem Amt, Eigentum als Form des “institutionellen Gnadenrechts”78 nennt, zeigen. So ist etwa die freie, willkürliche Verfügung des Erblassers rechtsgeschichtlich spät aufgetreten, sie paßt nur in eine entwickelte Verkehrswirtschaft. In bäuerlichen Verhältnissen, wo alles darauf ankommt, daß das Land, Haus und Nahrung, erhalten bleiben, wurde in allen frühen Verhältnissen der Erbe durch Geburt bestimmt. Er hatte einen Anspruch auf das Erbe, das ihm nur unter extremen Voraussetzungen, etwa der Tötung des Erblassers, streitig gemacht werden konnte. Das Moment, auf das es Dombois in der Unterscheidung des Gnadenrechts vom Gerechtigkeitsrecht zuallermeist ankommt, “die Freiheit des unverdienten Gnadenerweises” gegenüber der “geschuldeten Gerechtigkeit”,79 läßt sich an weltlichen Institutionen des Rechtes nicht aufweisen, wollen wir nicht eine Rechtsinterpretation aus der Perspektive des Alleinherrschers im Absolutismus zugrundelegen.

Nicht die Willkür dessen, der Gnade erweist, ist das entscheidende Moment am Gnadenrecht, vielmehr ist es entscheidend, daß es statusbegründenden Akte repräsentiert, die ihr Urbild in der freien und doch gerechten Gabe Gottes haben. Jede Lehnsvergabe, jede Erbschaft repräsentiert, daß das Recht nicht im Raub, sondern in der Gabe begründet ist. Im Gnadenrecht kann aufgewiesen werden, daß der “Optimismus, der die Grundlagen seiner Existenz voraussetzt”,80 so fruchtbar er sein mag, zu kurz sieht, weil er die Frage nach der Herkunft des Rechts nicht lösen kann. Ohne seine Herkunft kann aber auch die Struktur des Rechtes selbst nicht vollständig aufgewiesen werden, wie die Betrachtung des gnadenrechtlichen Rechtskreises lehrt. Wo Dombois hingegen die Differenz von Gnade und Gerechtigkeit im Begriffspaar ungeschuldet/geschuldet sucht, da verfehlt er die innere Logik der gnadenrechtlichen statusbegründenden Akte. Wo er darüber hinaus das Moment des “ungeschuldeten” auch auf die


78 RdG I, 185.
79 RdG I, 184.
80 RdG I, 185.

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Gerechtigkeitsurteile überträgt und zu Aussagen kommt, die das gerechte Urteil des Richters wie eine ungeschuldete Gnadengabe gegenüber dem Kläger erscheinen lassen,81 da wird der Grundsinn der Gerechtigkeit zerstört. Nur eine Interpretation, die strikt zwischen einer theologischen Rechtsbegründung allen Rechtes aus der Gnade Gottes und der Repräsentation statusbegründender Akte in menschlichen Rechtsakten unterscheidet, kann das Verdienst des Aufweises gnadenrechtlicher Rechtsakte vor seinem Mißbrauch bewahren.

 

V. Gerechtigkeit und Gnade

Entgegen Dombois’ Ansicht ist es notwendig, auch Zuwendungsakte “dem Gerechtigkeitsurteil zu unterwerfen”.82 Wenn es möglich ist, Gott als gnädig und gerecht zugleich anzusehen,83 so muß auch menschliches Recht von diesem Zusammenhang her interpretiert werden. Weil sich diese Notwendigkeit in der Erörterung faktischer Rechtsformen immer wieder aufdrängt, kommt Dombois nicht zu einer eindeutigen Verhältnisbestimmung von Gerechtigkeit und Gnade. Wie er vom Nebeneinander beider Bereiche sprechen kann,84 von ihrer wesentlichen Verschiedenheit,85 so auch von ihrem Auseinanderfallen,86 ihrer Trennung,87 ihrem Gegensatz;88 in geschichtlicher Perspektive kann eine Verdrängung des statusrechtlichen Denkens durch das normative Rechtsdenken konstatiert werden.89 Alle diese Verhältnisbestimmungen könnten aufgenommen werden,


81 Vgl. RdG I, 166.
82 RdG I, 179.
83 Vgl. den paradoxen Begriff der “justitia salutifera” (RdG I, 179, 180, 188), in dem die Gerechtigkeit Gottes sich darin erweist, daß sich in ihr “zugleich der Heilswille Gottes … durchsetzt” (188).
84 Vgl. RdG I, 180.
85 Vgl. RdG I, 179.
86 Vgl. RdG I, 183, 188.
87 Vgl. RdG I, 180.
88 Vgl. RdG I, 180, 188, 177.
89 Vgl. RdG I, 180, 182, 183, 185.

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wenn das Gnadenrecht die Frage nach dem Grund des Rechts beantwortet, während das Gerechtigkeitsrecht den Maßstab begründeten Rechts ausmacht.90 Deswegen greift “bürgerliches Rechtsdenken” zu kurz, das die “Ablösung des Gnadenrechts durch das Gerechtigkeitsrecht”91 bedeutet. Die durchzuhaltende Dualität von gnade und Gerechtigkeit beruht darin, daß Recht auf der verpflichtenden Gabe begründet ist, nicht auf dem (freien) Wort.92 Recht ist zuerst communio, die im consensus nur bestätigt und bekräftigt wird. Gnade verleiht den Status der Freiheit, begründet die communio der Freien. Freiheit wirkt sich aus im rechtschaffenden Wort, dem Vertrag, dem Anspruch, dem Gesetz, dem Richtspruch.93

Es ist Aufgabe allen Rechtsdenkens, von der Positivität, der Gegebenheit des Rechts her, auf die “existenzbegründenden Fakten”94 zurückzugehen. Das gelingt nur in der Einsicht, daß mit den “Postulaten der Personalität und Freiheit, und den Axiomen der


90 Mit vergleichbarer Intention schon Siegfried Grundmann, art. Kirchenrecht, in: Evangelisches Staatslexikon 19752, Sp. 1212: “Gnade und Gerechtigkeit … gehören zusammen.”
91 RdG I, 194.
92 Das reale Moment der Gabe gegenüber dem spirituellen Moment des Wortes in den Vordergrund zu rücken, ist eines der Verdienste des Gnadenrechts: “Das  Recht ist ohne Wort überhaupt nicht denkbar. Aber eine Jurisprudenz des Wortes, d.h. eines Wortes, das wesentlich als Inanspruchnahme und Verpflichtung verstanden wird und das nicht zugleich statusbegründende Gabe ist, ist ein später Versuch, der die Fülle des Rechtslebens nicht umschließt, sondern wesentliche Elemente verkennt und beiseitedrängt. … Die Jurisprudenz des Wortes bedeutet sachlich eine Spiritualisierung, welche die Innerlichkeit und substratlose Wörtlichkeit gegen die angebliche Äußerlichkeit und Gegenständlichkeit des nicht mehr verstandenen statusbegründenden Realgeschäftes setzt; sie bedeutet eine Rationalisierung, weil die positive Antinomie zwischen Gabe und Verpflichtung nicht mehr durchgehalten, sondern aufgelöst wird.” RdG I, 181.
93 Eine analoge Dualität, wie der zwischen begründender Gabe und verpflichtendem Wort, obwaltet zwischen Sakrament und Bekenntnis. Wird im Sakrament die communio begründet, so bestätigt das Bekenntnis der Kommunikanten die communio und scheidet aus, was zu ihr nicht gehört. Erst wo das Bekenntnis selbst in der Tradition weitergegeben, als Gabe der Väter im Glauben empfangen werdne kann, kann es selbst quasi sakramental als versammelnden Gabe aufgefaßt werden. In seinem Ursprung begriffen bleibt es nachträglich.
94 RdG I, 185.

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Gerechtigkeit”95 allein nicht weiterzukommen ist. Zwei Grundgestalten können die rechtsbegründenden Fakta annehmen: Gabe oder Inbesitznahme.

Die Inbesitznahme bestimmt im profanen Bereich regelmäßig die Antwort auf die hinter den Vertrag, als vorgestellten Urgrund des Rechts, zurückgehende Frage nach dem Grund des Rechtes. Die Verteilung der Güter, auf denen das Recht gründet, hat ihren Ursprung in siegreicher Gewalt. Schon die bloße Gewalt der Inbesitznahme von Gütern, die niemand innehat, erst recht die siegreiche Gewalt, die gegen Widerstand das ihre sich aneignet, ist das Faktum, das der Aufrichtung des (positiven) Rechts vorausliegt. Das Recht ist zunächst nichts als die Sanktionierung eines Sieges, die darin besteht, “daß die neuen Verhältnisse als neues ‘Recht’ anerkannt werden”,96 und zwar so, daß dort, wo der Gegner nicht vernichtet wird, “ihm, auch, wo beim Sieger die überlegenste Gewalt steht, Rechte zuerkannt”97 werden — so beantwortet Benjamin die Frage nach dem Ursprung positiven Rechts. Bezogen auf die Rechtstitel bürgerlichen Kapitaleigentums hat Marx die Frage nach ihrem Ursprung gestellt und sie in der großen Abhandlung über “Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation”98 damit beantwortet, daß, wie “in der wirklichen Geschichte … bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz, Gewalt, die große Rolle”99 spielt, so auch die ursprüngliche Akkumulation als eine Geschichte der Expropriation der ursprünglichen Besitzer verstanden werden muß, welche Geschichte “in den


95 RdG I, 185.
96 Walter Benjamin, a.a.O. (Anm. 57), 186. Bereits Kant hat die Gewalt als eines der Ursprungsmomente des Rechts erkannt, wenngleich für ihn die Annahme, daß die Vernunftgewalt die höchste Gewalt sei, die bedrohlichsten Konsequenzen dieser Einsicht abblendete. Vgl. dazu der Vf., Zum Begriff der Gewalt bei Kant und Benjamin, in: Günter Figal/Horst Folkers, Zur Theorie der Gewalt und Gewaltlosigkeit bei Walter Benjamin, Heidelberg 1979, 25-57.
97 A.a.O., 198.
98 Die Abhandlung ist im 24. Kapitel des 1. Bandes des Kapitalbuches enthalten. Karl Marx, Das Kapital (zuerst 1867), in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 23, Berlin 1971, 741-791.
99 A.a.O., 742.

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Annalen der Menschheit eingeschrieben (ist) mit Zügen von Blut und Feuer”.100

Da in weltlicher Betrachtungsweise das begründete Faktum des Rechts in letzter Instanz immer in der Aneignung von Gütern gesehen werden muß, welche andere ausschließt oder sich gegen sie gewaltsam durchsetzt,101 fragt sich, in welcher Hinsicht die “Gegebenheit” des Rechts als Gabe und die Gabe als Gnade interpretiert werden kann. Dies geschieht, indem nach dem Ursprung der Aneignung als dem der Rechtsaufrichtung zugrundeliegenden Faktum gefragt wird: nach der Selbstgegebenheit des Menschen als eines Wesens, das aneignende Gewalt ausüben kann und darf. Die ursprüngliche zeugende Gabe ist, daß der Mensch sich selbst gegeben ist, von woher “der Mensch nicht von sich selbst herkommt”.102 Diese Gabe verweist auf einen Schöpfer, von dem das Prädikat, daß er ungeschuldet diese Gabe vergibt, zutrifft. Erst wo der theologische Grund allen Rechtes durchsichtig gemacht, die Gerechtigkeit Gottes als Ursprung und Schöpferin des Rechts durchdacht wird, kommt das Verhältnis von Gnadenrecht und Gerechtigkeit in die rechten Proportionen. Sobald


100 A.a.O., 743.
101 Es sei an die Enteignung von Kirchengut durch die Merowinger erinnert, welche die Grundlage für die umfangreichen Lehensvergabungen war.
102 Vgl. dazu Goethes kleines Gedicht “Katechisation”, in dem der Schüler der theologischen Absicht des Lehrers widersteht:

Lehrer

Bedenk, o Kind! woher sind diese Gaben?
Du kannst nichts von dir selber haben.

Kind

Ei! Alles hab ich vom Papa.

Lehrer

Und der, woher hats der?

Kind

Vom Großpapa.

Lehrer

Nicht doch! Woher hats denn der Großpapa bekommen?

Kind

Der hats genommen.

Im Abschnitt “Epigrammatisch” der Gedichte der Ausgabe letzter Hand, Artemis-Ausgabe, Zürich 1975, 448.

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der Lehnsherr, der Erblasser, der staatliche Souverän in der Rolle des Repräsentanten göttlicher Vollmacht erblickt und ihnen die Macht zu Akten “grundloser Zuwendung”103 zugeschrieben wird, ergeht die kritische Frage nach dem Ursprung ihrer Macht — der in der Gewalt gefunden wird — und die Frage nach der gerechten Verteilung ihrer Macht — die “grundlose” Zuwendung ausschließt. Nur wo die Differenz einer theologischen zur säkularen Rechtsbetrachtung durchgehalten wird, kann die Fruchtbarkeit des Rechtstyps der Gnade bewahrt werden. Nur dann ist der Vorwurf abzuhalten, quasi theologische Argumente zur Legitimierung von Gegebenheiten heranzuziehen, die besser ihrer Ungerechtigkeit und moralischen Unhaltbarkeit überführt würden.

Es ist die umgekehrte Rechtserfahrung Israels, daß auch das gewiß nicht ohne siegreiche Gewalt in Besitz genommene gelobte Land als eine Gabe Gottes verstanden wird, die den Weg weist, die existenzbegründenden Fakten im Handeln Gottes zu erkennen. Diesem handeln aber muß Gerechtigkeit auch dort nicht abgesprochen werden, wo die Gleichheitsmaßstäbe des Menschen sie leicht verkennen. Das bezeugt das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden104 in der Fassung des Evangelisten Matthäus ausdrücklich.105 Denn Gott beweist seine Gerechtigkeit darin, daß er jedem der Knechte, die Unterschiedenes erhalten (fünf, zwei und ein Talente), Gleiches, nämlich “nach ihrem Vermögen”, gibt. Jeder erhält genügend, um im allein wesentlichen Verhältnis zu Gott sein Auskommen zu haben. Daß der weltlichen Gleichheit der Gaben keine Ungleichheit vor Gott entspricht, bezeugt der zweite Knecht. Er ist nicht etwa gegenüber dem ersten zu kurz gekommen, vor Gott erhält er vielmehr ebendasselbe wie der erste: “Gehe ein zu deines Herrn Freude.” Vor Gott sind unterschiedliche Gaben an verschiedene Menschen dasselbe — und auch die Menschen können die Gaben so gebrauchen, als seien sie dieselben, und sie sind es. Freilich, und das bezeugt der dritte


103 RdG I, 205.
104 RdG I, 178; vgl. Mt 25, 14 ff.
105 In seiner lukanischen Fassung erwähnt Dombois dies Gleichnis in RdG III, 21.

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Knecht, aus dessen Perspektive die ganze Erzählung konzipiert ist, es bleibt immer möglich, an der Differenz der Gaben Anstoß zu nehmen, der zu kurz Gekommene zu sein, der wenig von einem harten Herrn erhalten hat. Der aber wird zur Einsicht geführt, daß die Gegebenheit, in der wir nicht die uns zukommende Gabe Gottes erkennen können, Nichts, nämlich Finsternis ist, worin wir nunmehr mit Heulen und Zähneknirschen stecken. Die Frage Pauli ist unabweisbar: “Was hast du, das du nicht empfangen hast, was rühmest du dich denn, als hättest du es nicht empfangen?”106 In diesem — aber auch nur in diesem Sinne — können dann auch die Gegebenheiten des gegenwärtigen Rechts als Gaben Gottes erkannt werden, wodurch sie zugleich der strengsten Kritik unterzogen sind: ob sie dem Heilswillen Gottes, und sei es von ferne, entsprechen. Nur so besteht die Hoffnung zu unterscheiden, wo existierende Ungleichheit als in der Gerechtigkeit Gottes begründet oder als Unrecht erkannt werden muß. Die Überlegenheit der Gerechtigkeit Gottes besteht darin, daß se nicht nur Gleiches gleich, sondern auch Ungleiches ungleich behandeln kann, mehr als irgendein irdisches Recht, und sei es noch so billig. Sie ist Urbild wahrhafter Autorität. Solche Autorität beweist sich, wo der Einzelfall gegen die Regel, auch des Rechts, richtig, nämlich gerecht entschieden wird. Und in diesem Sinn läßt sich allerdings sagen, daß durch Gnade das Recht, indem sie es beschränkt, erst erfüllt wird. “Gottes Herrschaft ist … als das Regiment seiner Barmherzigkeit und Gottes Recht dementsprechend als das Recht seiner Gnade zu verstehen.”107

Wenn so in Gott Gnade und Gerechtigkeit verbunden gedacht werden müssen, so wird auch fraglich, ob die ethische Forderung nach Gerechtigkeit des Recht einfach untergeordnet werden kann, wie Dombois es versucht: “Es macht aber die unendliche Überlegenheit des Rechtes über jede Ethik aus, daß das Recht in seiner Doppelstruktur von Gabe und Forderung die Postulate der


106 1. Kor. 4, 7.
107 Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen, 1977, 26 f.

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Sittlichkeit in sich und auf seiner Ebene aufzunehmen vermag, ohne mehr als in Grenzfällen (die hier nicht interessieren) mit ihr in Konflikt kommen zu können. Zugleich aber und darüber hinaus, jenseits jeder denkbaren Forderung umfaßt das Recht freie, schöpferische Vorgänge, die wiederum in Freiheit setzen — aber eben unter keinem Titel gefordert werden können. Diese Freiheit der Rechtsverleihung überbietet das Höchste, was irgendeine Ethik zu denken und eben nur durch die Forderung zu bieten und zu leisten vermag.”108 Diese Analyse ist nur so lange nicht zu bestreiten, als einem vom Gedenken der Gnade her neu erleuchteten Rechtsbegriff der Begriff einer säkularen Moral kantischer Provenienz entgegengestellt wird. Versucht man hingegen, gegen Kant, auch der Moral zu geben, was sie aus Gottes Gnade gewinnen kann, so zeigt sich das Verhältnis von Recht und Moral als eines der Gleichrangigkeit. Denn wenn der Status der Freiheit, aus dem Ethik und Recht gleichermaßen entspringen, in der geschenkten Ebenbildlichkeit zu Gott begründet ist, so ist die Einsicht in die Freiheit als Gnade, die eben darum auf Gottes Gerechtigkeit hofft, die Ethik, während die Annahme und Verwaltung der Freiheit als Gnade, die eben deswegen für das Gegebene dankt, das Recht ist. Als unterschiedene aber sind Ethik und Recht auch verbunden, nur eine dankbare Hoffnung bewahrt die ethische Einsicht vor dem Mißbrauch des Ethos, dem Versuch, das Gerechte herbeizuzwingen, nur eine Dankbarkeit, die das Hoffen nicht verlernt, bewahrt vor dem Mißbrauch des Rechts, es als Schutz der Vorrechte der beati possidentes verkümmern zu lassen.

Die vorangehenden Überlegungen waren den methodischen Schwierigkeiten des Rechtsbegriffs eines Rechts der Gnade gewidmet, die dann entstehen, wenn die Dualität von Gerechtigkeit und Gnade von ihrer Dialektik in der Realität des Rechts wie von ihrer Einheit in Gott getrennt wird. In der Grundlegung des Rechtsbegriffs, wie Band I sie vorlegt, sind theologische Einsicht und methodische Vergewisserung nicht immer gleichauf. Die theologische Unterscheidung einer Erkenntnis gleichsam von unten und einer Gewißheit gleichsam von


108 RdG I, 183.

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oben darf methodisch nicht zur Entgegensetzung von Gerechtigkeit und Gnade führen. Doch diese Entgegensetzung betrifft nur die Exposition des Rechtsbegriffs in Band I, seine Durchführung in den Bänden II und III ist davon frei. Denn das Schwergewicht, das hier durch die Kirche, ihre Verfassung und ihre Verantwortung gegeben ist, macht es von vorneherein notwendig, das Gnadenrecht Gottes als das alleinige Grundrecht der Kirche zu erkennen, die in Christus geschenkte Gnade aber als Erfüllung seiner Gerechtigkeit. Im Recht der Kirche ist die große Einsicht des ersten Bandes unverloren, daß Recht aus der Gnade Gottes entspringt, daraus, “daß Gott selbst freigibt”,109 Gottes Gnade ist Person geworden in Christus, dem Gesalbten Gottes, der, selbst der Gnade der dreifachen Salbung des Propheten, des Priesters und des Königs gewürdigt, sie als sein dreifaches Amt, der Kirche zugut, ausübt.

Im dritten Band des Rechts der Gnade, der die Kirche in der umfassenden Entsprechung von Verfassung und Verantwortung bedenkt, läßt Dombois die Lehre vom triplex munus Christi immer stärker in den Vordergrund treten,110 gleich einer letzten Rechenschaft über die Erhaltung der Kirche und ihres Rechts in der Gnade ihres Herrn Jesus Christus. Im dreifachen Amt Christi ist die Dualität von Gerechtigkeit und Gnade überwunden, was zuvor als “Drittverhältnis”111 erkannt wurde, ist hier in die Struktur eines Kirchenrechts aufgenommen, das die Fülle der Gnade Christi in der Proportion seiner dreifachen Fürsorge für die Kirche ausspricht. Dem königlichen, priesterlichen und prophetischen Amt Christi zufolge gliedert sich das Recht, die “positive Existenzbestimmung”112 der Kirche als des Leibes Christi. Gnädig ist dieses Recht Christi, indem es ein jedes Glied des Leibes nach seiner königlichen Würde (1. Petr 2, 9) hochschätzt, in der Liebe, der Gemeinschaft des Leibes mit dem Haupte, wachsen läßt (Eph 4, 15) und in alle Wahrheit leitet


109 RdG I, 81.
110 RdG III, bes. Kap. XVIII.2, Kap. XXI und Kap. XXVII.
111 RdG I, 94.
112 RdG I, 81.

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(Joh 16, 13). So kommt das Recht der Gnade im Kirchenrecht an sein Ziel, sein Grund die Gnade, seine Proportion die Gerechtigkeit.