Dreier, R.

Bemerkungen zum “Recht der Gnade”

1990

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Ralf Dreier

 

Bemerkungen zum “Recht der Gnade”

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I

Nachdem Hans Dombois’ kirchenrechtliches Hauptwerk, das “Recht der Gnade”, nunmehr abgeschlossen vorliegt,1 ist es an der Zeit, in eine systematische und detaillierte Auseinandersetzung mit ihm einzutreten. Daß es daran bislang weithin fehlt, hat Dombois mehrfach und mit Recht beklagt. Die Gründe dafür sind oft genannt worden und mögen hier auf sich beruhen.2 Angemerkt sei nur, daß das Werk mit einem langen Atem geschrieben worden ist und für seine Rezeption auf den langen Atem der Kirchengeschichte vertrauen darf.

Ich beginne mit einem Blick auf den Aufbau des Gesamtwerks. Diesem liegt, wie die Vorworte und Einleitungen der drei Bände belegen, kein von Anfang an konzipiertes System zugrunde. Vielmehr dokumentiert es einen Reflexionsprozeß, der sich über Jahrzehnte erstreckt hat. Einige Grundannahmen kennzeichnen ihn seit seinem Beginn, andere sind, um einen Terminus des Autors aufzunehmen, im Verlauf der Ausarbeitung “zwischeneingekommen” und haben die Gesamtkonzeption nicht unwesentlich modifiziert und angereichert. Vor allem Band II markiert eine solche Anreicherung.


* Mit Anmerkungen versehener Text eines Vortrages im Rahmen eines von der Evangelischen Akademie Hofgeismar zu Ehren von Hans Dombois veranstalteten Symposions am 21. 1. 1984.

1 Dombois, Das Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht, 3 Bde., Witten 1961 (19692)/1974/1983.
2 Vgl. dazu Dreier, Entwicklungen und Probleme der Rechtstheologie, ZevKR 25 (1980), 20 (36 ff.) mit weiteren Nachweisen.

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Er hat, wie zu zeigen sein wird, dem Gesamtwerk eine Achse gegeben, in der sich nunmehr eine Gliederungslogik bekundet, die in dieser Form zu Beginn noch nicht sichtbar war. Aber auch Band III setzt, vor allem mit der Zentralstellung der munera-Lehre, neue Akzente, deren tragende Bedeutung für das System sich in Band I noch nicht angekündigt hatte.

Die Bände I und III sind in je drei Teile (mit jeweils mehreren Kapiteln) untergliedert, während Band II nicht in Teile, sondern nur in Kapiteln aufgeteilt ist. Es ist aber leicht zu sehen, daß Band II den Teil 4 des Gesamtwerks darstellt. Auch sachlich bildet er das Kernstück der Konzeption, dem sich die übrigen sechs Teile gleichsam spiegelbildlich und mehr oder weniger symmetrisch anlagern. Die somit sieben Teile des Gesamtsystems tragen folgende Überschriften: Teil 1: “Voraussetzungen” (215 S.); Teil 2: “Kirchenrecht als liturgisches und bekennendes Recht” (575 S.); Teil 3: “Grundbegriffe, Gebrauch und Grenzen des Kirchenrechts” (243 S.); Teil 4: “Grundlagen und Grundfragen der Kirchenverfassung in ihrer Geschichte” (222 S.); Teil 5: “Zur Rechtstheologie” (52 S.); Teil 6: “Kirchenrechtliche Analyse des Augsburger Bekenntnisses” (179 S.); Teil 7: “Verfassung und Verantwortung — Kirche als Gravitationssystem und Nachfolge” (161 S.). Das ergibt, mit Exkursen und Registern, einen Gesamtumfang von 1788 Seiten, zu deren Interpretation noch etliche Monographien und Aufsatzsammlungen sowie eine Fülle verstreut erschienener Beiträge des Autors heranzuziehen sind.3

Daß die drei Teile des dritten Bands denen des ersten Bands an Umfang deutlich nachstehen, dürfte hauptsächlich auf äußere Gründe zurückzuführen sein, nicht zuletzt darauf, daß der wiederholt erhobene Einwand, Band I habe sich durch monographische Überlängen selbst unnötige Rezeptionsschwierigkeiten bereitet, den Autor in


3 Eine Bibliographie der Schriften Dombois’ bis 1968 findet sich bei Steinmüller, Evangelische Rechtstheologie, Köln/Graz 1968, 834 ff.; zu den neueren Veröffentlichungen vgl. die Bibliographien in den Anhängen zu RdG II und III. (Vgl. jetzt die vollständige Bibliographie von Silke Riese, in: ZevKR 32 (1987), 556-570, Anm. des Hrsg.)

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den folgenden Bänden zu größeren darstellerischer Straffung veranlaßt hat.4 Im Blick auf die Teil 5 und 7 des Systems, die nach meiner Einschätzung eher zu knapp als zu umfangreich ausgefallen sind, wird man dies nachträglich bedauern. Was die sachliche Gewichtung betrifft, so erweist sich, wie bemerkt, Teil 4 nicht nur formell, sondern auch inhaltlich als Mitte des Systems. Dombois hat in ihm in äußerst dichter Argumentation eine Reihe von Thesen entwickelt, die im Gesamtsystem nunmehr eine Schlüsselrolle spielen und im Verhältnis zu denen sich die Teil 1 bis 3 als Grundlegung und Vorbereitung und die Teile 5 bis 7, mit der wichtigen Hinzufügung der munera-Lehre, als Erläuterung und Ergänzung darstellen. Diese Thesen formulieren, in einer Zusammenstellung des Autors, folgende Gedankenschritte: “die entschiedene Wendung gegen alle Theorien, die in der Geschichtlichkeit der Kirche als solcher eine Verleugnung ihres Auftrages sehen; gegen die Ableitung der Konfessionen aus dem Kanon; eine Periodisierung der Kirchenrechtsgeschichte; die Entwicklung der vierfachen Gestalt der Kirche aus der Existenz des Christen wie der Kirche selbst; eine Theorie der Defizienz und Suffizienz der ekklesialen Lebensformen aus den modi der Zeit; eine Bestandsaufnahme geltender Sätze allgemeinen Kirchenrechts”.5

Es würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen, diese Thesen einschließlich ihrer Grundlagen und Ergänzungen in den übrigen Teilen des Systems im einzelnen zu referieren und zu diskutieren. Ich werde im folgenden so verfahren, daß ich in einem zweiten Abschnitt Überlegungen zum Status der Gesamttheorie darlege, in einem dritten Abschnitt den Rechtsbegriff Dombois’ erläutere und in einem vierten Abschnitt einige der inhaltlichen Hauptthesen des Werks vorstelle. Ein kurzer fünfter Abschnitt enthält Schlußbemerkungen.


4 Vgl. RdG II, 9; III, 9.
5 RdG III, 9.

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II

Die Theorie, die Dombois in seinem “Recht der Gnade” vorgelegt hat, kann ihrem Status nach dahin charakterisiert werden, daß sie eine juristische Theorie kirchlichen Handelns ist. Diese etwas spröde Kennzeichnung verlangt eine Erläuterung. Sie enthält zwei Bestimmungen: eine gegenständliche und eine methodologische. Für beide ist der Forschungsaspekt, der der Theorie zugrunde liegt, konstitutiv.

1. Die Theorie ist ihrem Gegenstand nach eine Theorie kirchlichen Handelns. Diese grundlegende Bestimmung findet sich bereits im Vorwort zu Band I, und sie gilt für das gesamte Werk.6 Näherhin läßt sie sich in drei Schritten entfalten.

a) Handlungen, nicht Normen sind der primäre Gegenstand der Theorie. Nicht zuletzt dadurch unterscheidet sich die Theorie Dombois’ von der traditionellen Kirchenrechtslehre, die ihren Gegenstand in erster Linie in einem System rechtlicher Normen erblickt. Für Dombois liegt darin eine inadäquate Gegenstandsverengung, die auf einem inadäquat verengten Rechtsverständnis beruht. Dombois hat sich daher, um seine Konzeption durchführen zu können, veranlaßt gesehen, einen eigenen Rechtsbegriff zu entwickeln, der seinerseits handlungstheoretisch konzipiert ist.

Was den grundbegrifflichen Bezugsrahmen betrifft, innerhalb dessen Dombois seine Theorie entfaltet, so hat er ihn weitgehend eigenständig, das heißt unabhängig von anderweitigen Handlungstheorien entwickelt. Rechtstheoretisch beruht er auf den Begriffen des Anspruchs und der Anerkennung sowie der Zuwendung und der Zuwendungsannahme, kirchenrechtstheoretisch auf den Begriffen der traditio und der receptio sowie der jurisdictio und der ordinatio. Alle anderen Grundbegriffe des Systems wollen von diesem Bezugsrahmen her verstanden sein. Das gilt auch für die Begriffe der Kirche und des Kirchenrechts. Denn in ausdrücklicher Umkehrung des


6 Vgl. RdG I, 13 f., 815 ff.; II, 15; III, 22, 313.

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“scholastischen Grundsatzes” begründet für Dombois nicht das “esse” das “operari”, sondern das “operari” das “esse” der Kirche.7 Wenn Dombois gelegentlich die Selbstbezeichnung seiner Theorie als “Handlungstheorie der Kirche” auf Band I, Kapitel 13 beschränkt hat,8 so liegt dem eine engere Wortverwendung zugrunde, die den handlungstheoretischen Charakter seiner Gesamttheorie unberührt läßt.

b) Gegenstand der Theorie sind kirchliche Handlungen, das heißt Handlungen von Menschen, die kraft sozialer und/oder rechtlicher Zurechnung als Handlungen der Kirche aufzufassen sind, und zwar der Kirche überhaupt, nicht einer bestimmten Partikularkirche. Mit anderen Worten: die Theorie untersucht das Handeln der einen und allgemeinen Kirche in ihrer zeitlich und räumlich vielfältigen Gestalt. Das bedeutet: Sie ist eine ökumenische Theorie kirchlichen Handelns. Auf diese zentrale Bestimmung wird noch mehrfach zurückzukommen sein.

c) Kirchliches Handeln kann unter verschiedenen Aspekten zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden und demgemäß Gegenstand verschiedener Disziplinen sein. Dombois’ Forschungsaspekt ist ein juristischer, und dieser Aspekt hat nicht nur methodologische, sondern auch gegenstandsbestimmende Bedeutung. Gegenständlich bedeutet er, daß die Theorie kirchliches Handeln als rechtliches das heißt als Recht erzeugendes und durch Recht reguliertes untersucht. Diese Feststellung muß in zwei Punkten erläutert werden.

(1) Die Theorie untersucht kirchliches Handeln als rechtliches, jedoch unter Hinzunahme der theologischen Voraussetzung, daß kirchliches Handeln zugleich als geistliches, das heißt als geistgewirktes zu interpretieren ist. Diese Voraussetzung, die Ausdruck eines Glaubensapriori ist, wirft die Frage auf, ob durch sie nicht die gesamte Theorie den Status einer theologischen erhält. Diese Frage richtet sich aber nicht nur an die Theorie Dombois’, sondern sie


7 RdG II, 15.
8 RdG III, 313; vgl. aber auch II, 15 und III, 22.

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bezieht sich auf den disziplinären Status der Kirchenrechtslehre überhaupt. Denn die Annahme, daß Gott beziehungsweise der Geist Gottes in der Kirche per medium hominis handelt,9 ist eine gemeinchristliche und liegt — in unterschiedlichen Interpretationen — aller Kirchenrechtslehre, wie sie traditionell betrieben wird, zugrunde. Ob dieser daher als theologische Disziplin mit juristischer Methode oder als juristische Disziplin mit einer theologischen Dimension zu qualifizieren sei, darüber kann man streiten. Ich bin der Auffassung, daß die zweite Qualifikation die angemessenere ist und habe dies, jedenfalls für die Kirchenrechtsdogmatik, an anderer Stelle zu begründen versucht.10 Auf dieser Grundlage will das hier Gesagte verstanden sein.

(2) Als Theorie kirchlichen Handelns, die dieses als rechtliches untersucht, ist die Theorie Dombois’ zugleich und wesentlich eine Theorie kirchlichen Rechts. Darin liegt eine Ausweitung ihres Gegenstandsbereichs, hinsichtlich derer sich fragt, ob die Theorie als Kirchenrechtsdogmatik oder als Kirchenrechtstheorie zu qualifizieren sei. Dabei ist mit “Kirchenrechtsdogmatik” die Theorie des positiven Rechts einer bestimmten, im Zweifel partikularkirchlichen Rechtsordnung und mit “Kirchenrechtstheorie” (in einem fachspezifischen Sinne) die Theorie des Kirchenrechts überhaupt, das heißt eine allgemeine Theorie allen möglichen und wirklichen Kirchenrechts gemeint.11

Dombois’ Theorie scheint sich gegen diese Unterscheidung zu sperren. Sie ist eine allgemeine, das heißt, eine Theorie des Kirchenrechts


9 Vgl. RdG I, 815.
10 Dreier, Methodenprobleme der Kirchenrechtslehre, ZevKR 23 (1978), 343 ff. Wenn dort (345, 366) die Kirchenrechtstheorie als “mehrdimensionale, tendenziell integrale Disziplin mit Vorrang der theologischen Dimension” bezeichnet wird, so trägt dies dem interdisziplinären Status kirchenrechtstheoretischer Bemühungen, in ihrer Gesamtheit betrachtet, Rechnung. Die Möglichkeit, einzelne Kirchenrechtstheorien oder auch Gruppen derselben aspektuell und methodologisch (sowie auch wissenschaftsorganisatorisch) mehr der Jurisprudenz oder mehr der Theologie zuzuordnen, bleibt davon unberührt.
11 Vgl. Dreier, a.a.O. (Anm. 10).

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überhaupt, tendiert aber dazu, Dogmatik eines allgemeinen, nämlich des ökumenischen Kirchenrechts zu sein. Ausdruck und Prüfstein dieser Tendenz ist Dombois’ Versuch, ein System rechtlich geltender Sätze allgemeinen Kirchenrechts zu formulieren,12 ein Versuch, der bislang zu wenig Beachtung gefunden hat und von dem — nebenbei bemerkt — zu bedauern ist, daß der Autor ihn in einen Exkurs zu Band II verbannt und ihn nicht, wie es angemessen gewesen wäre, ein eigenes Kapitel in Teil 7 des Gesamtsystems gewidmet hat.

Ich möchte die angesprochene Statusfrage noch durch einige Bemerkungen vertiefen, die zugleich zum Methodenproblem überleiten. Das “Recht der Gnade” versteht sich laut Untertitel als “Ökumenisches Kirchenrecht”. Diese Kennzeichnung enthält ein deskriptives und ein normatives Element. Deskriptiv meint sie, daß Gegenstand der Theoriebildung das Recht der allgemeinen Kirche ist, und zwar nicht das ius divinum einer wie immer verstandenen ecclesia spiritualis, sondern das empirische Recht der universalen Kirche in ihrer realgeschichtliche Einheit. Normativ meint sie, daß Kirchenrechtslehre heute legitim nur noch als ökumenische betrieben werden könne. Diese Aussage wird von Dombois auf doppelte Weise, gegenständlich und methodologisch, begründet. Gegenständlich erfordert das Kirchenrecht eine ökumenische Bearbeitung, weil mit der derzeitigen Herausbildung einer realen Einheit der Weltgesellschaft für die Kirche “eine Art Gezeitenwechsel eingetreten (ist), in dem aufeinander zuläuft, was solange auseinander gelaufen ist”,13 und in dem das Kirchenrecht nur noch im “Gesamtzusammenhang dieses Rechtskreises verstanden werden” kann.14 Methodologisch folgt daraus, daß eine nur konfessionelle Bearbeitung “den uns zugänglichen Stand der Erkenntnis so wesentlich unterbieten (muß),


12 RdG II, 216 ff.; veröffentlicht in: Dombois, Kodex und Konkordie, Stuttgart/Frankfurt/M. 1972, 108 ff.
13 RdG II, 13.
14 RdG II, 33.

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daß sie als Parteinahme und Postulat, nicht jedoch als wissenschaftliche Darstellung gelten kann”.15

Für die Statusfrage ergibt sich damit, daß die Theorie in der Tat den Anspruch erhebt, Dogmatik des allgemeinen Kirchenrechts zu sein, diesen Anspruch aber im Rahmen einer allgemeinen, nicht zuletzt historisch ausgerichteten Kirchenrechtstheorie begründet und ausarbeitet. Hinzugefügt sei, daß die zitierten Thesen keine Bestreitung der Notwendigkeit und Berechtigung partikularkirchlicher Rechtsdogmatik darstellen, wohl aber an diese die Forderung stellen, die Einbettung jeder partikularkirchlichen Rechtsordnung in das Recht der allgemeinen Kirche zu berücksichtigen und im Auge zu behalten.

2. Der juristische Forschungsaspekt bestimmt nicht nur den Gegenstand, sondern auch die Methode der Theorie. Dombois selbst hat stets betont, daß er sich einer induktiv-phänomenologischen Methode bediene.16 Ich meine, daß diese Aussage den methodologischen Befund eher verdunkelt als erhellt. Ohne Zweifel ist mit ihr nicht die Methode der phänomenologischen Wesensschau gemeint, wie sie Edmund Husserl entwickelt und zum Beispiel Adolf Reinach — mit wenig Erfolg — für die Rechtswissenschaft fruchtbar zu machen versucht hat.17 Da Dombois an abstrakten methodologischen Erörterungen verhältnismäßig uninteressiert ist, muß das mit jener Aussage Gemeinte — soweit es über die allgemeine phänomenologische Devise “Zu den Sachen selbst!” hinausgeht — aus dem Werk unmittelbar erhoben werden.

Er ergibt sich dann, daß Dombois eine mehrdimensionale Methode verwendet, deren Charakter als einer juristischen aus dem juristischen Forschungsinteresse folgt, das seinem Werk zugrunde liegt.


15 RdG II, 33.
16 Vgl. z.B. RdG III, 9.
17 Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I (1913) = Biemel (Hrsg.), Husserliana III, Haag 1950; Reinach, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts (1913), in: ders., Gesammelte Schriften, Halle 1921, 166 ff.

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Dieses Interesse ist ein juristisches, weil es kirchliches Handeln unter dem Aspekt untersucht, daß es in ihm — unmittelbar oder mittelbar — stets auch darum geht, geistliche Entscheidungen als rechtliche verbindliche zu treffen. Eine Theorie, die unter diesem Aspekt kirchliche Praxis sowohl erforschen als auch anleiten will, muß, wie die Rechtswissenschaft überhaupt, Methoden entwickeln, die die Gewinnung und Überprüfung sowohl analytischer wie empirischer und normativer Aussagen ermöglichen. Eine in diesem Sinne dreidimensionale Methodologie läßt sich im Werk Dombois’ in der Tat aufweisen.

a) Basis der Theorie ist die Methode der Analyse juristischer Begriffe. Das gilt besonders für Band I, über weite Strecken aber auch für die Bände II und III. Weitere Ausführungen dazu erübrigen sich. Bemerkt sei nur noch, daß man in dieser Methode mit guten Gründen das opus proprium der Rechtswissenschaft überhaupt erblicken kann.

b) Dombois’ Theorie ist nicht zuletzt historische Theoriebildung in systematischer Absicht. Das dazu benötigte empirische Material entnimmt er weit ausgreifenden rechtshistorischen, aber auch rechtssoziologischen und rechtsvergleichenden Forschungen. Daß er sich dabei überwiegend auf die Auswertung bereits vorliegenden Primärschrifttums stützt, ändert nichts Grundsätzliches am empirischen Status der so gewonnenen Aussagen. Es wirft interessante methodologische Fragen zum Verhältnis von Theorie und Empirie sowie von Analyse, Interpretation und Explikation auf, die hier auf sich beruhen mögen.

c) Aufgabe der Kirchenrechtslehre, wie Dombois sie versteht und betreibt, ist es, kirchliches Handeln auf seine Legitimität zu prüfen.18 Trotz der Basisfunktion der Begriffsanalyse und der umfangreichen Berücksichtigung historisch-sozialer Empirie steht daher im Mittelpunkt der Theorie die normative Dimension. Zu ihrer Bearbeitung


18 Vgl. RdG I, 13 f., 771.

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hat Dombois ein Kohärenztheorie der Legitimität entwickelt, auf die ich in Abschnitt IV eingehen werde.

 

III

Die Kirchenrechtslehre ist, wie Dombois sagt, “eine systematische Disziplin, welche alles, was in der Kirche geschieht, in der Dimension des Rechts nachzudenken und kritisch zu prüfen hat”.19 Damit stellt sich die Frage, welcher Rechtsbegriff der für die Kirchenrechtslehre angemessene ist. Dombois hat große Anstrengungen darauf verwendet, einen solchen Rechtsbegriff zu entwickeln.20 Gleichwohl gehören die diesbezüglichen Partien seines Werks, soweit sie sich auf den Begriff des Rechts überhaupt beziehen, zu den weniger befriedigenden. Sie sind mit begrifflichen Unschärfen belastet, die dem Verständnis nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereiten. Eine genauere Auseinandersetzung damit würde eine Abhandlung für sich erfordern. Ich beschränke mich daher darauf, die Grundzüge der Rechtstheorie Dombois’, wie ich sie verstehe, kurz vorzustellen und mit kritischen Anmerkungen zu versehen. Zunächst erörtere ich Dombois’ Rechtsbegriff überhaupt, dann seinen Begriff des Kirchenrechts. Schon vorab sei bemerkt, daß Dombois’ Begriff des Kirchenrechts ein Unterbegriff seines allgemeinen Rechtsbegriffs ist. Dombois vertritt somit eine monistische, nicht eine dualistische Kirchenrechtstheorie.

1. Die Hauptstoßrichtung der Theorie zielt auf den normativistisch-positivistischen Rechtsbegriff, das heißt auf einen solchen, der im wesentlichen auf die Gleichung Recht = Gesetz beruht, genauer: der Recht als Gesamtheit der sanktionsbewährten Befehle eines (staatlichen) Souveräns definiert.21 Daß dieser Begriff für eine


19 RdG I, 13.
20 RdG I, 163 ff.; vgl. auch III, 17 ff.
21 Zur Problematik des Rechtsbegriffs vgl. Dreier, Recht und Moral, in: ders., Recht — Moral — Ideologie. Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt/M 1981, 180 ff.

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Kirchenrechtstheorie, die, wie diejenige Dombois’, das kirchliche Recht in seiner gesamtgeschichtlichen Entwicklung und Einheit zum Gegenstand hat, unangemessen ist, ergibt sich schon daraus, daß er vom Modell des positiven Rechts im neuzeitlichen Staat abgezogen und daher zur Erfassung des vorneuzeitlichen Rechts nicht oder nur begrenzt tauglich ist.

Der Rechtsbegriff, den Dombois an seine Stelle setzt, ist, wenn ich richtig sehe, zumindest seinem Ansatz nach ein empirisch-soziologischer. Dombois hat ihn allerdings — von der eher vagen Formel “Recht als Gefüge von Anspruch und Anerkennung” abgesehen22 — nicht definiert. Er konzentriert sich statt dessen auf die Beschreibung elementarer Vorgänge der Rechtsbildung. Sein Rechtsbegriff ist insofern ein Rechtsbildungsbegriff, und seine Rechtstheorie ist eine Handlungstheorie des Rechts — nicht in erster Linie, weil sie Normen und Normensysteme als Handlungsorientierungen untersucht, sondern weil sie Handlungen als Rechtserzeugungsvorgänge zum Gegenstand hat.

Es sind dies vor allem die Handlungen der Anspruchserhebung und der Anerkennung. Die zentrale These der Theorie lautet, daß sich objektives Recht durch das Zusammentreffen von Anspruch und Anerkennung bildet.23 Dieses Zusammentreffen kann auf Konsens und/oder auf Gewohnheit beruhen. Die These erklärt insoweit aber nur erst den Vorgang der Normbildung überhaupt und noch nicht speziell den der Rechtsbildung. Eine konstitutive Rolle im Vorgang der Rechtsbildung spielt denn auch für Dombois der Richter, der im Streitfall über die Berechtigung eines erhobenen Anspruchs entscheidet. So spricht Dombois auch von der “Geburt des Rechts aus dem Geist des Prozesses”.24


22 RdG I, 169.
23 RdG I, 165.
24 Dombois, Historisch-kritische Theologie, Recht und Kirchenrecht, in: FS Smend, Tübingen 1962, 307; vgl. RdG I, 167.

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Dombois hat damit eine zwar eigenwillig formulierte, aber im ganzen plausible, wenn auch nicht vollständige Theorie der Rechtsbildung vorgelegt, die freilich an Überzeugungskraft und begrifflicher Schärfe gewonnen hätte, wenn er sie zu anderen soziologischen sowie auch zu analytischen Rechtstheorien und den in ihnen diskutierten Rechtsbegriffen in Beziehung gesetzt hätte. So bleibt über seinem Rechtsbegriff ein Schleier von Vagheit, der auch durch die zitierte Formel (“Recht als Gefüge von Anspruch und Anerkennung”) nicht behoben wird. Der Sache nach dürfte Dombois’ Rechtstheorie, wegen der Zentralstellung des Anerkennungsbegriffs, zur Gruppe der Anerkennungstheorien des Rechts zu rechnen sein.

Die Theorie kompliziert sich weiter durch die grundlegende Unterscheidung zweier rechtlicher Formenkreise, des normativen und des statusrechtlichen.25 Der erste wird durch die schon erwähnten Handlungen des Anspruchs und der Anerkennung, der zweite durch Handlungen der Zuwendung und der Zuwendungsannahme gebildet, wobei die Zuwendung als freie, das heißt als eine solche zu denken ist, auf die kein Anspruch besteht. Doch begründet ihre Annahme Verpflichtungen, deren Verletzung die Entziehung der Zuwendung rechtfertigt. Als Beispiele aus dem weltlichen Recht benennt Dombois die Schenkung, die Erbschaft, die Übertragung eines Amts und die Verleihung der Staatsbürgerschaft.

Es hat danach den Anschein, als seien die Akte der Zuwendung und der Zuwendungsannahme für die Rechtsbildung von gleich fundamentaler Bedeutung wie die Akte des Anspruchs und der Anerkennung. Das ist aber, wie ich meine, ein Mißverständnis. Anspruch und besonders Anerkennung sind sowohl in der Sache als auch, wie sich an vielen Stellen zeigen läßt, im Werk Dombois’ die rechts- und somit auch normbildenden Vorgänge schlechthin. Erst auf der Basis einer ausgebildeten Normenordnung kann sich sodann der statusrechtliche Formenkreis entfalten. Denn ein Status läßt sich, soziologisch wie juristisch, nicht anders als ein Bündel von Pflichten und Rechten


25 RdG I, 171 ff., 179 ff.

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definieren, die durch Normen statuiert sind.26 Für die somit systematisch vorrangige Rolle des normativen Formenkreises spricht übrigens auch, daß Dombois ursprünglich — vor dem Erscheinen von Band I — seine gesamte Theorie in den Kategorien Anspruch und Anerkennung formuliert hat.27

Mißverständlich ist ferner, daß Dombois beide Formenkreise zusätzlich vermittels der Begriffe Gerechtigkeit und Gnade beziehungsweise Gerechtigkeitsrecht und Gnadenrecht unterscheidet. Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß Akte freier Zuwendung dem Gerechtigkeitsurteil entzogen seien.28 Daß dies nicht zutrifft, hat Dombois an anderer Stelle selbst gesehen.29 Zuwendungsakte unterliegen zwar nicht der kommutativen, wohl aber der distributiven Gerechtigkeit; sie sind geradezu der klassische Anwendungsfall derselben.30 Wie weit dies auch für Gnadenakte im strengen Sinne gilt, mag hier offen bleiben. Jedenfalls aber bedarf die generelle Unterscheidung der beiden Formenkreise an Hand der Begriffe Gerechtigkeit und Gnade einer Überprüfung und Korrektur.

2. Dombois’ kirchenrechtstheoretische Grundthese, daß das Kirchenrecht wesentlich Gnadenrecht sei, bleibt von dieser Kritik unberührt. Sie hat im Gegenteil eine hohe Plausibilität und ist von Dombois mit großer Überzeugungskraft ausgearbeitet und durchgeführt worden. Kirchenrecht ist Gnadenrecht, weil es die Form ist, in der das Gnadenhandeln Gottes den Menschen in Raum und Zeit zugewendet wird. Zwar ist der normative Formenkreis in ihm voll ausgebildet. Aber er ist umschlossen vom Grundvorgang der Selbsthingabe Gottes


26 Vgl. dazu schon Dreier, Das kirchliche Amt. Eine kirchenrechtstheoretische Studie, München 1972, 82.
27 Dombois, Ordnung und Unordnung der Kirche. Kirchenrechtliche Abhandlungen und Vorträge, Kassel 1957 (im folgenden zit. als: Ordnung), 51 ff.
28 RdG I, 179 ff.
29 Dombois, Institution und Norm, in: ders. (Hrsg.), Recht und Institution. Zweite Folge, Stuttgart 1969, 96 (102 ff.).
30 Vgl. Dreier, Recht und Gerechtigkeit, in: Funkkolleg Recht, Studienbegleitbrief 2, hrsg. vom Deutschen Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen, Weinheim/Basel 1982, 11 (21 ff.).

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in Jesus als Christus und der Weitergabe dieser Gabe durch das Handeln der Kirche in Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung.

Näherhin charakterisiert Dombois das Kirchenrecht, in Aufnahme und Ausführung einer Formel Karl Barths, als liturgisches und bekennendes Recht.31 Begrifflich ungeklärt bleibt, wie sich die Begriffe Liturgie und Bekenntnis zu den Begriffen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung beziehungsweise Wortrecht und Sakramentsrecht verhalten.32 Doch sei darauf hier nur hingewiesen. Insgesamt hat Dombois, wie ich meine, seinen rechtstheoretischen Grundansatz in seiner Theorie des Kirchenrechts in überaus eindrucksvoller Weise fruchtbar gemacht.

Das gilt auch für die Entfaltung der bereits genannten handlungstheoretischen Strukturbegriffe traditio und receptio sowie jurisdictio und ordinatio.33 Beide Begriffspaare stehen in einem analogen, aber gegenläufigen Verhältnis zueinander. Strukturell entspricht dem Zuwendungsakt der traditio der instituierende Akt der ordinatio und dem Anerkennungsvorgang der receptio der Entscheidungsakt der jurisdictio. Doch geht der Vollzug kirchlichen Handelns von der traditio zur receptio und über diese zur jurisdictio und weiter zur ordinatio. Die in Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung sich manifestierende traditio bedarf der Annahme im glaubenden Akt der receptio, die ihrerseits stets auch eine “Unterscheidung der Geister” erfordert und damit das Entscheidungselement der jurisdictio enthält. Diese wiederum führt zu instituierenden und der institutionalisierten Traditionsweitergabe dienenden Akten der ordinatio.34 Die dem Kirchenrecht eigentümlichen Vorgänge bilden so “gleichsam eine unendliche Kette der Weitergabe von Geschlecht zu Geschlecht, eine Wellenfolge von Empfängen und Geben”,35 durch die sich die Kirche von ihren Anfängen bis heute erhalten und ausgebreitet hat. Durch


31 RdG I, 19 ff., 237 ff. (Teil II).
32 Vgl. Steinmüller, a.a.O. (Anm. 3), 736 ff.
33 RdG I, 815; vgl. Dombois, Ordnung (Anm. 27), 51 ff.
34 Vgl. RdG I, 864.
35 RdG I, 865.

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diese Vorgänge bildet sich kirchliches Recht, und insofern ist das Recht der Kirche, wie Dombois sagt, “identisch mit dem sie konstituierenden Vollzuge”.36

 

IV

Dem inhaltlichen Reichtum der Theorie Dombois’ kann in diesem Beitrag nicht angemessen Rechnung getragen werden. Ich greife im folgenden drei Teiltheorien heraus, die mir für das Verständnis der Gesamttheorie wichtig zu sein scheinen. Es handelt sich um die Kohärenztheorie der Legitimität, die Periodisierungstheorie der Kirchenrechtsgeschichte und die doppelte Defizienztheorie des Kirchenrechts und der Kirchenverfassung.

1. Dombois’ Theorie stellt sich, wie gesagt, die Aufgabe, kirchliches Handeln auf seine Legitimität zu prüfen. Damit fragt sich, woher sie die Kriterien der Legitimität nimmt. Dombois’ Antwort darauf hat, wie mir scheint, im Verlauf der Ausarbeitung seines Werks eine bemerkenswerte Akzentverschiebung erfahren. Konstant geblieben ist die Zurückhaltung gegenüber jedem unvermittelten Rückgriff auf biblische Weisungen oder göttliches recht. Gewandelt hat sich die Einschätzung der Maßgeblichkeit des Rechts der alten Kirche. Die diesem ursprünglich zugebilligte Maßstabsfunktion ist zunehmend einer Kohärenztheorie der Legitimität gewichen.

a) Zunächst einige Bemerkungen zu Dombois’ Theorie des ius divinum. Ihr Grundgedanke kommt in dem wiederholt verwendeten Satz zum Ausdruck: “Wir haben das ius divinum immer nur in Gestalt des ius humanum.”37 Dieser Satz ist eine Konsequenz der konstitutiven Rolle, die der Begriff der Rezeption in Dombois’ Theorie spielt. Die Auftrags- und Vollmachtsworte Christi bedürfen, um im Leben der Kirche wirksam zu werden, der Interpretation, und diese


36 RdG I, 35; vgl. a.a.O., 80, 771.
37 RdG I, 511, 1009; s. auch Dombois, Ordnung, 50, 57.

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Interpretation ist stets auch ein Akt der Rezeption. Daraus erklärt sich Dombois’ schon früh getroffene Unterscheidung zwischen einem Formalprinzip und einem Materialprinzip des Kirchenrechts: “Das Formalprinzip allen Kirchenrechts ist … der Anspruch, daß das geschehe, was Gott durch den Auftrag der Kirche am Menschen geschehen lassen will …. Das Materialprinzip der geschichtlich unterschiedlichen Kirchenrechtsgestaltungen ist das jeweils unterschiedliche Verständnis dessen, was in der Kirche geschieht und zu geschehen hat.”38

b) In der frühen Phase seines Werks hat Dombois verhältnismäßig deutlich erkennen lassen, daß er dem recht der alten Kirche eine Maßstabfunktion auch für das heutige Kirchenrecht zubillige. So heißt es in einem 1957 veröffentlichten Vortrag: “Die Verfassung der alten Kirche in ihrer großartigen Einfachheit und monumentalen Klarheit, ganz auf das Pneuma gestellt und doch ganz real und ganz konkret, gibt uns nun auch Maßstäbe für die Beurteilung der gegenwärtigen Lage des Streits um das Kirchenrecht.”39 Diese Maßstabsfunktion gilt besonders für drei Grundsätze des altkirchlichen Rechts, die Dombois wiederholt formuliert und auch in Band I des “Rechts der Gnade” aufgenommen hat. Sie lauten (in der Fassung von Bd. I): “1. Jede Ekklesia, ob groß oder klein, ob Gemeinde oder allgemeine Synode, steht als gottesdienstlich ‘im Heiligen Geist versammelt’ kraft des ihr verheißenen Geistes für die ganze Kirche. 2. Was jedoch die einzelne Ekklesia, was auch das ökumenische Konzil beschließt, hat nur soweit verbindliche Kraft, als es von den anderen Ekklesien angenommen, rezipiert wird. 3. Keine Gemeinde oder Teilkirche kann für sich allein bestehen, sich allein auf ihren Geistbesitz berufen, wenn sie nicht gewiß ist, mit der allgemeinen Kirche in Gemeinschaft zu leben, koinonia, Altargemeinschaft und Lehrübereinstimmung zu besitzen. Sie kann es nicht dahingestellt sein lassen, ob sie in der Kirche ist.”40


38 Dombois, Ordnung, 52.
39 Dombois, Ordnung, 101.
40 RdG I, 829; vgl. Dombois, Ordnung, 79 f., 99.

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c) Die Faszination durch das Recht der alten Kirche teilt Dombois mit “Sohm II”, das heißt dem späten Sohm der großen Monographie über “Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians”.41 Dieses Werk, dessen Einfluß auf das Gesamtwerk Dombois’ nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, ist, wie Band I des “Rechts der Gnade”, dem Einwand begegnet, es bekunde sich in ihm eine “regressive Idealisierung einer vergangenen Epoche”.42 Mag dieser Einwand, was Dombois betrifft, für dessen Frühwerk und noch für Band I nicht ganz unberechtigt sein, so kann er durch die Fortführung des Werks in den Bänden II und III als widerlegt gelten.43 In ihnen tritt die angesprochene Akzentverschiebung zutage, in deren Verfolg Dombois mit zunehmender Deutlichkeit eine Legitimitätstheorie formuliert hat, die man, in Anlehnung an die entsprechende Wahrheitstheorie, als “Kohärenztheorie” der Legitimität bezeichnen kann.44

Ihr Zentralsatz lautet: “Der Blick auf das Ganze richtet alle Teile.”45 — Ein Satz, dessen Verwandtschaft mit Hegels kohärenztheoretischer Wahrheitsformel “Das Wahre ist das Ganze”46 auf der Hand liegt. Näherhin bedeutet er, daß sich die Legitimität partikularkirchlicher Bildungen nur im Kontext einer Theorie beurteilen läßt, die das kirchliche Recht historisch und systematisch in seiner Gesamtheit und damit in seiner strukturellen und entwicklungsgesetzlichen Einheit begreift. Als Kriterien der Legitimität erweisen sich dabei Prinzipien der Reichhaltigkeit kirchlicher Organisationsformen und kirchlichen Aufgabenverständnisses einerseits und Gesichtspunkte der Kompatibilität der Optimierung dieser Prinzipien bei Wahrung der kirchlichen Einheit in ihrer Vielgestaltigkeit andererseits. Darauf


41 Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, 1918 (Ndr. Darmstadt 1967).
42 RdG III, 257.
43 Vgl. RdG III, 259; s. auch die Ausführungen zur verfassungsgeschichtlichen Lage der Ostkirche, RdG III, 379 ff.
44 Vg. N. Rescher, The Coherence Theory of Truth, Oxford 1963; A.R. White, Truth, London/Basingstoke 1970, 109 ff.
45 RdG III, 312; s. auch 411: “Je umfassender man das Ganze betrachtet, desto größer wird die Klarheit.”
46 Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Hoffmeister, Hamburg 19526, 21.

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wird im Zusammenhang mit der allgemeinen und der speziellen Defizienztheorie des Kirchenrechts und der Kirchenverfassung zurückzukommen sein.

Der außerordentliche Anspruch, den eine solche Theorie erhebt, ist, so wird man Dombois interpretieren dürfen, nur einlösbar, weil sich gegenwärtig ein “nachkonfessionelles Zeitalter” abzuzeichnen begonnen hat.47 Dem entspricht die These von der objektiven Ökumenizität des Kirchenrechts und dem damit gegebenen “Zwang, das Recht der Kirche als Ganzes zu begreifen”,48 sowie der Notwendigkeit, in der Theoriebildung Geschichte und System zu vereinigen.49 Ermöglicht wird dies dadurch, daß das System der theoretisch denkbaren Gestaltungsformen kirchlichen Rechts im Verlauf zweier Jahrtausende historisch-praktisch durchgespielt und damit in seinen Stärken und Schwächen und nicht zuletzt in seinen Konsequenzen überschaubar und so der Beurteilung zugänglich geworden ist.

Ob und inwieweit des Dombois gelungen ist, jenen Anspruch einzulösen, kann nur im Zusammenhang mit seinen Theorien der Kirchenrechtsgeschichte und der Kirchenverfassung erhoben werden. Ich werde darauf, soweit in diesem Rahmen möglich, in den beiden folgenden Punkten eingehen.

2. Dombois’ Theorie ist schon in Band I und verstärkt in den Bänden II und III eine historische Theoriebildung in systematischer Absicht. Wenn Band II, wie eingangs bemerkt, als Achse des Gesamtsystems betrachtet werden kann, so vor allem deshalb, weil er eine Periodisierungstheorie der Kirchenrechtsgeschichte enthält, die zugleich eine Theorie der Konfessionsbildung und ihrer begrenzten Legitimität ist und die allererst den Grund für den kohärenztheoretischen Anspruch des Gesamtwerks legt. Ihr Hauptgedanke ist die Unterscheidung zwischen dem epikletisch-pneumatischen Kirchenrecht des


47 RdG II, 179.
48 RdG III, 33.
49 RdG III, 261 f.

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ersten Jahrtausends und dem transzendentalen Kirchenrecht des zweiten Jahrtausends.50

Das epikletische Recht der alten Kirche beschreibt Dombois in enger Anlehnung an das genannte Spätwerk Sohms. Er folgt Sohm auch in der Charakterisierung der Gründe, die im 12. Jahrhundert zur Ablösung des altkatholischen Rechts durch das neukatholische Kirchenrecht geführt haben. Neu ist der Versuch, die Bildung nicht nur des neukatholischen, sondern auch des protestantischen Kirchenrechts auf eine gemeinsame Kategorie, die der Transzendentalität, zurückzuführen. Die historische Fragestellung, der sich diese Kategorie nach dem Niedergang des Geistglaubens der alten Kirche verdankt, ist die “Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit legitimen Handelns und Lebens der Kirche”.51 Die römische Kirche antwortete darauf, verkürzt formuliert, mit der konsequenten Ausgestaltung der Jurisdiktionshierarchie und des päpstlichen Primats in einem nun erst möglichen Vollsinne, die lutherische Kirche mit dem Prinzip des verbum externum und seiner perspicuitas und die reformierte Kirche mit der Rückverweisung auf die Prädestination.

Ich verzichte hier darauf, diese Prinzipien und ihre kirchenrechtlichen und kirchenverfassungsrechtlichen Konsequenzen genauer zu erörtern, und gehe sogleich zu der These vom Ende des konfessionellen Zeitalters über — einer These, die zugleich besagt, “daß das transzendentale Kirchenrecht im Begriffe ist, zu enden”.52 Dombois begründet diese These im einschlägigen Kapitel von Band II nur auf wenigen Seiten.53 Er kann dazu jedoch in hohem Maße auf vorher und anderwärts Gesagtes zurückgreifen. Auch lassen sich weite Partien von Band III, besonders die Analysen zum II. Vatikanum und seinen Folgen, zur Lage der Ostkirche, zu den Thesen von Accra und Lima sowie zur Leuenberger Konkordie, als Erläuterung jener Begründung auffassen. Die Hauptgründe sind, wiederum nur


50 RdG II, 103 ff.
51 RdG II, 111.
52 RdG II, 179.
53 RdG II, 177 ff. (Kap. 11).

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stichwortartig und in Anlehnung an die knappe Darstellung in Band II angedeutet, daß im römischen Bereich das Prinzip der Jurisdiktionshierarchie und des päpstlichen Primats mit dem II. Vatikanischen Konzil seinen Höhepunkt überschritten, im lutherischen Bereich das Schriftprinzip mit der Zuspitzung der hermeneutischen Problematik seine verfassungsbestimmende Bedeutung eingebüßt und im reformierten Bereich der Erwählungsgedanke ganz allgemein seine kirchenprägende Kraft verloren habe.54

Es liegt außerhalb des hiesigen Rahmens, diese weittragenden historischen und zeitdiagnostischen Thesen zu diskutieren. Daß sie einer vielfältigen Detailkritik ausgesetzt sein werden, steht zu erwarten. Der Gesamtkonzeption ihre Schlüssigkeit und Plausibilität abzusprechen, dürfte indessen, wie ich meine, schwerfallen.

3. Konkretisiert wird die Kohärenztheorie der Legitimität in einer allgemeinen und einer speziellen Defizienztheorie des Kirchenrechts und der Kirchenverfassung.55 Die spezielle Defizienztheorie beruht auf dem Prinzip der Reichhaltigkeit kirchlicher Organisationsformen, die allgemeine auf dem Prinzip der Vollform kirchlichen Aufgabenverständnisses

a) Die spezielle Defizienstheorie findet sich bereits in Band II.56 Sie ist eine Konsequenz der dort entwickelten Lehre von der vierfachen Gestalt der Kirche.57 Diese vier Gestalten sind: universale Kirche, partikulare Kirche, Gemeinde und Orden, wobei unter “Orden” in einem weiten Sinne alle “besonderen Dienstgemeinschaften” verstanden werden. Zwischen ihnen besteht ein mehrfaches Spannungsverhältnis, vor allem dasjenige zwischen Universalkirche und Partikularkirchen einerseits und dasjenige zwischen Weltkirche und Orden andererseits. Näherhin differenziert Dombois zwischen jenen vier Formen dadurch, daß er der Gesamtkirche und den Gemeinden eine


54 RdG II, 179 ff.
55 Vgl. RdG III, 311.
56 RdG II, 87 ff.
57 RdG II, 35 ff.

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primäre und den Partikularkirchen und den Orden eine sekundäre theologische Dignität zuerkennt. Ein eingehender morphologischer Vergleich zwischen den verschiedenen geschichtlich vorkommenden Kirchenformen ergibt sodann, “daß die alten Kirchen, die orthodoxe wie die lateinisch-katholische dreiförmig, die reformatorischen Kirchen dagegen zweiförmig sind”.58

Die defizienstheoretischen Folgerungen, die Dombois aus diesem Ansatz zieht, sind außerordentlich zurückhaltend. Defizient im strengen Sinne von illegitim und häretisch sind danach lediglich monoforme Kirchenverfassungen.59 Alle anderen Verfassungen sind kirchenrechtlich mehr oder weniger legitim. Bei ihrer Beurteilung im einzelnen, die hier aus Zeitgründen nicht nachgezeichnet werden kann, geht Dombois davon aus, daß die realen Möglichkeiten und Notwendigkeiten verfassungsrechtlicher Gestaltungen in der Mitte zwischen häretischer Monoformität und faktisch unmöglicher Idealität liegen.60

b) Die allgemeine Defizienztheorie ist das Kernstück der Verfassungstheorie von Band III.61 Ihr materiales Kriterium ist die Drei-munera-Lehre, das heißt die Theorie der drei Ämter Christi und der Kirche, dem munus regale, dem munus propheticum und dem munus sacerdotale — ein Theorie, von der sich, wie Dombois mehrfach betont, abzeichnet, daß sie zum Konsens der Gesamtkirche werden könnte. In ihrer kriteriologischen Verwendung unterscheidet Dombois zwischen einerseits materialen beziehungsweise funktionalen Häresien, “die in der Vernachlässigung, Entwertung und Preisgabe eines oder zweier der munera — in verschiedenem Grade — bestehen”, und andererseits proportionalen beziehungsweise methodischen Häresien, “welche zwar die Wahrnehmung und Verbindung der drei munera einschließen, aber durch die Art der Verwirklichung


58 RdG II, 92 (Hervorhebungen vom Verf.).
59 RdG II, 88.
60 RdG II, 98.
61 RdG III, 310 ff. i.V.m. 302 ff.; zur munera-Lehre vgl. auch a.a.O. 334 ff., 409 ff.

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oder/und die Vorrangstellung eines der munera den logos oder modus ihrer geistlichen Ökonomie (Kol 1, 25) verfehlen”.62

Dombois hat diese Theorie freilich nur erst im begrifflichen Ansatz formuliert und nicht mehr eigentlich systematisch ausgeführt, wie überhaupt die Verfassungstheorie von Band III, in deren Kontext die allgemeine Defizienztheorie zu sehen ist, sich in Gestalt einer eigentümlichen Verklammerung grundbegrifflicher und lediglich skizzenartig vorgelegter Schemata sowie verfassungsgeschichtlicher Studien und systematischer Analysen der Verfassungslage der getrennten Kirchen einschließlich ihrer Reform- und Konvergenzbestrebungen darbietet. Teil 7 des Gesamtwerks enthält so eher Materialien zu einer Verfassungstheorie der Kirche als ein ausgearbeitetes System derselben. Die Grundbegriffe und Grundzüge eines solchen Systems sind gleichwohl deutlich. Ihre konsistente und detaillierte Ausarbeitung und Durchformung wird eine Aufgabe der Zukunft bleiben.

 

V

Die vorstehenden Bemerkungen zum “Recht der Gnade” beanspruchen, wie noch einmal betont werden muß, nicht, eine angemessene Vorstellung vom Inhalt des Gesamtwerks zu geben. Zentrale Begriffe und Themen des Werks — Institution, Repräsentation, Ämterlehre, Bekenntnis und Sakrament, Rechtfertigung und Recht, Ordination und Sukzession, die Analyse des Augsburger Bekenntnisses, das Verhältnis zu den Theorien Johannes Heckels und Erik Wolfs — wurden nicht oder nur am Rande erwähnt. Vernachlässigt wurden auch einige unübersehbare Schwächen — begriffliche Unschärfen, sachliche Überzeichnungen, systematische Inkonsistenzen und Disproportionalitäten, ein eher unglücklicher Hang zu physikalischen Metaphern. Doch dürften der Anspruch und der Rang des Werks deutlich geworden sein.


62 RdG III, 311; vgl. a.a.O., 302 ff.

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Der Anspruch, den die Theorie erhebt, ist der Größe des Gegenstands, den sie behandelt, ebenbürtig. Dabei ist Dombois, der Struktur seines Denkens nach, nicht eigentlich ein genuiner Systematiker, sondern eher ein großer Anreger und ebenso sensibler Rezeptor. Daß er sich dennoch dem Zwang zum System unterworfen hat, macht zu einem nicht geringen Teil die Faszination seines Werks aus. In der Sache freilich verdankt dieses seine Anziehungs- und Sogkraft der intellektuellen Leistung, mit der Dombois versucht hat, dem erhobenen Anspruch gerecht zu werden. Diesem großangelegten Versuch, die Strukturen und Entwicklungsgesetze aufzuzeigen, denen das Recht der allgemeinen Kirche in Geschichte und Gegenwart unterlegen war und ist und deren Bewußtmachung der Ökumene wie den Einzelkirchen dann auch Maßstäbe an die Hand gibt, an denen sie ihr Selbstverständnis, ihre Verfassung und ihr Handeln überprüfen können, steht in der gegenwärtigen internationalen Literatur zum Thema nichts Vergleichbares zur Seite.

“Das Kirchenrecht”, sagt Dombois im Vorwort zu Band I, “ist die große Leidenschaft einer Verneinung wert, die Sohm — aber auch nur er allein im Besitze einer überragenden Sachkenntnis — besessen hat. Eine noch größere Leidenschaft fordert die positive Lösung.”63 Dombois hat diese Leidenschaft, gepaart mit Beharrlichkeit und gleichfalls überragender Sachkenntnis, aufgebracht. Entstanden ist so ein Werk, das zu den großen Hervorbringungen der Kirchenrechtslehre gezählt werden muß und dessen prägende Kraft erst die Zukunft erweisen wird.


63 RdG I, 12.