Landau, P.

Epikletisches und transzendentales Kirchenrecht bei Hans Dombois

1990

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Peter Landau

 

Epikletisches und transzendentales Kirchenrecht bei Hans Dombois

Kritische Anmerkungen zu seiner Sicht der Kirchenrechtsgeschichte

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I. Strukturformen in der Kirchenrechtsgeschichte

Im ökumenischen Kirchenrechtsentwurf von Hans Dombois hat seine Sicht der Kirchenrechtsgeschichte erkenntnisleitende Funktion. In Band II seines ‘Rechts der Gnade’ aus dem Jahre 19741 stellt er das Verfassungsrecht der Kirche als Teil eines ökumenischen Kirchenrechts dar. Das erscheint zunächst als eine unmögliche Aufgabe, da es gegenwärtig ein Verfassungsrecht der christlichen Ökumene nicht gibt. Dombois gelingt jedoch eine Lösung der Aufgabe, da er die Grundlagen und Grundfragen der Kirchenverfassung ‘in ihrer Geschichte’ erörtert, wie er bereits im Untertitel von Band II anzeigt.

Eine solche Darstellung muß mehrere Voraussetzungen machen. Zunächst diejenige der geschichtlichen Identität der Kirche.2 Dombois geht davon aus, daß in allen historischen Perioden der Kirchengeschichte und auch in allen institutionell getrennten Kirchen wesentliche Elemente der Kirchenverfassung erhalten blieben. Er kennt vier solcher Strukturformen — nämlich Universalkirche, Partikularkirche, Gemeinde und schließlich Orden als Organisation von Minderheiten — und sprich in diesem Zusammenhang von der ‘vierfachen Gestalt der Kirche’.3 Diese bleibenden Strukturformen


*) Erweiterter Text eines Vortrags am 15. 10. 1982 in Heidelberg.

1 In den Abkürzungen der Fußnoten folge ich dem Abkürzungsverzeichnis der TRE von S. Schwertner.
2 RdG II, 57.
3 RdG II, Kap. II, 35-64.

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werden in den einzelnen historischen Kirchen (Orthodoxie, katholische Kirchen, Kirchen der Reformation) nicht jeweils gleichmäßig ausgebildet, sondern teilweise überbetont, teilweise nur defizient oder gar nicht berücksichtigt. Die einzelnen Verfassungsformen sind in den verschiedenen Kirchen entweder in einer geschichtlichen, entwicklungsfähigen Weise ausgebildet worden oder in einer ungeschichtlichen, nicht fortbildungsfähigen Form. Eine künftige ökumenische Kirchenverfassung wäre nur dann möglich, wenn auch die nichtgeschichtlichen Formen wie etwa das Prinzip der Amtsgleichheit in den reformatorischen Kirchen in einen Entwicklungsprozeß gebracht werden könnten, und die Frage danach bleibt für Dombois offen: “Ob eine Vergeschichtlichung der nichtgeschichtlichen Formen ohne Überfremdung möglich ist, ist eine Frage der weiterführenden Interpretation dieses Formen.”4

Ist somit die Frage nach der möglichen Konvergenz der Kirchen in einer zukünftigen ökumenischen Kirchenverfassung noch nicht zu beantworten, so werden die Spaltungen der historischen Kirchen in der Kirchengeschichte nicht als zufällige Teilgebilde einer kontingenten Entwicklung begriffen (sog. Branch-Theorie) oder als Teile, die durch Abfall von einer ursprünglich in der historischen Existenz der Kirche hervorgetretenen wahren Existenzform entstanden sind (sog. Abfall-Theorie), sondern als Ausprägungen, die sich als Existenzformen des Ganzen der Kirche verstehen und insofern auch in ihrer Existenz Strukturen für ein ökumenisches Kirchenrecht ausgeprägt haben.5 Dieser Grundgedanke, den Dombois als Prinzip der ‘aktiven Individuation’ des Ganzen der Kirche durch die 4 großen historischen Kirchen bezeichnet, befreit den Entwurf von Dombois von jeder konfessionellen Gebundenheit, indem alle großen Kirchen gleichmäßig zur Bewahrung der Identität der Gestalt der Kirche in der Geschichte beitragen. Die einzelnen Kirchen folgen auch nicht zeitlich aufeinander, sondern bestehen zugleich nebeneinander und versuchen jeweils für sich das Ganze christlicher Existenz


4 RdG II, 62.
5 RdG II, 66.

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darzustellen. Dombois spricht von der ‘neuen positiven Verdichtung’ in den partikularen Gestaltungen.6 Dieser Gedanke der aktiven Individuation führt in der Tat zu einer Perspektive, nach der künftige ökumenische Konvergenz in der Kirchenverfassung die historischen Kirchenstrukturen nicht auslöschen, sondern allenfalls im Sinne Hegels aufheben könnte. Der Gedanke der aktiven Individuation des Ganzen der wesentliche Gestaltformen der Kirche in den historischen Kirchen der Orthodoxie, des römischen Katholizismus, des Luthertums und des Calvinismus gibt der Geschichte des Kirchenrechts ein insgesamt positives Vorzeichen; ein adäquates System des Kirchenrechts läßt sich danach nur aus der Kenntnis der Kirchengeschichte entwickeln.

 

II. Die Unterscheidung von Epikletischem und Transzendentalem Kirchenrecht

Nachdem Dombois den Gedanken der Individuation entwickelt hat, gelangt er jedoch zu einer zweiten für die Kirchengeschichte grundlegenden Distinktion: der Unterscheidung von epikletischem und transzendentalem Kirchenrecht. Sie beruht auf der Überzeugung, daß nach der Jahrtausendwende eine grundlegende Transformation des Kirchenrechts im Abendlande stattgefunden habe. Das Kirchenrecht des ersten Jahrtausends wird von Dombois aufgrund der von ihm herausgestellten Bindung an liturgische Vollzüge als epikletisch bezeichnet, das Recht der Kirche des zweiten Jahrtausends im Westen, und zwar sowohl der römisch-katholischen als auch der beiden reformatorischen Kirchen, als transzendental. Transzendental ist für Dombois ein formaler Begriff; er bedeutet, daß die Kirche nicht mehr vom Wirken des Geistes im Vollzug ihrer Handlungen ausgehen konnte, sondern die transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit legitimen Handelns und Lebens der Kirche gestellt wurde.7 Die transzendentale Frage konnte verneint werden; deshalb


6 RdG II, 66.
7 RdG II, 111.

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ist sie nach Dombois zugleich eine kritische Frage. Das katholische Kirchenrecht ist seit dem 12. Jahrhundert transzendental, indem hier das päpstliche Amt in einer Unabhängigkeit von jeder Substruktur ausgebildet wird und Legitimität verbürgt;8 das Luthertum hat als transzendentales Subjekt jenseits aller Institutionen das Wort Gottes;9 im Calvinismus ist die Prädestinationslehre die transzendentale Grundlage, von der aus alle Ämter und Verfassungsformen reformierter Kirchen nur konsekutiv abzuleiten sind.10

Es würde die Dimensionen eines Aufsatzes sprengen und wohl auch jenseits der Kompetenz des Fachhistorikers und -juristen eine transzendental-interdisziplinäre Aufgabe sein, sich mit dieser Distinktion von Dombois insgesamt kritisch auseinandersetzen zu wollen. Insbesondere kann nicht erörtert werden, inwiefern die Bestimmung der transzendentalen Elemente in den reformatorischen Kirchen bei Dombois Überzeugungskraft besitzt. Die Auseinandersetzung mit der lutherischen Tradition hat Dombois inzwischen in Band III seines magnum opus erneut aufgenommen und als kritische Analyse des Augsburger Bekenntnisses durchgeführt. Das Provozierende des Begriffs eines transzendentalen Kirchenrechts liegt für die reformatorischen Kirchen vor allem darin, daß dieser Begriff den Kirchen der Reformation eine Gemeinsamkeit der Denkstruktur mit der katholischen Kirche zuschreibt, die auf einer spezifischen Rationalität beruht, die für die Ostkirche niemals Bedeutung gewonnen habe. Ich selbst würde diesen Begriff der Transzendentalität zumindest insofern akzeptieren können, als er Gemeinsamkeiten der Denktradition aller westlichen Kirchen ausdrücken soll. Ich habe daher eher kritische Einwände gegenüber dem ‘Arbeitsbegriff’ epikletisches Kirchenrecht als gegenüber dem Typusbegriff transzendentales Kirchenrecht, den ich für erkenntnisfördernd halte. Bevor ich zu diesen Einwänden komme, ist jedoch noch auf eine weitere kirchenhistorische These von Dombois hinzuweisen, die für die Rolle des


8 RdG II, 123.
9 RdG II, 132-141.
10 RdG II, 141-148.

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Begriffspaars epikletisch-transzendental von großer Bedeutung ist: es ist die These vom Ende des transzendentalen Kirchenrechts.

 

III. Das Ende des transzendentalen Kirchenrechts

Das transzendentale Kirchenrecht des 2. Jahrtausends ist für Dombois zugleich konfessionelles Kirchenrecht in den Kirchen Roms, des Luthertums und des Calvinismus. Es hat eine Fülle von kirchenrechtlichen Neubildungen hervorgebracht, aber gleichzeitig auch ‘Wirkungsgrenzen’ gehabt. Dombois hebt zwei Begrenzungen hervor: einmal das Fortleben von Traditionselementen früheren Kirchenrechts, zum Teil in unbewußter Fortführung;11 zum anderen die Tatsache, daß nirgends im konfessionellen und transzendentalen Kirchenrecht Sätze allgemeinen Kirchenrechts ausgebildet worden seien.12 Dies führt zu der Konsequenz, daß ein künftiges ökumenisches Kirchenrecht doch primär an die Epoche des epikletischen Kirchenrechts als die eigentlich rechtsschöpferische anknüpfen müßte: Dies müßte sich daraus ergeben, daß das transzendentale Kirchenrecht nach Dombois in allen seinen Formen an sein ‘formgeschichtliches Ende’ gelangt sei — im Katholizismus durch die Relativierung der dogmatischen Judiziabilität im Vaticanum II, im Luthertum durch das Ende eines institutionalisierbaren Wortverständnisses in der Theologie Bultmanns, im Calvinismus durch die Relativierung des Erwählungsgedankens in der Theologie Barths.13 Sofern die Diagnose vom Ende des transzendentalen Kirchenrechts zutreffend ist, dann muß sie ebenfalls zur Neubesinnung auf Elemente des Erbes des 1. Jahrtausends der Kirchengeschichte führen, wenn die Geschichte der Kirche nicht in einem Chaos von Sekten enden soll, eine Gefahr, die Dombois sieht, die er aber doch als Möglichkeit künftiger Entwicklung letztlich ausscheidet. Etwas vereinfacht formuliert: Sofern Strukturen der künftigen unbekannten ökumenischen Landschaft erkennbar sind, können sie in erster Linie


11 RdG II, 173.
12 RdG II, 174.
13 RdG II, 179-181.

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nur am Kirchenrecht des 1. Jahrtausends orientiert sein. Das macht die Frage nach der Richtigkeit der Sicht des epikletischen Kirchenrechts zu einem zentralen Punkt bei der Diskussion des vorgelegten Kirchenrechtsentwurfs; im Zusammenhang damit wird auch die zweite Frage entscheidend, ob die Transformation vom epikletischen zum transzendentalen Kirchenrecht aus dem historischen Befund abgeleitet werden kann. Beide Fragenkreisen seien im folgenden behandelt, so daß auf eine Diskussion der einzelnen Thesen zur Entwicklung des transzendentalen Kirchenrechts verzichtet sei, also auf eine Untersuchung der vorgelegten Analyse zur Rechtsentwicklung der lateinischen Kirchen nach der entscheidenden Transformation verzichtet wird. Zum transzendentalen Kirchenrecht seien nur zwei Anmerkungen gemacht:

1. Auch wenn einsichtig sein sollte, daß die jeweilige Transzendentalität der drei wesentlichen lateinischen Kirchen an ihre Ende gelangt ist, so ist dies noch nicht schlüssig in dem Sinne, daß die Denkform der Transzendentalität insgesamt ihr Ende gefunden hat. In dieser Denkform steckt nach Dombois die kritische Frage nach der Legitimität kirchlichen Handelns.14 Diese Frage ist in den gegenwärtigen Kirche nicht verstummt und wäre jedenfalls für das Abendland, zu dem insofern wohl auch der gesamte amerikanische Kontinent zu zählen wäre, auch in einer Ökumene nicht aufzuheben. Die Frage nach der Legitimität ist ein Erbe abendländischer Rationalität; und letztere braucht nicht geschichtlich überholt zu sein.

2. Obwohl Dombois in Band II das Ganze der Kirchengeschichte für die Systematik des Kirchenrechts fruchtbar zu machen sucht, bleibt doch der Vorrang des ersten Jahrtausends, da nur diese Periode Sätze allgemeinen Kirchenrechts hervorgebracht hat. Man kann diese im Grundsatz zum Teil akzeptieren, aber trotzdem darauf insistieren, daß auch das zweite Jahrtausend ein positives rechtliches Erbe für das Kirchenrecht herausgebildet hat. Das für die Zukunft wichtige Erbe des zweiten Jahrtausends liegt vielleicht nicht in institutionellen


14 RdG II, 111 ff.

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Strukturen, sondern in rechtlichen Formen wie zum Beispiel dem Wahlrecht und den Verfahrensgrundsätzen, die im kanonischen Recht rechtsschöpferisch entwickelt wurden und inzwischen vielfach zu selbstverständlichen Voraussetzungen differenzierter Rechtskulturen geworden sind. Hinter diese Erfordernisse der Rationalität wird auch ein künftiges ökumenisches Kirchenrecht schwerlich zurückfallen können. Sollten sich aus diesen Überlegungen des Kirchenrechts des zweiten Jahrtausends nicht auch Sätze allgemeinen Kirchenrechts für die Zukunft bilden lassen? An diesem Punkt müßte die Diskussion mit Dombois und über seinen Entwurf hinaus weitergeführt werden.

 

IV. Die Epoche des epikletischen Kirchenrechts

Die Zusammenfassung des Kirchenrechts des ersten Jahrtausends unter dem ‘Arbeitsbegriff’15 epikletisches Kirchenrecht halte ich aus zwei Gründen für problematisch. Der erste Grund liegt darin, daß der Begriff nicht flächendeckend die charakteristische Momente des Kirchenrechts des ersten Jahrtausends erfaßt; der zweite Grund ist darin zu sehen, daß für diese Epoche die universale Einheit des Kirchenrechts in Ost und West überschätzt wird. Da sich Dombois bei seiner Begriffsbildung und Epochenunterscheidung weitgehend auf Rudolph Sohms Spätwerk (Sohm II)16 und auf dessen Begriff des ‘altkatholischen Kirchenrechts’ stützt, ist jede Diskussion mit Dombois zugleich auch Auseinandersetzung mit Sohms Konstruktion der Kirchenrechtsgeschichte.

Der Begriff ‘epikletisch’ soll die inhaltliche Besonderheit der ersten Epoche des Kirchenrechts ausdrücken, ihren Geistglauben, der sich in der Tradition der Liturgie ausdrückt und zu einer pneumatologischen Struktur des Kirchenrechts führt. Rechtlich wirksames


15 Die Bezeichnung ‘Arbeitsbegriff’ begegnet in RdG II, 108 für den Terminus ‘epikletisches Kirchenrecht’.
16 Rudolph Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, Neudruck 1967 (zuerst in: Festschrift für Adolf Wach, 1918).

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Handeln vollzieht sich in der gottesdienstlich versammelten Gemeinde, in Synode und Konzil.17 Zweifellos ist insofern ein charakteristisches Moment getroffen, als zumindest in der spätantiken Reichskirche Rechtssetzung vorwiegend konziliar erfolgt. Daneben gibt es aber schon früh Rechtsbildungen, die weder formal auf einer Versammlung von Christen beruhen, noch inhaltlich auf das Wirken des Geistes bezogen sind, sondern nur als alte Gewohnheit legitimiert sind, nämlich u.a. die Grundzüge des Patriarchatsverfassung. Sie sind der Alten Kirche so bedeutsam, daß sie bereits auf dem Konzil von Nicäa formuliert werden (Kanon 6 und 7). Dombois hebt zwar die ‘große Verfassungstradition des Patriarchatssystems’ hervor,18 und er erkennt auch, daß das darin vorhandene hierarchische Element ‘in der Durchgängigkeit des epikletischen Kirchenrechts nicht voll aufgeht’.19 Aber diese Relativierung berücksichtigt nicht die fundamentale Bedeutung des Patriarchats für das Kirchenrecht des ersten Jahrtausends und auch für die gegenwärtige Struktur der Ostkirchen. Dieses Verfassungselement ist auch gegenwärtig die Grundlage für den Dialog zwischen Rom und Konstantinopel. Es ist ein hierarchisches Element und sprengt insofern die von Dombois für das epikletische Kirchenrecht postulierte horizontale Grundstruktur. Es ist schließlich ein juristisch zentrales, aber in den Konzilskanones der Alten Kirche gerade nicht pneumatisch begründetes Element.20

Mein zweites Bedenken richtet sich dagegen, daß Dombois mit der Unterordnung des Kirchenrechts des ersten Jahrtausends unter den Begriff epikletisches Kirchenrecht die Einheitlichkeit und Universalität der kirchlichen Rechtsbildungen für diesen Zeitraum überschätzt. Gewiß gab es einen universalen Rahmen von Rechtsnormen, der im wesentlichen auf den Konzilien des Ostens formuliert wurde


17 RdG II, 108.
18 RdG III, 122 und 132.
19 RdG III, 258.
20 Die Orientierung der Alten Kirche in diesen und ähnlichen Canones an der Vergagenheit wird bei Yves Congar, Rudolf Sohm nous interroge  encore, RSPhTh 57 (1973), 263-287 (277) — auch in ders., Droit ancien et structures ecclésiales (Reprint 1982 — no. IV.), als Affirmation der Kontinuität gedeutet, die von Sohm nicht erfaßt worden sei.

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und dessen endgültige Rezeption für den Westen die historische Leistung des Dionysius Exiguus darstellt. Daneben gibt es aber erkennbar bereits im 4. Jahrhundert Bruchstellen zwischen östlichem und westlichem Kirchenrecht. Ein entscheidendes Datum ist hier das Konzil von Sardica 343, dessen Canones im Osten nicht rezipiert werden. Die Quellenüberlieferung macht Aussagen zum regionalen vorkonstantinischen Kirchenrecht problematisch; aber möglicherweise reichen Differenzen zwischen Ost und West in die Zeit um 300 zurück.21 Entscheidend ist jedoch, daß schon seit dem 4. und 5. Jahrhundert der Bestand an Rechtsquellen für Ost und West unterschiedlichen Umfang hat und die Instanzen der Rechtssetzung sich unterscheiden. Im Osten ist es die Rechtssetzung der Kaiser, die vor allem seit der berühmten Konstitution Cunctos populos der Kaiser Gratian und Theodosius I. 380 zur Entscheidung der Frage der Glaubensorthodoxie das kanonische Recht gestaltet (= Cod. Just. 1.1.1.); seit dem 6. Jahrhundert werden kaiserliches und konziliares Recht zusammen in den Nomocanones-Sammlungen überliefert. Diese Sammlungen finden im Westen kein Äquivalent; das einzige vergleichbare westliche Produkt, die Collectio Avellana aus dem 6. Jahrhundert,22 bleibt singulär und ohne Einfluß auf die anderen westlichen Sammlungen.

Im Westen ist es hingegen das päpstliche Dekretalenrecht, das ein zusätzliches Corpus von Rechtstexten neben dem konziliaren Recht ausbildet. Die Entwicklung beginnt mit Papst Siricius 385 und tritt schon unter ihm mit dem Anspruch auf, daß  die statuta apostolicae sedis gleiche Rechtsgeltung mit den Konzilskanones besäßen.23 Bekanntlich hat der Osten das päpstliche Dekretalenrecht nie


21 Zu dieser Frage cf. Charles Munier, L’Eglise dans l’Empire romain (IIe-IIIe siècles) Eglise et Cité (= HDIEO II/III) 1979, 44-54. Die Bestimmungen der Konzilien von Elvira 306 und von Arles 314 zeigen gegenüber den östlichen Kirchenvätern eine mehr rigoristische Linie.
22 Zu ihr zusammenfassend Alphons Stickler, Historia Iuris Canonici Latini I (1950), 65.
23 Zur Bedeutung der Dekretale neuestens als gute Einführung Karl Suso Frank, Grundzüge der Geschichte der Alten Kirche (1984), 129-130.

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rezipiert. Damit ist schon im 5. Jahrhundert formal ein unterschiedliches Corpus von Rechtsquellen in Ost und West gegeben. Materiell differenziert sich östliches und westliches Kirchenrecht vor allem seit Leo I., indem dieser mit dem Begriff der plenitudo potestatis ein im Osten niemals anerkanntes institutionelles Verständnis des Papsttums begründet.24 Dieser schon im 4. Jahrhundert nicht nur angelegten, sondern bereits sichtbaren Ost-West-Spaltung wird die Begriffsbildung bei Dombois nicht gerecht.

Nun wäre freilich der Vorwurf gegenüber Dombois verfehlt, er habe die Unterschiede zwischen Ost und West im ersten Jahrtausend übersehen. Er betont ausdrücklich, daß die Voraussetzungen für das Schisma von 1054 bereits Mitte des ersten Jahrtausends angelegt waren.25 Diese frühe Spaltung wird jedoch von Dombois fast ausschließlich unter Berufung auf Carl Andresen als Scheidung theologischer Konzeptionen gesehen,26 ohne daß die frühen Rechtsdifferenzen ins Blickfeld rücken. Rechtlich bleibt die Kirche für Dombois eine Einheit auch nach dem Ende der politischen Einheit des Imperium Romanum, wobei Dombois der afrikanischen Kirche mit ihrer unrömischen bischöflichen cyprianischen Tradition die Funktion einer Klammer zwischen Ost und West zuschreibt.27 Hier wird jedoch die Bedeutung der afrikanischen Kirche überschätzt; sie existierte bis zum 11. Jahrhundert, konnte aber schon nach 430 den eigenen Weg Roms und des Westens nicht mehr beeinflussen.28

Die Betonung des theologischen Moments bei der Differenzierung von Ost und West im frühen Mittelalter entspricht einer systematischen Grundvoraussetzung innertheologische und nicht


24 Auch hierzu einführend K.S. Frank, op. cit., 133-136; ferner als Synthese der zahlreichen Forschungen Walter Ullmanns Buch: Gelasius I. (429-496) (= Päpste und Papsttum, hg. v. G. Denzler, Bd. 18), 1981, 61-87, bes. 70.
25 RdG II, 108.
26 RdG II, 47-48.
27 RdG II, 104.
28 Zur afrikanischen Kirche cf. Werner Marschall, Karthago und Rom. Die Stellung der nordafrikanischen Kirche zum Apostolischen Stuhl in Rom (= Päpste und Papsttum Bd. 1), 1971.

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außertheologische Gründe bestimmen in letzter Instanz die rechtsgeschichtlichen Transformationen.29 Als Rechtshistoriker kann ich diese Voraussetzung auch als Arbeitshypothese nicht übernehmen. Das Verständnis der kirchlichen Rechtsgeschichte im Sinne einer historischen Rechtstheologie ist ähnlich reduktionistisch wie die Definition der Kirchengeschichte als historische Theologie.

Da Dombois die eigentlich rechtsgeschichtlichen Wandlungen des frühen Mittelalters bei seinen Beschreibungen des epikletischen Kirchenrechts ausblendet, können manche Charakteristika der abendländischen Entwicklung nur als kontingente historische Aberrationen erscheinen, andere werden gar nicht erwähnt. Die erste Feststellung gilt für das Eigenkirchenrecht,30 die zweite für den mit dem Namen Pseudo-Isidors bezeichneten Gesamtkomplex von Fälschungen des 9. Jahrhunderts, der spätestens seit dem 11. Jahrhundert vor allem das kirchliche Prozeßrecht geformt hat. Es ist ein erstaunlicher Befund, daß trotz der Betonung des Prozessualen im Rechtsbegriff von Dombois die Bedeutung Pseudo-Isidors für die Geschichte des Kirchenrechts nirgends in den 3 Bänden des ‘Rechts der Gnade’ thematisiert erscheint. Eine Erklärung dieses Tatbestands könnte darin liegen, daß der subjektivistische Rechtsbegriff in den pseudo-isidorischen Texten das Schema von Dombois sprengen müßte. Zwar könnte Dombois entgegnen, daß Pseudo-Isidor wegen der erst im 11. Jahrhundert einsetzenden Wirkung nicht mehr zur Epoche des epikletischen Kirchenrechts gehöre, sondern vielleicht schon die transzendentale Denkstruktur isoliert vorwegnehme — da aber das Gratianische Dekret im Prozessualen ganz wesentlich durch Pseudo-Isidor geprägt ist,31 müßte die Registrierung dieses Tatbestands zumindest die These von Gratian als der Summe des epikletischen Kirchenrechts gefährden.


29 Das wird z.B. RdG II, 112 besonders deutlich hervorgehoben.
30 Cf. RdG II, 112, wo offenbar der Begriff ‘Eigenkirchenwesen’ unter den verwendeten Terminus ‘germanisches Kirchenrecht’ zu subsumieren ist. Meine eigene Bewertung dieser Strukturen habe ich in dem Artikel ‘Eigenkirchenwesen’ in TRE 9 (1982), 399-404 ausgeführt.
31 Hierzu Horst Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudo-isidorischen Fälschungen, Teil II (MGH-Schriften Bd. XXIV, 2), 1973, 563-585.

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Bei Berücksichtigung der hier skizzierten Tatbestände komme ich zu dem Ergebnis, daß der Terminus ‘epikletisches Kirchenrecht’ jedenfalls als rechtshistorischer Arbeitsbegriff nicht übernommen werden kann. Diese Feststellung bedeutet nicht, daß damit auch die Ansicht einer Transformation des Kirchenrechts im hohen Mittelalter abgelehnt wäre. Eine solche Transformation in ein wissenschaftlich behandeltes, dem Satz des Widerspruchs unterstelltes Recht ist sicherlich historisch erfolgt; jedoch muß die zeitliche Einordnung anders als bei Sohm und Dombois vorgenommen werden. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach der historischen Stellung Gratians und seiner ‘Concordia discordantium canonum’ entscheidend.

 

V. Die Transformation des Kirchenrechts und das Gratianische Dekret

Zuerst in Band II des ‘Rechts der Gnade’ knüpft Dombois an den späten Sohm (Sohm II) an, der in dem bereits erwähnten Werk ‘Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians’ Gratian als unüberbietbare systematische Darstellung eines Sakramentenrechts herausgestellt hatte.32 Dombois will sich von Sohm II nur insofern unterscheiden, als er die Entwicklung des zweiten Jahrtausends im Kirchenrecht nicht als Abfall von theologischen Prinzipien zugunsten einer säkularen römischen Rechtstradition deutet, sondern in dem Begriff ‘transzendentales Kirchenrecht’ der späteren Entwicklung eine relative theologische Legitimität zugesteht. Für Gratian übernimmt Dombois die Sohmschen Ergebnisse, ohne sich mit der seit Jahrzehnten geübten Kritik an Sohms Konzeption im einzelnen auseinanderzusetzen.33 Es wäre unmöglich und wohl auch überflüssig, diese Kritik hier im einzelnen nachzuvollziehen. Sohms Konzeptions ist nicht voll widerlegt, da eine umfassende Auseinandersetzung einen Stand der Gratianforschung, insbesondere zu


32 Bei Dombois in RdG II, 24 f.
33 Ein Überblick zu dieser Kritik auf dem Stand von 1952 bei Klaus Mörsdorf, Altkanonisches ‘Sakramentenrecht’?, HSTGra Bd. I (1953), 483-502.

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Fragen der Komposition des Dekrets, voraussetzen würde, der auch gegenwärtig — 1984 — noch nicht erreicht ist. Für meine eigene Bemühungen in diesem Bereich kann ich vorerst auf einen Artikel in der TRE verweisen.34 Kritisch zu Sohm II und Dombois möchte ich auf folgende 3 Punkte hinweisen:

1. Gratians Werk ist durchzogen von juristischen Begriffen, die Anknüpfungspunkte für die spätere Kanonistik bildeten, aber es ist gerade nicht nach dem Einteilungsprinzip der Sakramente gegliedert. Zwar geht es wohl zu weit, die sakramentsrechtlichen Teile ‘De penitentia’ und ‘De consecratione’ insgesamt als spätere Zusätze aus einem Ur-Gratian zu eliminieren; aber sie stehen zumindest nicht im Zentrum des Opus.35

2. Gratian unterscheidet sich von seinen Vorgängern (Anselm von Lucca, Ivo von Chartres) dadurch, daß er in Distinctio I-XX eine allgemeine Rechtslehre voranstellt, für die er sich besonders auf Texte der vorher in der Kanonistik so nicht präsenten Isidor von Sevilla stützt.36 Darin liegt eine Neuerung, die schon bei Sohm praktisch übergangen wird.37 Der formale Rechtsbegriff ist bei Gratian allgemein gültig für weltliches und kirchliches Recht, nicht etwa pneumatologisch geprägt.

3. Die Theorie von Gratian als Summe des älteren Kirchenrechts setzt das Überwiegen der theologischen Komponente bei ihm voraus, und zwar wohl im Sinne einer von der Frühscholastik noch nicht erfaßten Denkform. Nun ist derzeit trotz der Forschungen vor allem von de Ghellinck und Kuttner38 die Frage der theologischen Einordnung


34 Mein Artikel ‘Gratian’ in TRE Bd. 13 (1984).
35 Zur Einteilung des Dekrets cf. Jacqueline Rambaud bei Le Bras/Lefebvre/Rambaud, L’Age classique. Sources et théorie du droit (HDIEO VII) 1965, 78-99.
36 Zur Rechtslehre Gratians cf. Carl Gerold Fürst, Zur Rechtslehre Gratians, ZRSG.K 57 (1971), 276-284.
37 Man vergleiche Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht etc., 20.
38 Joseph de Ghellinck, Le Mouvement théologique du XIIe siècle, 2. Aufl. 1948, 455 und 494; Stephan Kuttner, Zur Frage der theologischen Vorlagen ➝

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Gratians noch nicht voll geklärt, auch nicht das Problem des gegenseitigen Verhältnisses der theologischen und der juristischen Komponente in seinem Werk.39 Man wird jedoch soviel sagen können, daß sich vielfach Gesichtspunkte für die Annahme eines Einflusses der Frühscholastik, insbesondere desjenigen Abälards, gefunden haben. Deshalb ist eine Interpretation des Dekrets unter dem Gesichtspunkt der theologischen Tradition des ersten Jahrtausends nicht werkadäquat.

Wenn man den Wendepunkt in der Geschichte des Kirchenrechts nicht nach Gratian sehen kann, so bedeutet dies nicht, grundlegende — ja sogar revolutionäre — Veränderungen in den Rechtsstrukturen für dieses Zeitalter überhaupt zu leugnen. Ich würde vielmehr Dombois durchaus zustimmen können, daß man von fundamentalen Transformationen sprechen muß, bei denen allerdings die entscheidende Tendenzwende zeitlich vor Gratian anzusetzen ist, zwischen Gregor VII. und Gratian.40 Dem Thema des Umbruchs, den dieses Zeitalter für die Rechtskultur gebracht hat, ist das jüngst erschienene Werk ‘Law and Revolution’ von Harold J. Berman gewidmet,41 dessen Gedankengänge sich oft in überraschender Weise mit Dombois berühren. Eine genauere Bestimmung dieser Transformation ohne Anlehnung an Sohm II wäre allerdings ein schwieriges Unterfangen, das im Rahmen dieser Abhandlung nicht einmal skizziert werden kann.


➝ Gratians, ZSRG.K 23 (1934), 243-268 — Neudruck mit ‘Retractationes’ in: S. Kuttner, Gratian and the Schools of Law 1140-1234 (1983).
39 Wichtige Ansätze für diese Diskussion bei Stanley Chodorow, Christian Political Theory and Church Politics in the Mid-Twelfth Century (1972).
40 In diesem Sinne auch Y. Congar (wie Fußn. 20), 273.
41 Harold J. Berman, Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition, Cambridge/Mass. und London 1983. Cf. hierzu meine Besprechung in der Chicago Law Review 51 (1984), 937-943.

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VI. Die Bedeutung des theologischen Faktors für die Geschichte des Kirchenrechts

Sowohl bei der Periodisierung als auch bei den einzelnen Analysen betont Dombois öfters, daß den theologischen Denkstrukturen Priorität zukomme. Diese Auffassung enthält offenbar hegelianische Elemente: die kirchliche Gemeinschaft folgt teils bewußt, teils unbewußt Denkzwängen, die ihrerseits vornehmlich auf geistlichen, nicht auf säkularen Denkstrukturen beruhen. Dieses Verständnis der Geschichte des Kirchenrechts hat eine sehr einschneidende Folge: der geschichtliche Entwicklungsprozeß des Kirchenrechts kann nach anderen Gesetzen und vielleicht sogar in anderer Richtung als der des weltlichen Rechts verlaufen. In diesem Zusammenhang stimme ich Dombois insofern zu, als man von einer relativen Autonomie der kirchlichen Rechtsentwicklung gegenüber dem säkularen Bereich sprechen kann.42 In den Analysen von Dombois liegt jedoch ein Verständnis, das die relative Autonomie fast zur Independenz steigert, obwohl er natürlich gelegentlich auch den externen Einfluß bei der kirchlichen Rechtsentwicklung erwähnt. Die jeweils zeitgeschichtlichen Prägungen des Kirchenrechts — nicht nur durch säkulare Denkstrukturen, sondern auch durch gesellschaftliche Einflüsse — werden bei den Analysen von Dombois weitgehend ausgeblendet. Dombois verwendet zwar den Begriff der ‘passiven Individuation’, aber er meint damit die äußere Einwirkung, die Teile der Kirche zu subjektähnlichen Individuen prägt,43 also die regionale, nicht die zeitlich verschiedene von außen kommende Prägung der Kirche. Solche zeitgeschichtlichen Einflüsse sind in jeder Epoche des Kirchenrechts anzutreffen, in der Antike die politische Struktur des Imperium Romanum, im frühen Mittelalter die agrarisch-grundherrschaftliche Gesellschaft, im hohen Mittelalter der Zwang zur Verwissenschaftlichung durch die Rechtsschulen, in der frühen Neuzeit die Bürokratisierungstendenzen des Absolutismus, in der Gegenwart der


42 Zum Problem der relativen Autonomie der kirchlichen Rechtsgeschichte oder historischen Kanonistik cf. meinen Aufsatz, Bemerkungen zur Methode der Rechtsgeschichte, ZNR 1980, 117-131, bes. 131.
43 Zur passiven Individuation RdG II,75-79.

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Einfluß demokratischer Denkstrukturen bei allen Legitimitätsdebatten. Wenn ich recht sehe, bleibt bei Dombois letztlich unerörtert, was das historische Kontingente für ein ‘Recht der Gnade’ bedeutet. Gedanklich halte ich es nicht für ausgeschlossen, Kirchenrecht als Synthesis von ‘traditio’ und Kontingenz auch bei der Begründung von ‘iurisdictio’ zu verstehen. Ein mittelalterliches Beispiel böte etwa die ‘iurisdictio’ des Archidiakons. Die Möglichkeit und die Konsequenzen des hier angedeuteten Gedankens müssen unerörtert bleiben. Jedenfalls sollte mein Plädoyer für die relative Berechtigung des Kontingenten in der Institution, falls das Kirchenrecht seine Ordnungsaufgaben erfüllen will, nicht in dem Sinne mißverstanden werden, als werde damit eine kirchenrechtliche Version des ‘Naturrechts mit wechselndem Inhalt’ propagiert. Vielmehr stehen geschichtliche Kontingenz und geistliche Tradition in einem Verhältnis der Wechselwirkung, wie es von Dombois an anderen Beispielen für die Kirche als strukturbestimmend unter Berufung auf die Theologie des Konzils von Chalcedon herausgearbeitet wird.44

 

VII. Mittelalter und Neuzeit im katholischen Kirchenrecht

Die Periodisierung bei Dombois bringt es mit sich, daß der gesamte Zeitabschnitt seit dem 12. Jahrhundert für Europa als eine einheitliche Periode gesehen wird. Das hat seine Vorzüge, indem dadurch die reformatorischen Kirchen perspektivisch in ihrer Bedingtheit durch die hochmittelalterlichen Fragestellungen gesehen werden. Es führt aber auch dazu, die Krise des Spätmittelalters nur als relativen Einschnitt in einer Kette von Schismen zu verstehen. Das Große Schisma von 1378 wird von Dombois erst in Band III und auch dort eher beiläufig behandelt.45 Indem Dombois vor allem das katholische Kirchenrecht als eine Einheit in den Grundstrukturen seit dem 12. Jahrhundert sieht, verbaut er sich den Weg zu der Erkenntnis, daß das


44 RdG III, 405 f.
45 RdG III, Kap. XXV, 389 f.

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neuzeitliche tridentinische Kirchenrecht46 wesentliche qualitative Unterschiede zum hochmittelalterlichen klassischen Recht aufweist. Diese Unterschiede bekommt Dombois letztlich nicht in den Griff, auch wenn er kontrastierend die Fülle der mittelalterlichen Rechtsbildungen zur Funktionalität späterer Rechtsformen erwähnt.47 Insbesondere müßte die Wertung einer Rechtsfigur differenzierter ausfallen, als es bei Dombois erfolgt, nämlich des Instituts des Kardinalats. Für Dombois sind die Kardinäle reine ‘creaturae papae’,48 die offenbar nur bei der Papstwahl, also als Kreationsorgane ohne echte Repräsentationsfunktion, notwendig sind. Da sie mit der übrigen Kirche nicht zusammenhängen, verbürgen sie die Transzendentalität der Position des Papstes gegenüber jeder communio. Diese Beschreibung verkennt, daß im hohen Mittelalter die Kardinäle praktisch und teilweise auch gerechtfertigt durch die kanonistische Theorie Teilhaber an der päpstlichen plenitudo potestatis waren,49 da die päpstliche Regiminalgewalt vornehmlich im Konsistorium als dem zentralen Regierungsorgan Gestalt gewann.50 Dombois geht auf diesen mittelalterlichen Tatbestand der Regierungsgewalt in der Hand eines Kollegiums nur an einer Stelle ein, in einem Vergleich des Kardinalskollegs mit den gescheiterten Versuchen spätmittelalterlicher konziliarer Zentralgewalt in Konstanz und Basel.51 Dabei wird aber verkannt, daß die Konsistorialregierung kein ephemerer Versuch, sondern eine geschichtsmächtige Institution war, die nur durch das Scheitern der Einigung auf Konsensprinzipien im Großen Schisma von 1378 zugrundeging.


46 Der Ausdruck ‘tridentinisches Kirchenrecht’ wurde offenbar von Hans Erich Feine in seiner ‘Kirchlichen Rechtsgeschichte’ (zuerst 1950, jetzt 5. Aufl. 1972) geprägt.
47 RdG II, 124 und 165.
48 RdG II, 120.
49 Hierzu vor allem auf breiter Quellengrundlage Brian Tierney, Foundations of the Conciliar Theory (1955), 150-151 (Hostiensis), 188-190 (Johannes Monachus), 234-237 (Zabarella).
50 Zur historischen Entwicklung des Kardinalats cf. Giuseppe Alberigo, Cardinalato e Collegialità (1969).
51 RdG III, 194.

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Gerade an der Institution des Kardinals läßt sich paradigmatisch herausarbeiten, daß das 15. Jahrhundert auch für das römisch-katholische Kirchenrecht eine Epochenscheide bedeutet. Man könnte so formulieren, daß das eigentlich Neukatholische erst das tridentinische Kirchenrecht ist. Wenn dies richtig ist, dann müßte am Ende des konfessionellen Zeitalters auch die Frage stehen, inwieweit das Erbe des klassischen kanonischen Rechts des 12. bis 14. Jahrhunderts für die Zukunft des Kirchenrechts fruchtbar gemacht werden kann. Die Frage wird im ‘Recht der Gnade’ nicht gestellt — und darin sehe ich eine verhängnisvolle Übernahme von Sohm II, obwohl Dombois sich von Sohms Abfalltheorien abgrenzen möchte.

 

VIII. Das Recht der Buße

Die kritischen Überlegungen zur Tragfähigkeit der Dichotomie epikletisches und transzendentales Kirchenrecht seien noch für drei Bereiche erörtert, die auch bei Dombois im Mittelpunkt seiner Analysen stehen: Buße, Ordination und Ehe.

Für Dombois ist der Wandel im Verständnis der Buße während des hohen Mittelalters besonders wichtig. Er sieht in der Festlegung der allgemeinen Beichtpflicht durch das 4. Laterankonzil die systematische Vollendung einer Umformung des Kirchenrechts. Damit sei zum einen jeder Christ vom Papst bis zum letzten Bettler einer regelmäßigen und ordentlichen geistlichen Gerichtsbarkeit unterworfen worden;52 es seien zum erstenmal gestufte Zuständigkeiten eingeführt worden,53 wodurch der iudex ordinarius des Bußverfahrens Vorbild für den rechtsstaatlichen ordentlichen Richter geworden sei.54 Man habe 1215 die Bußdisziplin aus den Beziehungen zur Gemeinde gelöst, die sie in der Alten Kirche gehabt habe. Die Neuordnung der Bußdisziplin erscheint also als die umfassendste institutionelle Anstrengung, die die Kirche den Gläubigen jemals


52 RdG II, 109.
53 RdG II, 110.
54 RdG II, 114.

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zugemutet habe — als eine Art Kulturrevolution in der Terminologie von Dombois.55 In dem neuen System der Bußdisziplin entdeckt Dombois auch einen eigenständigen Vorgriff der Kirche auf eine selbstkritische Denkform und einen hohen Anteil an Rationalität.56

In dieser Darstellung der Geschichte der Buße wird die historische Bedeutung der Ersetzung der öffentlichen Buße der Alten Kirche durch die Privatbuße mit allgemeiner Beichtpflicht richtig erkannt, aber zeitlich nicht zutreffend angesetzt. Die wiederholbare Privatbuße ist bereits eine Neuerung der insularen keltischen Kirche mit ihrer eigentümlichen Verfassungsstruktur, also ein Erbe des frühen Mittelalters. Die keltische Privatbuße auf der Grundlage von Bußbüchern hat sich auf dem Kontinent bereits im karolingischen Europa allgemein neben der öffentlichen Buße durchgesetzt; das so entstandene System zweier Bußformen mit Vorrang der Privatbuße wird als ‘karolingische Dichotomie’ in der Forschung bezeichnet.57 Das Gebot der allgemeinen Beichtpflicht ist seit der Karolingerzeit in Quellen bezeugt; es ergab sich indirekt auch daraus, daß man seit dieser Zeit die Beichte regelmäßig vor Empfang der Kommunion ablegte.58 Folglich ist das Prinzip der allgemeinen Beichtpflicht 1215 nicht erstmalig formuliert, sondern nur noch durch Konzilsautorität bekräftigt worden. Das Gebot der allgemeinen Beichtpflicht war 1215 nicht revolutionär wie die auf dem gleichen Konzil erfolgte Verurteilung der Gottesurteile, sondern es hatte vielmehr den Charakter gesetzlicher Statuierung eines bereits gewohnheitsrechtlich anerkannten Prinzips. Auch zu den sonstigen Thesen von Dombois zur Geschichte der Buße sind erhebliche Bedenken anzumelden. Die Beteiligung der Gemeinde, nach Dombois charakteristisch für das altkirchliche Bußverfahren,59 wird bereits in der syrischen Didaskalie


55 RdG II, 109.
56 RdG II, 112-113.
57 Cf. Cyrille Vogel, Les ‘Libri Paenitentiales’ (= Typologie des sources du moyen âge occidental, Fasc. 27, A-III 1) 1978, 39-43; ders., Le pêcheur et la pénitence au moyen-âge (1969), 25 f.
58 Cf. Peter Browe, Die Pflichtbeichte im Mittelalter, ZKTh 57 (1933), 335-383, bes. 337-341.
59 RdG II, 109; RdG I, 734-736.

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Ende des 3. Jahrhunderts kaum berücksichtigt; hier wird schon die als Richteramt verstandene Schlüsselgewalt ausschließlich dem Bischof zugeordnet.60 Auch die cyprianische Bußlehre ist mit der Schilderung der altkirchlichen Buße bei Dombois nicht in Übereinstimmung zu bringen.61 Für das 12. und 13. Jahrhundert ist schließlich hervorzuheben, daß die 1215 erfolgte Zuordnung der Buße zum ‘proprius sacerdos’ durch can. 21 des IV. Laterankonzils zunächst ein pastoraler Versuch war, die Seelsorge trotz Unzulänglichkeiten kirchlicher Organisation zu garantieren; hier kam es auch bald zu Durchbrechungen und neuen Problemen durch die Aktivität der Bettelorden in der Seelsorge.62 Aus diesem Tatbestand ergab sich für die Päpste um die Mitte des 13. Jahrhunderts die Notwendigkeit neuer Kompetenzregelungen, die aufgrund der vorherrschenden juristischen Denkformen nur in einem formalisierten rechtlichen System erfolgen konnten. Die institutionellen Formen waren eine Konsequenz des wissenschaftlichen Vorsprungs der Kanonistik vor der Theologie im 13. Jahrhundert. Dombois sieht richtig, das sich die katholische Kirche um 1200 in einer Identitätskrise durch die Ketzerbewegungen befand; aber er sucht die Krisenursachen zu sehr in den theologischen Denkformen. Die harten Notwendigkeiten für die Kirche, von denen Dombois spricht, ergaben sich aus dem umfassenden pastoralen und politischen Anspruch der Kirche und der im Vergleich dazu völlig unzureichenden Organisation. Die Benutzung der rechtlichen Begriffe wurde dadurch notwendig, daß


60 Cf. zum Bußverfahren der Didaskalie Herbert Vorgrimler, Buße und Krankensalbung, HDG IV/3 (1978), 65-66; Gustav Adolf Benrath, Art. Buße V, TRE Bd. 7 (1981), 457 f.: ‘hier — sc. in der Didaskalie — ist die Schlüsselgewalt … als Richteramt verstanden, ausschließlich dem Bischof übertragen, von der Fürsprache der Gemeinde und selbst der Märtyrer für den Sünder verlautet nichts mehr.’
61 Die Bußlehre Cyprians mit ihrer starken Betonung der ‘satisfactio‘ — cf. hierzu G.A. Benrath, (wie Fußn. 60), 55-58 — läßt sich kaum in das Bild einordnen, das Dombois in RdG I, 732-736 vom altkirchlichen Bußverfahren entwirft.
62 Cf. zu dieser Problematik Ludwig Hödl, Die sakramentale Buße und ihre kirchliche Ordnung im beginnenden mittelalterlichen Streit um die Bußvollmacht der Ordenspriester, FS 55 (1973), 330-374, und aus kanonistischer Sicht Winfried Trusen, Forum internum und gelehrtes Recht im Spätmittelalter, ZSRG.K 57 (1971), 83-126.

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nur in diesem Bereich eine problemadäquate Begriffswelt für die kirchliche Praxis zur Verfügung stand. Das zeigt sich paradigmatisch am Fall der Scheidung von forum internum und forum externum, wodurch die Buße vom normalen Strafverfahren auch begriffliche getrennt wurde.63 Man versuchte damit Kompetenzregelungen vorzunehmen, ohne daß sich daraus ohne weiteres die Notwendigkeit ergeben hätte, daß Bußsakrament materiell einem Gerichtsverfahren anzugleichen; so wird der Priester bei der Buße 1215 auch noch als medicus bezeichnet.64 Die Trennung beider fora bedeutete gerade nicht, wie es in der Deutung von Dombois erscheint, die Ineinssetzung der Qualifikation zum Richteramt und des Ordo.65 Diese in gewissem Sinne geniale Trennung hatte vielmehr zur Folge, daß die Kirche auf den einzelnen im Gewissen einwirken konnte (forum internum), ohne ihn einem totalitären Herrschaftsanspruch zu unterwerfen. Die andere Möglichkeit wäre ein rigoristischer Gottesstaat gewesen, wie er von der mittelalterlichen Kirche gerade nicht angestrebt wurde. Ich hätte daher Bedenken, Begriffe wie ‘Kulturrevolution’


63 Zu dieser Trennung die zuerst terminologisch in den Begriffen ‘forum poenitentiale’ und ‘forum iudiciale’ erfolgt, cf. Bruno Friese, Forum in der Rechtssprache (= MThS.K 17), 1963, 176-185. Nach ihm ist die terminologische Unterscheidung zuerst bei dem Theologen Wilhelm von Auvergne um 1225 faßbar. Jedoch wurde die terminologische Differenz wohl zuerst in der Kanonistik entwickelt; man findet sie in dem Glossenapparat ‘Animal est substantia’ von 1210 — cf. meine Arbeit, Die Entstehung des kanonischen Infamiebegriffs von Gratian bis zur Glossa ordinaria (= FKRG Bd. 5), 1966, 75, und die Angaben bei Antonio Mostanza, Forum internum — forum externum, REDC 23 (1967), 258.
64 IV. Laterankonzil can. 21 (ed. Giuseppe Alberigo et al., Conciliorum Oecomenicorum Decreta, 3. Aufl. 1973, 245): ‘Sacerdos autem sit discretus et cautus, ut more periti medici superinfundat vinum et oelum vulneribus sauciati, diligenter inquirens et peccatoris circumstantias et peccati, per quas prudenter intelligat, quale illi consilium debeat exhibere et cuiusmodi remedium adhibere, diversis experimentis utendo ad sanandum aegrotum.’
65 So Dombois in RdG II, 126. Für das Hochmittelalter ergab sich die Notwendigkeit begrifflicher Trennung der potestates und dann auch der fora vor allem aufgrund der richterlichen Gewalt des Archidiakons. Hierzu cf. L. Hödl, Die Geschichte der scholastischen Literatur und der Theologie der Schlüsselgewalt, 1. Teil (= BGPhMA XXXVIII/4) 1960, 318 f. zur Lehre des Petrus Cantor und auch an anderer Stelle dieses Werks. Die scholastische Theologie der Schlüsselgewalt war vielfach Reflex der organisatorischen Situation der Kirche.

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auf die Regelungen von 1215 zur Beichtpflicht und dem Prinzip des proprius sacerdos anzuwenden.66 1215 wurde ein bereits seit langem errechter Konsens über die Aufgaben der Kirche rechtlich ausformuliert — ein Vorgang ähnlich dem einer Verfassungsgebung.

Die komplizierte Problematik der Geschichte der Buße und der des Verständnis der Schlüsselgewalt kann hier selbstverständlich nicht im einzelnen entwickelt werden — sie bedarf übrigens gerade unter dem Gesichtspunkt der Geschichte des kanonischen Rechts dringend weiterer Forschung. Unter ökumenischen Aspekten könnte man zur Zeit aufgrund der vorliegenden Ergebnisse der Dogmengeschichte und der Rechtsgeschichte folgende Thesen aufstellen:

a) Es gab kein einheitliches Verständnis der Buße in der Alten Kirche und es gibt in diesem Bereich wohl auch kein eindeutiges Modell der Ostkirche — Dombois entwickelt vor allem in Band I des ‘Rechts der Gnade’ ein spekulatives Idealbild.67

b) Die unleugbaren Entwicklungen im Westen, die wesentlich durch die frühmittelalterliche Privatbuße bedingt waren, haben gemeinsame lateinische Voraussetzungen für die reformatorischen Kirchen geschaffen, deren Stellungnahme zur Buße sonst anders erfolgt wäre. Dombois sieht hier die strukturelle Gemeinsamkeit der Voraussetzungen, hinter die in den Kontroversen des Reformationszeitalters nicht zurückgegangen wurde. Dombois überschätzt dabei die Neuerungen von 1200.

c) Bei der Gewichtung der theologischen Einflüsse auf das Verständnis der Buße muß berücksichtigt werden, daß eine gerichtsförmige Deutung des Bußsakraments und der priesterlichen Absolution als des für die Sündenvergebung kausalen Urteilsspruchs erst in der


66 Zur Tradition des Prinzips proprius sacerdos bereits vor 1215 cf. Peter Anton Kirsch, Der sacerdos proprius in der abendländischen Kirche vor dem Jahre 1215, AKathKR 85 (1904), 527-537.
67 RdG I, 732-742.

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hochscholastischen Theologie besonders von Duns Scotus entwickelt wurde;68 für die Frühscholastik bis einschließlich Albertus Magnus war die ‘deklaratorische Absolutionstheorie’ charakteristisch, die auf den Gedanken Abälards aufbaute und in der ‘contritio’ (Reue) das wesentliche Moment beim Bußsakrament sah. Die Bedeutung des nicht judiziellen Verständnisses der Buße bei den Theologen im 12. und 13. Jahrhundert wurde zuerst von Karl Müller erkannt69 und durch die neuere dogmengeschichtliche Forschung trotz mancher Differenzierungen im allgemeinen bestätigt.70 Die Ergebnisse der dogmengeschichtlichen Forschung zwingen zu der Feststellung, daß sich die wesentlichen Strukturen des klassischen kanonischen Rechts schon vor dem Umschwung in der Sakramententheologie nach Mitte des 13. Jahrhunderts gebildet haben. Die systematische Begriffsbildung der Kanonistik war gerade nicht bedingt durch die spätere hochscholastische Theologie und den Satz des Duns Scotus: Potest sacramentum poenitentiae dici sacramentum iudiciale, vel iudicum sacramentale. Vielmehr war es wohl so, daß der begriffsgeschichtliche Entwicklungsvorsprung der Kanonistik offenbar die nachscholastische Theologie zur Rezeption juristischer Begriffe veranlaßte.71 Aus diesem historischen Tatbestand könnte sich der ökumenisch wichtige Gesichtspunkt ergeben, daß die Kritik der Reformation an der scholastischen Bußtheologie nicht notwendigerweise eine Verwerfung der Tradition des kanonischen Rechts zur Folge haben muß.


68 Zur Bußlehre des Duns Scotus cf. Valens Heynck, Der richterliche Charakter des Bußsakraments nach Johannes Duns Scotus, FS 47 (1965), 339-414; Notker Krautwig, Die Grundlage der Bußlehre des J. Duns Scotus, 1983, 130-147.
69 Karl Müller, Der Umschwung in der Lehre von  der Buße während des 12. Jahrhunderts, in: Theologische Abhandlungen, gewidmet C. von Weiszäcker (1892), 287-320.
70 Zur allgemeinen Entwicklung cf. den Überblick bei H. Vorgrimler, op. cit., 124-133; zur Lehre der Frühscholastik cf. Polykarp Schmoll, Die Bußlehre der Frühscholastik (= VKHSM III/5), 1909.
71 Der Einfluß der kanonistischen Begriffsbildung auf die hochscholastische Theologie wird vor allem bei L. Hödl, Die sakramentale Buße (wie Fußn. 62) herausgearbeitet.

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IX. Das Recht der Ordination

Der Wandel des Kirchenrechts wird von Dombois vor allem auch am Verständnis der Ordination entwickelt. Er betont, daß erst mit der absoluten Ordination, die sich im 12. Jahrhundert durchgesetzt habe, der Begriff einer absoluten Person als Rechtssubjekt Eingang gefunden habe, einer Person, die gewisse Fähigkeiten unverlierbar besitzt (character indelebilis) und deren Handeln gültig, wenn auch unerlaubt sein kann.72 Daß es eine Entwicklung von der relativen Ordination, die das Konzil von Chalcedon in can. 6 normativ festlegt, zur absoluten Ordination gegeben hat, kann als gesicherte Erkenntnis der Rechts- und Dogmengeschichte festgehalten werden.73 Ich glaube aber, daß Dombois bei der Darstellung der Entwicklung der Ordination sich wiederum zu sehr an Sohm (Sohm II!) orientiert. Man wird zunächst festhalten müssen, daß faktisch absolute Ordinationen schon in der Alten Kirche vorkamen74 und das Verbot von Chalcedon wohl überbewertet wird, wenn man es in der Auswirkung einem modernen gesetzlichen Verbot vergleicht. Im frühen Mittelalter hat dann offenbar das Eigenkirchenwesen zur Trennung des bischöflichen Weiheakts von der Anstellung an der laikalen Eigenkirche geführt;75 diesen Zusammenhang zwischen absoluter Ordination und Eigenkirchenwesen hat übrigens bereits Sohm richtig gesehen.76 In dieser Zeit ist außerdem die eigenständige Tradition der absoluten Ordination in der keltischen Kirche zu berücksichtigen.77 Das Ordinationsverständnis des ersten Jahrtausends war demnach keineswegs einheitlich; widersprüchliche Traditionselemente erhielten isch auch noch im 12. Jahrhundert. Das zeigt sich besonders deutlich an den unterschiedlichen Stellungnahmen zum Problem der


72 RdG I, 455.
73 Cf. Vinzenz Fuchs, Der Ordinationstitel von seiner Entstehung bis auf Innozenz III. (= KStT 4), 1930.
74 Cf. V. Fuchs, op. cit., 103-118.
75 Cf. V. Fuchs, op. cit., 178-195.
76 R. Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht, 220-227.
77 Cf. V. Fuchs, op. cit., 195-211.

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Reordination.78 Man muß berücksichtigen, daß es eine cyprianische und eine augustinische Tradition in der Lehre von der Ordination gab.79 Beide Traditionen waren gegensätzlich; die augustinische Doktrin schloß die Reordination aus und setzte sich endgültig im 12. Jahrhundert durch — ‘le XIIe siècle est augustinien’ (Congar).80 Das 12. Jahrhundert bringt in diesem Bereich im wesentlichen eine juristische Systematisierung augustinischer Ansätze; überhaupt ist das damals fixierte Kirchenrecht weitgehend auf dem Boden der lateinischen Patristik erwachsen, die erst jetzt mit ihren Rechtslehren voll zum Zuge kommt (z.B. mit der Idee des gerechten Krieges).81 Es bleibt unwahrscheinlich, daß in der Lehre der Ordination überhaupt ein altkirchlicher Konsens vorausgesetzt werden kann, demgegenüber dann das 12. Jahrhundert einen Umschwung gebracht habe; so läßt sich in der für die Ordinationslehre zentralen Frage der Reordination auch im östlichen Kirchenrecht bis zum II. Konzil von Nicäa 787 ein deutlicher Wandel erkennen.82 Auch die Frage, inwieweit die Anerkennung individueller Rechtssubjekte mit dem Ordinationsrecht zusammenhängt, müßte historisch noch in anderen Zusammenhängen diskutiert werden; im kirchlichen Prozeßrecht hängt die Betonung der Einzelperson offenbar mit dem Gedankengut der pseudo-isidorischen Fälschungen zusammen,83 die allerdings ihrerseits auch gegen die absolute Ordination Stellung bezogen.84

Bei der Überlegung systematischer Konsquenzen aus dem Befund der kirchlichen Rechtsgeschichte bleibt die Frage offen, inwieweit


78 Hierzu vor allem die Standardwerke von Louis Saltet, Les réordinations. Etude sur le sacrement de l’ordre (1907), und Alois Schebler, Die Reordination in der ‘altkatholischen’ Kirche unter besonderer Berücksichtigung der Anschauungen von Rudolph Sohm (1936).
79 Zu diesen Fragen u.a. A. Schebler, op. cit. (wie Fußn. 78), 11-24; Ludwig Ott, Das Weihesakrament (HDG IV/5), 1969, 17 und 29.
80 Yves Congar, (wie Fußn. 20), 276.
81 Hierzu u.a. das Buch von Frederick H. Russell, The Just War in the Middle Ages (1975).
82 Cf. A. Schebler, op. cit. (wie Fußn. 78), 142-145.
83 Wichtig ist bei Pseudo-Isidor das Verständnis des Rechts des einzelnen auf ein geordnetes Verfahren im Sinne eines Individualrechts, cf. neuestens Linda Fowler-Magerl, Ordo iudiciorum vel ordo iudicarius (= Ius Commune, Sonderheft 19) 1984, 13-16.
84 Cf. V. Fuchs, op. cit. (wie Fußn. 73), 184.

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Amtsbegriff und Ordination in der Kirche zusammengehören, insbesondere die Amtsstrukturen Ordinationsstufen abbilden können. Weitergehende systematische Überlegungen gehören in einen anderen Kontext. Es sei hier nur noch angemerkt, daß die im 12. Jahrhundert siegreiche augustinische Denktradition eine Brücke zur Union mit Schismatikern bedeutete und deshalb auch in der Diskussion der Ökumene des 20. Jahrhunderts positive wirken könnte.

 

X. Des Recht der Ehe

Auch bei der Behandlung des Eherechts habe ich Bedenken, ob man der historischen Konstruktion von Dombois in wesentlichen Punkten folgen kann, obwohl er auf diesem Gebiet auf eigene intensive jahrzehntelange Detailforschung an den Quellen als Mitglied der evangelischen ‘Studienkommission für Probleme des Ehe- und Familienrechts’ zurückblicken kann. Wenige kritische Bemerkungen können sicherlich der Fülle der Gesichtspunkte nicht gerecht werden, die Dombois in seinem Hauptwerk und zahlreichen Aufsätzen zum Eherecht entwickelt hat.85 Dombois sagt, daß mit dem transzendentalen Kirchenrecht des zweiten Jahrtausends sich ein neues Eheverständnis entwickeln mußte, wonach das handelnde Subjekt im Bereich dieses wie jedes anderen Sakraments frei von äußeren Bestimmungsgründen sein mußte.86 Damit sei der gesamte historisch-genealogische Zusammenhang theologisch entmächtigt worden.87

Unbestreitbar sind die Zusammenhänge zwischen theologischer Reflexion und eherechtlicher Entwicklung im 12. und 13. Jahrhundert — insofern ist Dombois sicher zu folgen. Das konsensuale Element setzt sich erst im 12. Jahrhundert im kanonischen Recht endgültig durch — in der gesellschaftlichen Realität allerdings noch


85 Eine Sammlung der Aufsätze von Dombois zur Eherecht enthält der Band Hans Dombois, Kirche und Eherecht. Studien und Abhandlungen 1953-1972, 1974.
86 RdG II, 127.
87 RdG II, 127.

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lange nicht; man denke an den Testfall des Einflusses der Kirche in der sozialgeschichtlich brisanten Frage der Unfreienehe.88 Jedoch ist das konsensuale Element im kirchlichen Eheverständnis von Anfang an und gerade auch in Opposition zum jeweiligen kulturellen Milieu vorhanden. In diesem Zusammenhang ist die Entscheidung des römischen Bischofs Calistos I. um 220 n. Chr. interessant, indem hier eine Geschlechtsverbindung zwischen einer christlichen Frau der römischen Aristokratie und einem christlichen Sklaven als moralisch unanstößig betrachtet wurde, obwohl sie nach römischem Recht nicht als Ehe anerkannt war.89 Schließlich enthält bereits die Stellungnahme des Paulus (I Kor 7, 12-17) vor allem hinsichtlich der Entscheidungsfreiheit der Frau ein konsensuales Element, wie es zu seiner Zeit in der jüdischen Tradition unbekannt war.90 Ich sehe im Eherecht des 12. Jahrhunderts keinen scharfen Bruch, sondern die Weiterentwicklung, Systematisierung und klare theologische Begründung bereits vorhandener Ansätze. Das Neue liegt darin, daß erst jetzt die Kirche effektiven Rechtsschutz für die Ehepartner gewährte und damit eine Aufgabe erfüllte, die zu dieser Zeit die weltliche Ordnung noch nicht wahrnahm.91 Das kirchliche Eheverständnis des ersten Jahrtausends war im Vergleich zum späteren kanonischen Eherecht uneinheitlich, eingeschränkt durch nicht christlich geprägte Rechtssysteme und oft theologisch nicht tief fundiert. Bei allen Schwächen des klassischen kanonischen Eherechts für die modernen Problem der Ehe ist in diesem Bereich der Rückgriff auf eine verbindliche


88 Zu diesem Problem cf. meine Arbeit, Hadrians IV. Dekretale ‘Dignum est’ (X 4.9.1) und die Eheschließung Unfreier in der Diskussion von Kanonisten und Theologen des 12. und 13. Jahrhunderts, STGra 12 (1967), 511-553; auch John Gilchrist, The Medieval Canon Law on Unfree Persons, STGra 19 (1976), bes. 289-293.
89 Cf. Jean Gaudemet, La décision de Calliste en matière de mariage, Studi in onore di U.E. Paoli (1955), 333-344; ferner Charles Munier, op. cit (wie Fußn. 21), 28-29.
90 Cf. David Daube, Biblical Landmarks in the Struggle for Women’s Rights, Juridical Review 23 (1978), 184-187.
91 Cf. zur Bedeutung der kirchlichen Ehegerichtspraxis im Mittelalter vor allem das Buch von Richard H. Helmholz, Marriage Litigation in Medieval England (1974).

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Tradition der Alten Kirche wohl noch weniger als bei anderen Themen möglich.

 

XI. Ökumenisches Kirchenrecht und historische Forschung

Die vorgetragenen kritischen Bemerkungen sollten nicht den Eindruck erwecken, daß der systematische Entwurf von Dombois für den Historiker ohne Gewicht oder als Ganzes durch historische Erkenntnis widerlegt sei. Ich möchte als Kritiker von Dombois gerade nicht das Urteil übernehmen, das seinerzeit Ulrich Stutz über Sohms Spätwerk fällte: “Es wird mit einem Gemisch von Staunen und Bewunderung hingenommen … aber von der ernsthaften Forschung der Zukunft im Ganzen und Einzelnen abgelehnt werden.”92 Auch wenn das Werk von Dombois sich nicht in strengen Sinne als Ergebnis historischer Forschungen würdigen läßt, ergeben sich aus diesem Werk mehr als bei jedem anderen systematischen Entwurf der letzten Jahrzehnte Fragen, Anregungen und Herausforderungen für den Rechtshistoriker des Kirchenrechts; vor allem auch Hinweise auf vernachlässigte Forschungsfelder. Rechtshistorische Arbeit im Kirchenrecht wird in Zukunft nicht ohne die ökumenische Perspektive auskommen können. Dabei nimmt in dem Systementwurf, den Dombois jetzt abgeschlossen vorgelegt hat, wie beim späten Sohm die Gestalt Gratians und seines Werks eine so zentrale Stelle ein, daß gerade die Gratianforschung in Zukunft von besonderer Bedeutung für das Verständnis des Wegs des Kirchenrechts werden dürfte. Dombois hat dem dritten Band seines Werks das Motto vorangestellt: ‘Via — Veritas — Vita’; ich könnte vielleicht aus der Sicht des Rechtshistorikers sagen: ‘Gratianus — Evangelium — Ökumene’.


92 In: ZSRG.K 8 (1918), 239; wieder abgedruckt im Anhang zum Neudruck des Buches von R. Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht, 678.