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7. Kapitel

Stellungnahme

 

I. Historischer Vergleich

 

Überblickt man die historische Untersuchung, so stellt sich die Doleanz deutlich als Einschnitt dar. Die Kuypersche Separation wie schon die ihr zeitlich vorgelagerte “Afscheiding” sind entstanden aus der bewussten Ablehnung eines Systems rein administrativer, territorial-staatlich-landeskirchliche orientierter Kirchenregierung, das vom Auftrag, vom Bekenntnis der Kirche so gut wie nichts wusste. Vielleicht ist das Positivste an jener neutralen Administratur, dass sie den Gemeinden volle Freiheit in der Verkündigung liess. Die landeskirchliche Organisation als Ganze war nicht in der Lage, sich auf ihren Auftrag zu besinnen und Entscheidendes zu seiner Ausführung zu tun. Sie sorgte lediglich dafür, dass “ieders recht en ieders vrijheid onverkort” blieb; das heisst aber auch die Freiheit des Liberalismus und der Abkehr vom Bekenntnis. Eine wirklich geistlich gerichtete Regierung der Kirchen in ihrer nationalen Gesamtheit gab es nicht.

Nach der Doleanz aber haben sich die Gereformeerden für ihr kirchliches Handeln und ihre Ordnung, zunächst aber auch die orthodox-hervormden Gruppen für ihre Reorganisationsbestrebungen, auf die Schrift und auf das Vorbild der frühreformatorischen Kirche in den Niederlanden berufen,1) wie es seinen Niederschlag gefunden hat in den Acten ihrer Classen und Synoden2) sowie in


1) Vgl. Kap. 2-5.
2) Gesammelt bei Reitsma en Van Veen, Acta der Provinciale en Particuliere Synoden, gehouden in de Noordelijke Nederlanden gedurende de jaren 1572-1620, 8 deelen, Groningen, 1892-1899; ferner in dem von F.L. Rutgers edierten Deel III von Serie II der “Werken der Marnix-Vereeniging” und in Kist en Royaards, Archief voor Nederlandsche Kerkgeschiedenis. Vgl. ferner die kirchengeschichtlichen Darstellungen von Ypey en Dermout, Brandt, Reitsma.

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den Werken ihrer grossen Theologen, an denen die niederländische reformierte Kirche besonders um die Wende des 16. zum 17. Jahrhundert wahrlich reich gewesen ist.1)

Es wird also zweckmässig sein, bevor wir zu einigen grundsätzlichen Erwägungen kommen, uns zunächst die Hauptlinien der frühen niederländischen Ordnung und die für sie maßgebenden Einflüsse vor Augen zu stellen, um beurteilen zu können, wie weit sich die streitenden Parteien tatsächlich mit ihnen in Übereinstimmung befanden. Denn angesichts des anhaltenden Streites um die Interpretation der geschichtlichen Fakten muss entweder jeweils eine der Parteien einer falschen Interpretation erlegen sein, oder aber es muss von vornherein ein gewisser Zwiespalt im Kirchenbegriff der niederländischen reformierten Kirchen angelegt sein.

In der Tat dürfte Letzteres zutreffen, jener Zwiespalt also vorhanden sein. Man braucht nur zu bedenken, dass an der Wiege der eigentümlich niederländischen Ordnung zwei so verschiedene Elemente gestanden haben wie das Kirchenordnungsschema der französischen Hugenottenkirche und der Gemeindebegriff Johannes a Lascos. Die niederländischen Kirchen haben sich in Form und Ordnung im wesentlichen dem französischen Vorbild angeschlossen, wenn auch mit einigen Modifizierungen im Sinne einer Dezentralisierung des Kirchenregimentes. Innerhalb dieses Ordnungsrahmens aber ist der Geist a Lascos stets mehr oder weniger lebendig geblieben, bis er — wie wir sahen — bei A. Kuyper und vielleicht mehr noch bei seinen Erben sich zu neuer Blüte entfaltete.


1) Vgl. dazu z.B. W. Goeters, Die Vorbereitung des Pietismus . . . Unter ihnen wäre vor allem Voetius zu erwähnen; auf eine eingehendere Behandlung seiner Vorstellungen musste jedoch wegen des Umfanges, den eine solche angesichts der Auseinandersetzungen um dieselben erforderte, hier verzichtet werden.

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Von Hoffmann hat in seiner Untersuchung über das Kirchenverfassungsrecht der niederländischen Reformierten gezeigt, wie die französische Discipline von 1559 bzw. deren spätere revidierte Formen zunächst für die Synoden der südniederländischen Kirchen und später auch für die Emdener Synode von 1571 das Vorbild der kirchlichen Ordnung abgaben.1) Jene Discipline atmet in der Gemeindeordnung streng Calvinischen Geist.2) Sie ist eine Presbyterialordnung mit einer sehr starken Stellung des Consistoire als vom Herrn gesetzter Regierung der Gemeinde; in dieser Stellung des Presbyteriums hat auch das in Frankreich vornehmlich geübte Kooptationswahlverfahren seinen Grund.

Man wird nun zu bedenken haben, dass Calvins Denken und Trachten sich stets auf die Ortsgemeinde als der für ihn ausschliesslichen konkreten Offenbarung der alle Zeiten und Grenzen überspannenden Allgemeinen Kirche, des Coetus aller Gläubigen und Erwählten, richtete.3) Dem Genfer Reformator war die Vorstellung einer Landeskirche


1) Vgl. Von Hoffmann, Kirchenverfassungsrecht, S. 29 ff., 37, 51. Die Discipline bei Aymon, Tous les Synodes nationaux . . . I, S. 1 ff. Niesel, a.a.O., S. 75 ff. bietet den Text nach Beza, Histoire Ecclésiastique . . . von 1580, wohl des ersten Entwurfs. Vgl. hierzu auch Rieker, Grundsätze, S. 11 f.
2) Als Dokument urtümlich Calvinischer Ordnung dürfen die Genfer “Ordonnances ecclésiastiques” von 1541 bzw. 1561 gelten. (In der Fassung von 1561 bei Niesel, Bekenntnisschriften, S. 43 ff.) Siehe dazu auch C.A. Cornelius, Die Gründung der calvinischen Kirchenverfassung in Genf 1541. — Mindestens ebenso charakteristisch wenn nicht noch typischer ist die französische Discipline ecclésiastique von 1559 (bei Niesel, a.a.O., S. 75 ff.).
3) Vgl. Institutio IV,1,9. Die umfänglichste und erschöpfendste Arbeit darüber ist immer noch J. Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche, S. 267-580. Eine neuere Arbeit wurde in Holland von P.J. Richel vorgelegt (Het kerkbegrip van Calvijn); für die Genesis von Calvins Kirchenbegriff siehe den Aufsatz von Th. Werdermann, Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.

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oder eines festen Synodalverbandes fremd.1) Denn für ihn war die Einheit der Kirche keine organisatorische Frage, sondern lediglich eine solche des gemeinsamen Glaubens; die Einheit der Kirche fand ihren Ausdruck im Festhalten aller Ortsgemeinden an den “Fundamentalartikeln”, praktisch am apostolischen und den anderen altkirchlichen Bekenntnissen.2) Um diese Einheit in der Lehre und Verkündigung aufrecht zu erhalten, konnten und mussten natürlich zur Beilegung von Streitfragen Vertreter verschiedener Kirchen zusammenkommen, und zwar in der Regel vornehmlich die “pastores rite ordinati”.3) Wenn Calvin von Synoden spricht, so versteht er darunter im Anschluss an Acta 15 und die frühchristlichen sogenannten Besuchssynoden gelegentliche Zusammenkünfte von schriftkundigen und frommen Männern, insbesondere Amtsträgern der Kirchen, zur Klärung bestimmter Lehrfragen.4) Diese Synoden üben Dienst am Wort, und ihre Beschlüsse sollen Auslegung der Schrift sein. Insofern stellen sie Praejudizien dar.5) Die


1) Obgleich Calvins maßgebender Einfluss auf die Formulierung der Confession de Foy feststeht, ist er an der Entstehung der Discipline Ecclésiastique von 1559 offenbar nicht direkt beteiligt (beide bei Niesel, a.a.O., S. 66 ff.). — Vgl. RE3, 6. Bd., S. 232 und neuerdings vor allem R. Nürnberger, Die Politisierung des französischen Protestantismus, 1948.
2) Es geht immer darum, den “consensum verae doctrinae” zu erreichen (Comm. in Acta, zu Kap. 15, 22); der auch Institutio IV,1,12 angedeutete Begriff der Fundamentalartikel ist am meisten expliziert in der Schrift gegen Westphal, CR, Opera IX, S. 4 ff.; vgl. auch den Brief an Farel, CR, Opera Xb, S. 273 ff.
3) Comm. in Acta, zu Kap. XV, Vers 2, 6, 7, 22 und besonders 30. — Institutio IV,9,13 plädiert C. für eine Synode “verorum episcoporum”. Beide Äusserungen deuten auf die Amtsträgerversammlungen.
4) Vgl. Institutio IV,9, besonders Sect. 13; Comm. in Acta . . . (CR, Opera XLVIII) zu Kap. 15, Vers 2 und 6 (S. 340, 343) ist ihre Aufgabe definiert “ut graves et in Dei verbo rite exercitati homines controversia dirimerent” . . . “quae aliter componi nequit”.
5) Vgl. Institutio IV,9,8. Dort heisst es: “concilii definitio . . . sitque instar praeiudicii”. Institutio IV,9,2 weist C. darauf hin, dass die auctoritas der Konzilien keine andere sei als die jeder Ortsgemeinde, nämlich die Verheissung von Mt. 18, 20. — Vgl. ferner Comm. in Acta, S. 364 (zu Acta 15, 29 f.).

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Legitimität ihrer Beschlüsse, d.h. die Übereinstimmung ihres Zeugnisses mit der Schrift, nicht die Legalität der Versammlung und der Abordnung ist für Calvin von entscheidendem Gewicht, und diese Frage haben die Gemeinden zu prüfen.1) Nur in zweiter Linie konnten — nach der Vorstellung Calvins — die Synoden dann auch die Gemeinden in Fragen der Ordnung und Disziplin beraten; im übrigen regelten die Ortsgemeinden diese durchaus selbständig.2)

Aber die Genfer Kirche lebte in einem Stadtstaat, die französischen Kirche in einem räumlich weitaus grösseren Königreich. Und weil der politische Lebensbezirk, in dem sie existiert, immer von einem gewissen Einfluss auf die äussere Aufgabe und Gestaltung der Kirche ist, so glaubten die französischen Kirchen sich nicht mit der örtlichen Ordnung begnügen zu können und erstrebten eine gemeinsame Form für das Gebiet des gesamten Königreichs. Sie mögen in diesem festen Zusammenschluss noch bestärkt worden sein durch die gemeinsame Bedrohung ihrer Existenz durch die Obrigkeit. So beschlossen sie auf ihrer ersten Generalsynode 1559 eine Kirchenordnung, in welcher der Nationalen Synode eine sehr kräftige und zentrale Stellung zufiel, die sie etwa zum Presbyterium der Gesamtkirche stempelte. Sie regierte die Kirche nach aristokratischem Prinzip, und es ist hervorzuheben, dass sie zunächst als Versammlung aller Amtsträger aus


1) Institutio IV,9, Sect. 9 sind gegenübergestellt (von den Konzilien): “non esse legitimum” — “non esse orthodoxa illius decreta”. Vgl. weiter Institutio IV,9,8; zum Recht der Gemeinde vgl. Comm. in Acta, zu Vers 30. Institutio IV,9 weist C. darauf hin, dass die Wahrheit nicht stets “in sinu pastorum” zu sein brauche (Sect. 4) und nicht mit einem falschen Konzilsbeschluss untergehe (Sect. 13). Vgl. zur Frage des Vertretungs- (Abordnungs-)gedankens bes. Bohatec, a.a.O., S. 561 ff. und seine Auseinandersetzung mit Sohm im Hauptstück “Kirche und Recht” (a.a.O., S. 563 ff.).
2) Vgl. hierzu auch Lechler, Synodalverfassung, S. 37 f.

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allen Consistorien verstanden wurde; erst später wurde die Zahl — besonders der Ältesten — durch eine Repräsentativsystem begrenzt, dadurch die Stellung der Synode aber eher verstärkt als geschwächt.1) Die reformierte Synode ist also aus den Erfordernissen der Praxis einer kämpfenden Kirche entstanden und basiert auf der Voraussetzung, dass die Kirchen eines Landes in besonderer Weise zur Pflege der kirchlichen Gemeinschaft berufen sind, und dass diese so gegebene Gemeinschaft genau in Analogie zu der Presbyterialverfassung der Ortsgemeinden zu regieren sei.2)

Wir sahen, dass sich vor allem Lonkhuyzen und Greijdanus gegen die Übertragung des französischen Schemas wandten. Und tatsächlich muss festgestellt werden, dass jener in Frankreich erkennbare Zug zur Zentralisierung — ob er nun mit der politischen Struktur des Königreiches zusammenhängt oder nicht — sich in den Niederlanden niemals in diesem Maße durchgesetzt hat. Dort sind es vielmehr — wie sogleich noch zu zeigen ist — die Classen, die kleinsten synodalen Instanzen gewesen, welche den Schwerpunkt des gesamtkirchlichen Lebens bildeten.3) Die niederländische Form entspricht genau der französischen, aber die Gewichte sind ein wenig


1) Vgl. zur Geschichte der französischen Synodalordnung Lechler, a.a.O., S. 66 ff. Über Genf hinaus entstand hier notwendig zum ersten Male eine — aristokratisch geordnete — ganz eigenständige, von Obrigkeitsfürsorge und -einfluss unabhängige Kircheneinrichtung. Morellis Vorschlag demokratischer Wahlen wurde 1562 wegen “Zersplitterungs- und Auflösungstendenzen” abgelehnt. Vgl. Lechler, a.a.O., besonders S. 74, 78.
2) Es ist nicht ausgeschlossen, ja sogar wahrscheinlich, dass für diese Art einer festen distriktweisen Regierung der Kirche die Franzosen sich in einigen technischen — allerdings auch nur in technischen — Zügen an das vorhandene und erprobte Vorbild der Diözesansynoden des Canonischen Rechtes anlehnten, wenngleich sie ihren Synoden einen viel weiteren Auftrag und viel weitgehendere Vollmachten gaben. Vgl. dazu jetzt Codex Iuris Canonici, Can. 222-229 und 356-362.
3) Über die Bedeutung der Classis im Leben der niederländischen Kirchen vgl. besonders H.G. Kleyn, Algemeene Kerk en Plaatselijke Gemeente, S. 58 ff.

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anders verteilt: die niederländische Kirche war dezentralisierter.

Sagten wir, dass innerhalb dieser Form ideell der Einfluss a Lascos gross war, so gilt dies vor allem für seinen anthropologisch-genossenschaftlichen Kirchenbegriff.1) Sowohl bei Calvin als auch in den französischen Kirchen finden wir einen Kirchenbegriff, der die Gesetztheit, Vorgegebenheit der Kirche und ihrer Regierung gegenüber den Gliedern betont; übrigens, wie die Geschichte ausweist, wohl nicht zum Schaden der Aktivität der Gemeinden. a Lasco hingegen kommt es vor allem auf die congregatio, auf die einzelnen Gläubigen und ihren freiwilligen Zusammenschluss an. Erst durch eine ausdrückliche Willenserklärung und Unterwerfung unter die geltenden strengen Zuchtregeln wurde man Glied der Gemeinde.2) In den Lascoschen Flüchtlingsgemeinden konnte man noch viel weniger als in den reformierten Kirchen im römischen Gebiet die Gemeindezugehörigkeit einfach auf Geburt aus christlichen Eltern und Empfang der Taufe gründen.

Aus den kongregationalistischen Gedankengängen a Lascos aber entwickelte Abraham Kuyper — wir sahen dies weiter vorne im 2. Kapitel —, so sehr er sich um eine Kombination derselben mit den Grundsätzen Calvins bemühte, das Konföderationsprinzip des “kerkverbandes”, in dem dessen Bestand vom Willen und der jeweiligen Zustimmung der Gemeinden abhängt. Und aus diesem Prinzip heraus, das also nichts anderes ist als die Entfaltung


1) Vgl. Von Hoffmann, a.a.O., S. 85 f. Siehe auch Lechler, a.a.O., s. 56 ff. Über a Lasco: H. Dalton, Johannes a Lasco, 1881. Eine Ausgabe der Werke a Lascos besorgte A. Kuyper 1866. Vgl. auch die schon erwähnte Dissertation Kuypers.
2) Vgl. Von Hoffmann, a.a.O., S. 69 ff. Aus dem Geiste a Lascos entstanden die Kirchenordnungen der Londoner Fremdengemeinden von 1550 (bei Richter, II, S. 99 ff.) und die KO der Frankfurter Wallonengemeinde (bei Richter, I, S. 149 ff.).

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und Weiterführung des Gemeindebegriffes a Lascos, gelangten Rutgers und die nächste Generation dann zu der These, jeder Synodalbeschluss bedürfe zu seinem Inkrafttreten der Ratifizierung durch die Presbyterien.

In den ersten Ordnungen der niederländischen Kirchen aber ist dieser Geist — wenn auch zweifellos vorhanden — doch nie der beherrschende gewesen. Immer war er kompensiert durch ein starkes Bewusstsein von der unverbrüchlichen Einheit der Kirche.1)

Der ursprüngliche Geist und Kirchenbegriff der niederländischen Kirchen tritt am deutlichsten und ungetrübtesten in den Beschlüssen des Weseler Konventes von 1568 und der ersten Synode zu Emden im Jahre 1571 zutage.2) In Wesel hatte eine Predigerversammlung zunächst die Grundlinien der Ordnung bestimmt; die Emdener Beschlüsse ziehen diese Linien aus und ergänzen sie so weit, dass wir in ihnen das Urbild der eigentümlich


1) Vgl. dazu Schokking, De leertucht in de Gereformeerde Kerken . . ., S. 32; ferner H.G. Kleyn, Algemeene Kerk . . ., S. 11 ff., 25 ff. und 59 ff.
2) Es ist nicht ratsam, die Situation des 17. Jahrhunderts, also der Zeit der Republik, zum Vergleich heranzuziehen. Denn in dieser Periode engster, aus dem religiös-politischen Freiheitskampf gegen Spanien erwachsener Verquickung von politischen und echt kirchlichen Interessen und Handlungsmotiven bis in die Synoden hinein sind die Ansätze des ursprünglichen niederländischen Kirchenbegriffes bereits nicht mehr deutlich zu erkennen. Diese Zeit kannte übrigens auch nur Provinzial-Kirchen und Provinzial-Kirchenordnungen; der Grund dafür ist in der überragenden Stellung der Provinzial-Staten zu suchen. Seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts hat die Generalsynode nur noch einmal (1618) sich versammelt, und die von ihr beschlossene Kirchenordnung erlangte auch nur in zwei Provinzen — selbst dort mit Änderungen zugunsten des Obrigkeitseinflusses — Gültigkeit. Faktisch haben weithin die Provinzialstaten, nicht selten unter Verhinderung der Versammlung der Provinzialsynoden, die Ordnung der Kirche bestimmt und festgesetzt. Jene Provinzial-Kirchenordnungen sind gesammelt bei Hooyer, Oude Kerkenordeningen, und lassen im allgemeinen die Grundzüge der Emdener KO erkennen. Zu diesem Zeitabschnitt vgl. im übrigen Von Hoffmann, a.a.O., S. 144 ff.; Lechler, a.a.O., S. 131 ff.; Schokking, De Leertucht, S. 84.

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niederländischen Ordnung vor uns haben.1) Dabei hat man sich von Anfang an gegen independentische Ideen abgesetzt. Die Gemeinden sollten nicht mehr, wie in den Anfängen der niederländischen Reformation, auf sich gestellt sein, sondern in Lehre und Ordnung die Gemeinschaft mit ihren Nachbargemeinden leben. Sie wurden darum nach der Weseler Richtlinie von der Emdener Synode in Quartiere und Classen eingeteilt und sollten auf deren regelmässigen Versammlungen in kurzen Abständen ihre gemeinsamen Angelegenheiten behandeln.2) Dazu rechnete man auch die Berufung der Prediger, die zwar durch die Presbyterien vorgenommen wurde, jedoch im Zusammenwirken mit der Classis. Die classicale Versammlung übte auch Aufsicht über die Gemeinden und das Disziplinarrecht über die Amtsträger, besonders wiederum die Prediger.3)

Den Kirchen hat offenbar sehr viel daran gelegen, dass die Verkündigung Zentrum ihres Lebens sei, und dass von ihrer rechten — sachlichen und personellen — Ausrichtung Leben und Wachstum der Einzelgemeinden wie die Einheit der Gesamtkirche abhänge. Darum ist die Entscheidung über Lehre und Verkündigung immer gemeinsame Sache.

Die Classis ist ohne allen Zweifel und trotz des Gewichtes, das man den Generalsynoden beimaß, Schwerpunkt des gemeinsamen Lebens der Kirche, wichtigste


1) Die Weseler Beschlüsse bei Richter, Kirchenordnungen II, S. 310 ff.; die Beschlüsse der Emdener Synode ebenda, S. 339 ff. Beide auch bei Jacobson, Urkundensammlung, S. 45 ff. bzw. 50 ff. und bei Rutgers, Werken der Marnix-Vereeniging, II, 3.
2) “singulae Provinciae in certas classes seu paroecias distribuantur”. Das Gebiet bestimmt die kirchliche Gruppierung. Vgl. auch Kleyn, a.a.O., S. 60. Bei Richter, S. 310 heisst es: “Et illis porro institutis ad unum omnium consensum, tum in doctrinam tum in ceremoniarum ac disciplinae ratione, quo ad eius fieri potest, ineundem, retinendumque, omnino expedire, frequentes vicinarum ecclesiarum conventus institui, ad quos de singulis rebus referatur”.
3) Vgl. dazu Richter, S. 313, 317 (Wesel) und aus der Emdener KO besonders Artt. 13, 33, 38.

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kirchliche Handlungseinheit.1) Sie prüft die Prediger, wirkt bei ihrer Berufung mit und übt Aufsicht und Zucht über sie. Sie errichtet neue Gemeinden und kann zerstreute zusammenlegen. Sie beschickt im Namen der Gemeinden die Synode. Sie kann auch in die Angelegenheiten einer Ortsgemeinde eingreifen, wenn deren Presbyterium zu keiner Entscheidung kommt.2)

Nun ist es sicher richtig, dass die niederländischen Kirchen ihre Synoden nicht wie die französischen als Konsistorien der Gesamtkirche verstanden haben, sondern überwiegend als Organ der einzelnen Presbyterien mit einer von diesen delegierten Vollmacht.3) Damit hängt die grosse Bedeutung zusammen, die man den “credentiebrieven” und “instructiën” der Abgeordneten beimaß. In diese Richtung weit auch die Tatsache, dass die Synoden in aller Regel nur ihnen von den Gemeinden übertragene und von diesen vorher beratene Gravamina in Fragen der Lehre oder Berufungsfälle in Zuchtsachen behandelten.4) Von hier aus betrachtet erscheinen die Synoden also als Arbeitsgemeinschaften in Lehrfragen und Berufungsinstanz, Appellationshof in Lebens- und Zuchtfragen, die eine einzelne Gemeinde nicht oder nicht befriedigend zu lösen vermocht hatte.


1) Besonders Kleyn hat in seinem schon zitierten Buch die Bedeutung der Classis hervorgehoben: “De classicale samenkomsten zijn dan ook de voor den welstand onzer kerken belangrijkste vergaderingen” (a.a.O., S. 70).
2) Vgl. dazu Emdener KO, Art. 13, 40, 42, 65, 67, 83, 84.
3) Dass den Presbyterien (kerkeraden) kraft ihrer Notwendigkeit für die Existenz der Gemeinde und kraft des ius divinum dieser Einrichtung ein — erst allmählich eingeschränkter — absoluter Vorrang hinsichtlich der Kirchengewalt zukam, hat Von Hoffmann gezeigt (a.a.O., S. 84 f., 88 f., 91, 93 ff.).
4) Vgl. Von Hoffmann, a.a.O., S. 159.

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Für das schon erwähnte Einheitsbewusstsein und den von ihm her durchaus eigenständigen Charakter der Synoden spricht jedoch andererseits, dass diese eine allzu sehr ins einzelne gehende Instruktion der Abgeordneten durch die Gemeinden ablehnten, welche eine echte Beratung unmöglich machte, und stattdessen eine generelle Vollmacht ohne Auflagen und Vorbehalte forderten zu den Verhandlungen, denen durch Schrift, Bekenntnis und KO deutlich Richtung und Grenze gesetzt sei.1)

Um bei grösstmöglicher Einheit doch das Schwergewicht bei den Gemeinden zu behalten, hat man die Kompetenz der Synode, und zwar proportional zu ihrer Grösse, begrenzt; nur wirklich alle Gemeinden gleichermaßen betreffende Fragen der Lehre und in den kleineren Gremien nicht zu lösende Zucht- und Ordnungsangelegenheiten wurden den Synoden übertragen.2) So konnten wirklich die Akten der Generalsynode sehr dünn sein und waren ihre Beschlüsse ohne grosse Mühe den Kirchen zu übermitteln; ein Faktum, dessen man sich angesichts des Umfanges heutiger Synodalakten — gerade auch in den Niederlanden! — nur mit Neid erinnern kann.

Da keine Synode Unfehlbarkeit für sich geltend machen konnte, stand den Gemeinden selbstverständlich die Überprüfung der Synodalbeschlüsse frei: Man gehorchte nicht eigentlich der menschlichen Stimme der Synode, sondern dem sich in ihrem Wort ausdrückenden Zeugnis des Geistes, das sich vor der Schrift legitimieren musste. Wenn so auch ein letztes Recht zum Einspruch und im äussersten Falle zur Verweigerung des Gehorsams gewahrt blieb, so war doch die Ablehnung von Synodalbeschlüsse eine hohe Seltenheit. Die Synode fällte mit ihrem Beschluss ein temporal sofort gültiges und auch grundsätzlich jeder Meinung einzelner vorgeordnetes Praejudiz, das “keine Classis und kein Kirchenrat sich in


1) Vgl. Von Hoffmann, a.a.O., S. 158 f.; Schokking, a.a.O., S. 60.
2) Vgl. D.K.O. von 1619, Art. 30b.

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irgendeiner Weise erlauben sollte zu annullieren oder zu brechen”, es sei denn, dass er die Schrift oder die allgemeine Kirchenordnung für sich habe.1) Auch das Moment der Stimmenmehrheit fiel kaum ins Gewicht, da die Gewohnheit bestand, wo es nicht gerade um fundamentale Fragen der Wahrheit ging, nach den Gewicht der Voten einmütig zu beschliessen. Die Synoden dienten “om tot overeenstemming in het rechte gevoelen te geraken, niet om elkander te overstemmen”, wie Schokking schreibt.2)

So kann man das Verhältnis von Synode und Gemeinde in diesem Zeitraum mit Schokking als eine “eigenartige Wechselwirkung” bezeichnen. “De breedere vergadering beval niet op bisschoppelijke wijze, de mindere was niet autoritair naar independentischen trant. Immers, al oordeelde zij zelfstandig over een besluit van een hooger college, de zaak waarover het ging, werd doch niet door haar alleen beslist . . .”.3) Alle “grösseren” oder “höheren” Organe bestanden nur, um die Arbeit der kleineren, der eigentlichen Träger des kirchlichen Lebens zu unterstützen und zu fördern, niemals aber eigentlich als eine Art zentralen Kirchenregimentes. Die Besorgnis vor dem Aufkommen einer neuen Hierarchie hat die Einrichtung eines solchen trotz gelegentlich vorhandener Ansätze bis auf diesen Tag verhindert.4)

Zweierlei ist im Rahmen unseres Problems für diese frühe niederländische Ordnung typisch: 1. Die Einzelgemeinden sind der entscheidende Faktor im kirchlichen Leben, weil durch sie und in ihnen die Verkündigung geschieht und das gemeinsame Leben der Gläubigen gepflegt wird. 2. Aber die Einzelgemeinden sind nicht autonom,


1) Vgl. Schokking, a.a.O., S. 65.
2) A.a.O., S. 80.
3) A.a.O., S. 67.
4) So gross war diese Besorgnis, dass man selbst bei der Einsetzung von Visitatoren Widerstände zu überwinden hatte. Vgl. Von Hoffmann, S. 147 ff.; Kleyn, a.a.O., S. 83 ff., S. 70. Ferner Rieker, Grundsätze, S. 119 ff. in einem Gesamtüberblick.

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sondern sie leben in der Gemeinschaft mit den anderen Kirchen und bilden mit ihnen Handlungseinheiten innerhalb eines bestimmten territorialen Rahmens, die durch “vergaderingen” repräsentiert und geleitet werden.

Dabei hat die Synode nicht erst auf die ausdrückliche Erklärung aller einzelnen Gemeinden gewartet, sondern von Anfang an alle niederländischen Gemeinden als ihrem Verbande zugehörig betrachtet; und umgekehrt war die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft wohl kaum einer Gemeinde ein Problem: sie bestand faktisch und fand hier nur ihren Ausdruck.1) Dazu kommt, dass viele Gemeinden zur Zeit der Emdener Synode noch gar nicht bestanden und erst später vom Verbande her begründet wurden, also in ihm bzw. aus ihn heraus wuchsen. Zwar wurden Änderungen in der KO auch hernach den Gemeinden zur Begutachtung und Einverständniserklärung vorgelegt, aber von einer grundsätzlichen Ratifizierung aller Beschlüsse kann keine Rede sein.2)

Wenn also in der Doleanz Kuyper und Rutgers und hernach Männer wie Lonkhuyzen und Schilder immer wieder dem konföderativen Charakter des “kerkverbandes” die höchste Bedeutung beimaßen, so müssen wir angesichts der ersten Ansätze der niederländischen Kirchenordnung nunmehr feststellen, dass sie damit zumindest nicht die ganze Linie der Historie aufgenommen haben. Die These vom ausschliesslichen Zustandekommen des Synodalverbandes durch Zusammenschluss ist in der Absolutheit, in der die Doleanz sie vertrat, sicher als unrichtig zu betrachten.


1) Schokking stellt fest, dass bei aller Beweglichkeit und Freiheit in der Gebietseinteilung und Verfahrensregelung “nochtans geen enkele kerk afwezig of afgezonderd bleef”, und dass “de vooronderstelling van Rutgers en Lohman, alsof de toetreding tot de classis geheel vrijwillig was, geheel niet opgaat” (a.a.O., S. 31; vgl. auch S. 29). Vgl. Kleyn, a.a.O., S. 38 f., 60, 98.
2) Vgl. dazu Schokking, a.a.O., S. 64 ff.; Kleyn, a.a.O., S. 105 ff.

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II. Grundsätzliche Erwägungen

 

Die Auseinandersetzung um die Synodalautorität bewegte sich, wie wir sahen, in dem von uns behandelten Zeitabschnitt und damit also hauptsächlich innerhalb der Gereformeerden Kerken, im wesentlichen um folgende Fragen:

1. Die nach dem Charakter der Synode. Als feste Institution der Kirchenregierung kann sie entweder als Presbyterium der Gesamtgemeinde in einem bestimmten Gebiet betrachtet werden oder aber als Organ der — in einem festen geistlich-bekenntnismässigen, jedoch relativ losen organisatorisch-rechtlichen Verbande stehenden — Presbyterien der Ortsgemeinden. Muss sie als Presbyterium der Gesamtgemeinde gelten, so eignet ihr folglich ein gewisses Eigenrecht und kommt dem Amt das Schwergewicht gegenüber der Abordnung durch die Gemeinden zu. — Ist sie jedoch umgekehrt Organ der Presbyterien, so entfällt jedes Eigenrecht der Synode als solcher, kommt alles auf die rechtmässige Abordnung an.

2. Dementsprechend wird die Frage nach dem Ursprung der synodalen Befugnisse in zwei Richtungen beantwortet: a) Die Synode entlehnt ihr “gezag” einem ius divinum, das aus Acta 15 abgeleitet wird; ist also nicht von den Gemeinden darin abhängig (“het goddelijk recht der synoden”); b) Die potestas synodi entsteht durch eine Kumulation der bei den Presbyterien (bzw. Gemeinden) origine liegende potestas zum Beschluss in ihr vorgelegten Fragen.

3. Ist die Vollmacht der Synode an ein bestimmtes Agendum gebunden oder nicht?

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4. Damit hängt die Frage der Gültigkeit synodaler Beschlüsse zusammen: Entweder sieht man die Gemeinden als von der Synode regierte unio, sodass für die Gesamtheit der Kirchen ihre Beschlüsse unmittelbar gelten, oder als blosse Konföderation, der die Gemeinden völlig frei gegenüberstehen, sodass Synodalbeschlüsse erst durch Ratifizierung gültig und verbindlich werden.

5. Besitzt die Synode eine personelle Disziplinarbefugnis über die censura morum im Rahmen ihrer Versammlung hinaus, d.h. also: kann sie Prediger, Älteste und Diakonen suspendieren oder absetzten aus eigener Kraft, und nahmen die Prediger ggf. eine Sonderstellung ein?

6. Und endlich: Fordert der Beschluss der Synode in jedem Falle unbedingten Gehorsam der Gemeinden und aller Glieder (wenn auch mit Einräumung einer Berufung), oder gibt es vom individuellen Gewissen her ein verfassungsmässig garantiertes Recht zur Gehorsamsverweigerung?

Die entscheidenden Schlüsselpunkte für das Problem der Synodalautorität wird man also offenbar in der Klärung des Begriffes Ekklesia, genauer gesagt: im Problem der Einheit der Kirche und in einer Besinnung auf das Wesen der potestas ecclesiastica zu sehen haben, wobei man die Frage nach der sachlichen Adäquatheit dieses doch mit bestimmten Vorstellungen und Inhalten gefüllten Begriffes für die Kirche notwendigerweise wird aufzuwerfen haben.

Ein allgemein, also über den niederländischen Rahmen hinaus gültiges Kriterium zur Beurteilung der verschiedenen Synodal- und Gemeindetheorien wird man nun natürlich erst gewinnen können, wenn man über den historischen Vergleich hinausgehend sich der Betrachtung des Schriftbefundes zuwendet. Sollte dies also geschehen, so müssten wir zunächst die ekklesiologischen

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Aussagen des NT einer eingehenden Prüfung unterziehen. Allein schon die Umreissung und blosse Andeutung dieser Aufgabe aber wird es verständlich machen, dass wir uns angesichts der Fülle des über den Kirchenbegriff des NT bereits vorliegenden Materials, dessen Zusammenstellung fast allein schon eine besondere Arbeit bedeuten würde, an dieser Stelle auf wenige Hinweise beschränken müssen.

Seit Karl Holl, J. Weiss und F. Kattenbusch ist in unserem Jahrhundert an der Klärung des neutestamentlichen Kirchenbegriffes und der Gestalt und Ordnung der ur- und frühchristlichen Kirche bereits von vielen Theologen und Kirchenrechtlern gearbeitet worden.1) Dabei hat man immer wieder auch die Frage nach der Gestaltung kirchlicher Ordnung heute im Gehorsam gegen die Schrift gestellt, noch unlängst O. Michel, E. Schweizer und neuerdings — von juristischer Seite — W. Hildebrandt. Auch die niederländische Theologie hat sich natürlich mit diesen Problemen beschäftigt.3)

Alle diese Arbeiten haben, wie immer auch im einzelnen akzentuiert und modifiziert, übereinstimmend gezeigt, dass das Neue Testament die Gemeinschaft der Christo Zugehörigen sehr wohl auch als eine überörtliche Einheit sieht, dass diese Einheit jedoch keine organisierte ist, sondern zusammengehalten wird vom Band des einen Wortes, der gleichen Verkündigung, des einen selben Heiligen Geistes, während sie gleichzeitig in der ersten


1) Die wichtigste Literatur bis 1941 bei O. Michel, Das Zeugnis des Neuen Testaments von der Gemeinde, S. 5.
2) O. Michel, Das Zeugnis des Neuen Testaments von der Gemeinde, 1941; E. Schweizer, Das Leben des Herrn in der Gemeinde und ihren Diensten, 1946; ders., Gemeinde nach dem Neuen Testament, 1949. W. Hildebrandt, Das Gemeindeprinzip der christlichen Kirche, 1951.
3) Genannt seien: P.A.E. Sillevis Smitt, De organisatie van de christelijke kerk in den apostolischen tijd, 1910; D. Jacobs, Plaatselijke en algemeene kerk in de eerste drie eeuwen, 1927; und besonders neuerdings A.J. Bronkhorst, Schrift en Kerkorde, 1947.

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Zeit eine Art leitender, — und zwar eben durch die aktualisierte Verkündigung des Wortes leitender — “Spitze” gehabt hat in dem Kreis der Apostel; dass aber — und dies scheint das wichtigste Ergebnis — der Kirchenbegriff des Neuen Testaments und der frühen Kirche stets bezogen war auf die örtliche Versammlung der Heiligen, welche die vollen Attribute des Leibes Christi besass, und in welcher dann auch die “Regierung” der Kirche, soweit von einer solchen die Rede sein kann, geübt und das “Recht” der Kirche zur Anwendung gebracht wurde. Es gibt die Eine Heilige Kirche, durch den Geist und das Wort versammelt — nicht also sich selbst versammelnd! —, deren Kirche-Sein in keiner Weise in der Qualität ihrer Glieder oder der Dignität ihrer Amtsträger, sondern eben in der Gegenwart des Christus praesens in ihr begründet ist,1) und diese Eine Heilige Kirche wird für jedes Glied des Leibes konkret in der jeweiligen örtlichen Versammlung, — und nur in ihr.2) Es sei bemerkt, dass diese Ergebnisse ziemlich genau mit Calvins Auslegung übereinstimmen.

Die Kirche ist eine, weil ihr Herr einer, das Haupt eines ist; aber ihre Konkretisierung, ihre Erscheinung in diesem Äon ist nicht eine Welt- oder Landes- oder Provinzkirche, sondern ist die Ortsgemeinde.3) Jene Zweischichtigkeit ist dem Begriff nicht zu nehmen; darum kann ihn auch Paulus und die Apostelgeschichte völlig unbefangen und jeweils ohne Abstriche auf die örtlichen Versammlungen in Korinth oder Antiochien und auf die Schar der Gläubigen, verstreut über Judäa, Samarien und Galiläa oder in Galatien anwenden. Darum weiss die Apokalypse des Johannes von dem Kranz der sieben Gemeinden Kleinasiens. Darum kann das NT, wenn es die Christenheit einer Landschaft bezeichnen will, eben in gleicher Weise


1) Vgl. O. Michel, a.a.O., S. 36.
2) Vgl. dazu besonders Hildebrandt, Gemeindeprinzip, S. 62 f.
3) Vgl. Hildebrandt, a.a.O., S. 31, 35, 62.

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im Singular oder im Plural das Wort “Ekklesia” gebrauchen, kann von der Kirche oder auch von den Kirchen in dieser Landschaft sprechen; wenn man auch wahrscheinlich feststellen muss, dass der pluralischen Verwendung ein gewisser Vorzug gebührt.1)

Alles dies vermag schon ein Blick in die Konkordanz des NT zu lehren, und das hat auch die niederländische Theologie wohl gesehen, wenn sie so stark immer wieder den Nachdruck auf die örtliche Gemeinde gelegt hat. Es lässt sich von hier aus bereits sagen, dass die örtliche Gemeinde der Grundfaktor kirchliche Ordnung ist und auch heute zu sein hat.

Würde man allein dies ins Auge fassen, so müsste man zu den Konsequenzen des Kongregationalismus kommen und — wie immer modifiziert — die Autonomie der Ortsgemeinde und ihre totale Unabhängigkeit von irgendwelchen anderen Gliedern und Organen des Leibes Christi betonen. Diese Autonomie würde auch eine Rechtskategorie.2) Sie zeigt sich in der neueren theologischen Literatur, aber auch in der Geschichte der Kirche in zweierlei Form: Einmal so, dass diese Gemeinde, gesehen als die Gesamtheit der Glieder, alle Funktionen gesamtheitlich ausübt, wie sehr auch immer dem einen diese, dem anderen jene


1) Vgl. dazu den Artikel “ekklesia” im Th.W.B., 3. Bd., S. 502-539 von K.L. Schmidt. Dieser wechselnde Gebrauch ist nach Schmidt darum möglich, weil das neutestamentliche “ekklesia” “kein Quantitäts-, sondern ein Qualitätsbegriff ist (S. 507).
Der Vorzug des Plurals dürfte gerade auf die Sicht der Gemeinde als örtliche Gemeinschaft deuten, jedenfalls, sobald es sich um konkrete Fragen des Lebens handelt. Vgl. Hildebrandt, a.a.O., S. 54.
2) Hildebrandt versucht, in dieser Richtung seine Kirchenrechtslehre zu entwickeln. Dabei ist die theologische Grunderkenntnis, dass “die gesamte Christenheit bloss eine Vorstellung des Glaubens ist, während alles Handeln in der sichtbaren Gestalt der (örtlichen) Ekklesia erfolgt” (S. 54), zweifellos richtig, während H. andererseits die (auch sichtbare) Gemeinschaft der Gemeinden untereinander, ihren Dienst, ihr Handeln aneinander nicht zureichend berücksichtigt.

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spezielle Gabe durch den Heiligen Geist zugeteilt ist; das ist der kongregationalistische Gemeindetyp, und er wirkt bei den niederländischen Reformierten durch in dem Gedanken, dass eigentlich das “ambt der geloovigen” die “potestas ecclesiastica” besitzt, wodurch die Amtsträger im Grunde zu Mandataren der Gemeinde werden. Zum anderen aber so, dass diese örtliche Gemeinde von den Amtsträgern als Träger der von Christus ihr geschenkten und von ihm direkt ihren Auftrag herleitenden Ämter regiert wird; wir sahen, dass auch diese Auffassung — man könnte sie die presbyterianische nennen — sich in den niederländischen Kirchen findet.1) Beide Auffassungen fliessen in der Regel ineinander, und die Geister scheiden sich an der Akzentuierung.

Nun haben sich die niederländischen Reformierten für die Autorität ihrer Synoden, wie wir sahen, mit Vorliebe auf das in Acta 15 berichtete Beispiel des sogenannten Apostelkonzils berufen. Dieser Bericht ist in der Tat der einzige Stelle im Neuen Testament, die einen gewissen Anhalt für die Institution der Synoden zu bieten vermöchte.

Würde man auf die genaue Feststellung des historischen Tatbestandes abzielen, so wäre zunächst eine Untersuchung des Verhältnisses von Acta 15 zu der Parallele Gal. 2 notwendig, die schon alleine eine Fülle von Problemen aufwirft. H. Schlier hat dies versucht, während M. Dibelius in seiner Abhandlung über “Das Apostelkonzil” die Frage in den Hintergrund schob.2) Alle neueren deutschen Kommentare stimmen jedoch im wesentlichen darin überein, dass Gal. 2 im Hinblick zumindest


1) Während Schweizer ein Amt an sich, also als “Institution” vom NT her ablehnt (Leben des Herrn, S. 111), baut Bronkhorst den ganzen neutestamentlichen Teil seiner Arbeit auf dem “ambt” auf. Vgl. dazu auch 6. Kapitel.
2) H. Schlier, Der Brief an die Galater, 1949; Exkurs Nr. 8, S. 66-78; M. Dibelius, Das Apostelkonzil (Th.L.Z., 72. Jg., 1947, Sp. 193-198).

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auf die Stellung des Paulus zur Jerusalemer Gemeinde der zuverlässigere Bericht sein dürfte, und dass das eigentliche Anliegen des Verfassers der Apostelgeschichte nicht in der Form der Verhandlung, sondern in der theologischen Frage des Verhältnisses zwischen Heiden- und Judenchristen liegen dürfte: Die Einheit der Kirche war in Gefahr, und hier wird nun in gemeinsamer Beratung in Erinnerung an die bisherigen Taten Gottes ein Beschluss gefasst, der diese Einheit erhalten soll.1) Wenn hier auf eine eingehendere Untersuchung dieser Frage verzichtet wird, so muss doch davor gewarnt werden, Acta 15 formal und historisch als das “Grundgesetz” der Synoden zu betrachten.

Ein Zweites ist zu bedenken: Dass diese Versammlung in Jerusalem stattfand, und dass an ihr maßgeblich die Apostel Anteil hatten, verlangt eine starke Zurückhaltung in der unmittelbaren Übertragung dieses Beispieles in jede nach-apostolische kirchliche und synodale Ordnung. Jerusalem war die Muttergemeinde, von der aus alle anderen, mittlerweile bestehenden, die Botschaft des Evangeliums erst empfangen hatten, und sie nahm zweifellos eine Sonderstellung ein, wenn diese auch nicht juristischer, sondern mehr geistlicher Art


1) Vgl. O. Bauernfeind, Die Apostelgeschichte, 1939, zur Stelle; dort die weitere Literatur. Entsprechend urteilt auch Dibelius, der den Sinn des Berichtes überhaupt auf der Linie der literarischen Komposition des Lukas sieht (a.a.O., S. 195).
Gerade wenn man bedenkt, dass dies Problem der Einheit der Kirche das zentrale Anliegen ist, und dass es also damit um die Verkündigung des Paulus — der Heilige Geist ist auch den Heiden gegeben — in theologischer und um die Gestaltung des gemeinsamen Lebens von Juden- und Heidenchristen in praktischer Hinsicht ging, brauchte man zwischen dem “literarisch-theologischen” Bestreben des Lukas und dem historisch wohl zuverlässigeren Bericht von Gal. 2 keine wesentliche Differenzen zu sehen (vgl. Dibelius, a.a.O., Sp. 197/98).

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Art gewesen sein dürfte.1) Dass Jerusalem und der dortige Apostelkreis nicht einfach allen anderen Gemeinden befehlen konnten, erhellen gerade Gal. 2 und die Art, in der Paulus zu der Kollekte für die Armen aufruft.2)

Neben der Sonderstellung dieser Gemeinde hat man diejenige des Apostelkreises zu berücksichtigen. Man wird sagen können, dass die Antiochener ihren Rat bzw. ihre Entscheidung einholen wollten, als sie Paulus, Barnabas und die anderen Brüder nach Jerusalem schickten. Und darin stimmen nun auch Acta 15 und Gal. 2 überein, dass die Entscheidung durch sie gefallen ist: Paulus berichtet von der Beratung mit ihnen, Lukas lässt Petrus und Jakobus die bestimmenden Reden halten, die nach seinem Bericht dann zur Einmütigkeit und zum sogenannten Aposteldekret führen. Bronkhorst sagt mit Recht: “Als er één ding in Hand. 15 duidelijk wordt, dan is het, dat het inderdaad de apostelen zijn, die het centrale gezag in de kerk hebben ontvangen en uitgeoefend”.3)

Aber dieser Bericht sagt noch mehr. Dass Antiochia trotz der Anwesenheit eines Apostels — nämlich des Paulus — nicht eine eigenmächtige Entscheidung trifft, sondern die Delegation nach Jerusalem schickt, mag ein Hinweis darauf sein, dass diese doch offensichtlich bereits geordnete Gemeinde sich nicht als autonom betrachtete; so es um eine Lehrkontroverse mit erheblichen


1) Vgl. dazu F. Kattenbusch, Die Vorzugsstellung des Petrus und der Charakter der Urgemeinde zu Jerusalem (Festgabe für K. Müller, 1922); K.L. Schmidt, Die Kirche des Urchristentums (Festgabe für A. Deissmann, 1926); Bronkhorst, a.a.O., S. 132 ff.
2) Vgl. Römer 15, 26 ff.; 1. Korinther 16, 1 ff.; Acta 11, 27 ff.; Galater 2, 10. Vgl. dazu Bronkhorst, a.a.O., S. 133: “Het blijft een collecte, geen belasting of tribuut”. . . . “Zij geven, omdat er hongersnood komt, niet omdat Jeruzalem metropolis is”.
3) Bronkhorst, a.a.O., S. 134.

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praktischen Auswirkungen ging, glaube sie auf den Rat und die verantwortliche Entscheidung der Brüder in einer anderen Gemeinde nicht verzichten zu dürfen. Dass die Apostelgeschichte von einer gemeinsamen Beratung der Apostel und der Ältesten mit den Antiochenischen Abgesandten berichtet1) — nicht also von einem doch sehr wohl denkbaren apostolischen Entscheid —, und dass die entscheidende Versammlung vor der versammelten Gemeinde von Jerusalem stattfand,2) dass auch Petrus trotz seiner anerkannte Sonderstellung nicht das letzte Wort spricht, beweist zumindest doch so viel, dass diese gewichtige theologische und praktische Klärung nicht von einer exklusiven Hierarchie herbeigeführt wurde, sondern dass die Jerusalemer Gemeinde direkt (durch ihre Presbyter) und auch indirekt (durch ihre Anwesenheit) am Zustandekommen des Beschlusses beteiligt war. Ob Paulus und Barnabas als Abgesandte mit abgestimmt haben oder nicht, verschlägt dann verhältnismässig wenig,3) zumal ja von einer formellen Abstimmung auch überhaupt nicht die Rede ist.4) Auf alle Fälle haben sie an diesem Zustandekommen aktiv mitgewirkt. Worauf es ihnen


1) Acta 15, 4. 6. 12.
2) Acta 15, 22.
3) Jacobs, a.a.O., S. 51 ff. bestreitet dies; aber auch die Verfechter der These, dass in Acta 15 das erste Beispiel der Synode gegeben sei, stützen sich wesentlich auf die Abordnung des Paulus durch Antiochien (z.B. Jansen, De bevoegdheid der meerdere vergaderingen, S. 5).
4) Bauernfeind, a.a.O., S. 185 ff. weist darauf hin, dass der Lukanische Bericht — auf die Lehrfrage konzentriert — überhaupt wenig Gewicht auf Einzelheiten der Verhandlungen legt. Der Typus dieser Versammlung lässt sich in der Tat nicht verfassungsmässig erfassen. Er liegt wohl aber in der Linie der Züricher Disputationen, die Zwingli (vgl. CR, Zwingli Opp. I, S. 491 ff.) als “christliche versamlung” und Bullinger (Reformationsgeschichte, ed. von J.J. Hottinger und H.H. Voegeli, I, S. 99) als “concilium” ansprechen. Sie haben ihr Gewicht ganz und gar von der verhandelten Sache, von ihrem Zeugnis her.

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ankam, war nicht so sehr ihre Abordnungsvollmacht, sondern das Bewusstsein, dass hier der Heilige Geist in der Versammlung am Werke war. Auf seine Autorität beruft sich das Dekret.1)

Der Bericht von Acta 15 zeigt also, dass schon zur apostolischen Zeit Lebensfragen der Kirchen oder Fundamentalfragen ihre Lehre und Verkündigung nicht von einzelnen und nicht von einzelnen Gemeinden dekretiert, sondern in gemeinsamer Beratung besprochen und unter Gebet entschieden wurden — und dass sie dann geistliche Verbindlichkeit für die Gesamtheit der von solchen Fragen betroffenen Einzelgemeinden hatten: Es gibt eine an die Gemeinde von “aussen” herantretende Entscheidung, basiert allerdings auf dem Zeugnis des Heiligen Geistes und der Schrift.2)

In diesem Sinne haben sich dann in der frühen nach-apostolischen Zeit schon sehr bald die sogenannten “Besuchssynoden” ergeben,3) etwa anlässlich der Amtseinsetzungen neuer Bischöfe. Und von daher hat es dann auch durchaus seine Berechtigung, wenn in der Reformationszeit besonders Calvin an dem Grundsatz solcher Zusammenkünfte — man mag sie dann Synode nennen — festhielt und ihnen gerade in dem Bericht von Acta 15 ein Vorbild gesetzt sah.4)


1) Acta 15, 28; vgl. dazu Bronkhorst, a.a.O., S. 135.
2) Bronkhorst schreibt (a.a.O., S. 134): “Tegenover alle Independentisme blijft Hand. 15 ons leeren, dat de autonomie van de Gemeente niet zoo ver gaat, dat er geen enkele instantie in de Kerk mag zijn, die leiding geeft, besluiten neemt en zoonodig lasten oplegt”.
3) Vgl. dazu den Artikel “Synoden” in RE3, Bd. 19, S. 262 ff., und den Artikel “Kirchenverfassung” in RGG2, Sp. 968 ff. (Der Artikel über “Synodalverfassung” ist unbefriedigend, geht vom Synodaltyp des 19. Jahrhunderts aus); Harnack, Entstehung und Entwicklung, S. 114.
4) Comm. in Acta, zu Kap. 15, 6: “Caeterum sciamus formam hic et ordinem in cogendis synodis divinitus praescribi”.

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III. Synode und Gemeinde: Abgrenzung und Ausblick.

 

Die entscheidende Frage für die Gestaltung des Lebens der Gesamtkirche — und eine Gruppe von einzelnen Gemeinden darf hier nach dem Vorbild der Terminologie des NT als, wenn auch horizontal offener, Ausschnitt der Gesamtkirche gelten — muss die nach dem Wesen der einzelnen Gemeinden sein. Dies Wesen aber liegt direkt in Christus. Erst seine Gegenwart in Wort und Geist, die seligmachende Verkündigung, macht eine Kirche zur Kirche. Sie ist in Bezug auf ihr Wesen eigentlich immer Empfangende.1) Diesen Akzent darf man nicht auf die Gläubigen verlagern, wie Kuyper es tat; denn der Glaube entsteht kraft der Wirksamkeit des Geistes aus dem Wort der Predigt.2) Die Verkündigung Jesu Christi als des Herrn ist zugleich Auftrag, Wesen und Quelle der Kirche. Dabei muss es bleiben.3)


1) Vgl. O. Weber, Versammelte Gemeinde, S. 44.
2) Römer 10, 17.
3) Dass damit in den Kirchenbegriff, wo er auf Gestalt und Recht der konkreten Gemeinde und ihrer Ordnung zielt, eine Diskontinuität eintritt, dass nämlich, wenn man so will, das Fundament uns nicht verfügbar und damit eigentlich auch nicht verrechenbar ist, werden wir nicht aus der Welt räumen können und dürfen. Hier liegt die eigentliche Krisis allen Kirchenrechtes, das ja notwendig die sichtbare, sagen wir: auch soziologisch erfassbare Gemeinde zu ordnen sich bemühen muss. Wo in ihm diese letzte Unverfügbarkeit, diese letzte und entscheidende Lücke nicht offen bleibt, wo es also die konkrete örtliche Gemeinde oder die Gesamtheit der Gemeinden in einem bestimmten Raum losgelöst von Christus als eigenständigen Organismus behandelt, wird es illegitim; einer der theologischen Schlüssel zu einer solchen Auffassung ist aber gerade durch die These vom in den Gliedern liegenden Wesen der Gemeinde gegeben. — Es ist ja auch letztlich diese Krise gewesen, die R. Sohm seinerzeit den unüberwindlichen Zwiespalt zwischen Geist und Recht, Geistkirche und Rechtskirche behaupten liess. Dass dieser Gegensatz nicht unüberwindlich ist, dass Geist und Recht sehr wohl miteinander zu tun haben, dass Gottes Tun auch Rechtsakt ist, dass durch die Verkündigung der Rechtfertigung und der Vergebung der Sünden Recht gesprochen wird, und dass es also ➝

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Wenn aber die Gemeinden nicht nur in ihrer Glaubensüberzeugung, sondern in ihrem Herrn eins sind, dann finden sie ihr eigenes Wesen in der je anderen Gemeinde wieder und auch ergänzt.1) Hier liegt der eigentliche Grund für die überörtliche Kirchengemeinschaft; hierin begründeten die Reformierten auch ihre Synoden, wenngleich die Väter über sie nicht mit der gleichen Eindeutigkeit sprachen wie über die Regierung, die Funktionen und Dienste in den örtlichen Gemeinden.2)

Liegt nun die Einheit zuerst in der Einheit des Bekenntnisses zu dem einen Herrn, dann ist es also vornehmste Aufgabe der Synoden, dieser Einmütigkeit in Zeugnis und Verkündigung zu dienen, wie die Verkündigung selbst vornehmste Aufgabe der Gemeinden ist. Sie wird dann erfüllt, wenn die Synode in brüderlicher Beratung und in nüchterner Beobachtung der inner- und aussergemeindlichen Gefahren, also jener offenen oder schleichenden Angriffe, mit denen der Böse das Volk Gottes von seiner Lebensquelle weglocken oder -treiben, diese trüben, verschütten, unwirksam machen will, — je neu auf


➝ von hier aus auch in der Kirche Recht gibt, dies haben sich gerade K. Barth und J. Ellul zu zeigen bemüht (vgl. Barth, Rechtfertigung und Recht; J. Ellul, Die theologische Begründung des Rechts). Dass das Wesen eigentlich kirchlichen Rechtes in seinem Charakter sui generis, in dem der Geist nicht bloss Formalprinzip ist, zufolge der staatskirchenrechtlichen Verquickungen und rechtstheoretischen Einwirkungen noch nicht deutlich erkannt wird, dafür mag die Abordnung der Lehrstühle für Kirchenrecht (insgemein, also für Staatskirchenrecht und eigentliches Kirchenrecht) in den juristischen Fakultäten und die damit wohl nicht ganz unzusammenhängende Geringschätzung des Kirchenrechtes in theologischen Kreisen ein Symptom sein.
1) O. Weber, a.a.O., S. 57 schreibt: “Die Gemeinde findet in der je anderen nicht Eigenschaften, sondern ihre Substanz wieder” . . . und “Die eine Gemeinde braucht die andere, sie kann nicht ohne sie — Kirche sein”.
2) In den reformierten Bekenntnisschriften (siehe bei Müller) scheint ihr Gewicht zuzunehmen; am stärksten sind die Synoden hervorgehoben in der Westminster Confession von 1647, Chap. 31 (bei Müller, S. 608 f.); auf dem gleichen Boden aber sind auch “stated synods in a fixed Combination of Churches” abgelehnt worden (Savoy-Declaration, XXVII; bei Müller, S. 656). Allgemeine Konzilien werden durchweg anerkannt.

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die Schrift hören, sich von ihr, d.h. aber: von Christus her, die jetzt notwendige Richtung des Angriffs und die Waffen zur Stärkung und Rüstung erbittet und geben lässt und dies Zeugnis ihres Gehorsams den darauf wartenden Gemeinden — und auch denen, welche in falscher Selbstberuhigung vielleicht gar nicht darauf warten — zuspricht und gleichsam in die Hand gibt. Das ist in den synodalähnlichen Zusammenkünften der frühen Kirche (nicht auch auf dem Apostelkonzil?) geschehen; so war es auf den ersten grossen Konzilien, so war es in Paris und La Rochelle, in Dordrecht und schliesslich in Barmen. Es ist dabei bemerkenswert, zu beobachten, dass man auf diesen Synoden grosse Freiheit in ihrem Zustandekommen und in der Legitimation ihrer Mitglieder walten liess.1)

Stellt man die Frage, woher den Beschlüssen dieser Synoden ihre eigentliche Autorität zukam, so wird man gewiss zu bedenken haben, dass hinter ihnen in der alten Reichskirche die kaiserliche und auch in den Reformationszeit oft und in vielen Territorien die obrigkeitliche Autorität stand. Allein, dies war bei den früh-christlichen Besuchssynoden, in der französischen Hugenottenkirche und in Barmen nicht der Fall. Wodurch fanden deren Beschlüsse Gehorsam? Nicht anders, als dass die Gemeinden in ihnen die Stimme des einen Herrn vernahmen, der auch der ihrige war. Und es gehört dann auch wohl zum Wesen eines solchen Zeugnisses, dass sich an ihm die Geister scheiden, dass Widerspruch laut wird; und recht betrachtet zum Wesen der Kirche, dass ein solcher Widerspruch nicht mit zwingender Gewalt, sondern nur und allerdings durch die brüderliche Bemühung und — “Überredung” zu überwinden getrachtet werden muss.


1) Die Abgesandten waren zum Teil durch die sie sendenden Gemeinden, zum Teil einfach durch ihre amtliche Stellung in den Gemeinden, in Dordrecht z.B. aber auch teilweise durch die Legitimation ihrer sich um Wohl und Regiment der Kirche mehr oder minder bemühenden protestantischen Landesherrn ausgewiesen.

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Wenn die Einheit der Kirche in dem einen Herrn und mittelbar in der Verkündigung besteht, so gibt es zu ihrer Erhaltung auch kein anderes Mittel als das Zeugnis eben dieser Verkündigung, dem der Geist seine Kraft verleiht, durch das und zu dem er überzeugt.1) Wer dieser Stimme nicht gehorcht, von dem kann eine Kirche oder Synode, wenn seine Abweichung eine fundamentale ist, nur wiederum bezeugen, dass er sich von der Gemeinschaft der Kirche geschieden hat. Exkommunikation? Wenn man will, ja. Denn Exkommunikation seitens der Kirche (sei es der örtlichen oder einer kirchlichen Gesamtheit) ist immer nur eine Feststellung des Zustandes, welchen ein einzelner oder eine einzelne Gemeinde durch ihr Verhalten herbeigeführt hat, und von dem sie trotz Ermahnung nicht zurückkehren wollen.

Damit wird nicht einer Spiritualisierung das Wort geredet, welche alle Gestalt und Form und jede Kontinuität der Kirche aufhebt. Solche Synodalversammlungen, wie die eben genannten, stellen je besondere Höhepunkte in der Geschichte der Kirche dar; sie gewinnen ihr dann allerdings hoch über alle Einzelgemeinden aufsteigendes “gezag” durch die Situation meist ja doch des Kampfes und durch die im Grunde menschlichem Planen und Ordnung entzogene Führung Gottes. Nun ist aber das Leben der Kirche nicht eine Kette solcher Höhepunkte. Auch der von uns behandelte Abschnitt niederländischer Kirchengeschichte zeigt ja doch eine Synodaleinrichtung, die mehr dem “Normalfall” (vielleicht ist er nicht so “normal”, wie es unserem Blick zunächst scheint?) entspricht.

Man wird gerade für die reformierten Kirchen stets im Auge behalten müssen, dass die Synoden, welche normaliter in der KO vorgesehen waren, in Kampfsituationen entstanden sind; das Beispiel Frankreichs weist dies aus, die Historie der niederländischen Kirche weist


1) Vgl. dazu Schweizer, Leben des Herrn, S. 126.

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keinen anderen Weg, und was den deutschen Raum angeht, so war ja auch die Geschichte und kirchliche Gestaltung der Gemeinden am Niederrhein durch eine solche Situation bestimmt, wenngleich man hier offenbar nicht so eindeutig auf einer Synodalautorität kraft ius divinum bestanden hat wie in den westlichen Nachbarkirchen. J.V. Bredt hat gezeigt, dass dies seinen Grund in der weniger konsequenten Herleitung der kirchlichen Ordnung aus dem Bekenntnis hatte, obwohl man trotz der Begründung in der Nützlichkeit auch hier die biblische Norm für die presbyteriale Kircheneinrichtung gelten liess.1)

Die reformierten Kirchen haben sich der Synoden auch bedient, um ihre (Gemeinde-)Ordnung gemeinsam zu gestalten. Es ist auffallend, dass wir sowohl die niederländischen Synoden am Ausgang des 16. Jahrhunderts wie besonders auch die rheinischen Synoden noch durch das 17. Jahrhundert hindurch und bis ins 18. hinein beständig am Werke finden, um ihre Kirchenordnung nicht erstarren zu lassen, sondern den je neuen Erfordernissen anzupassen.2) Denn die allgemeinen Prinzipien einer kirchlichen Ordnung sollten zwar nach der Norm der Schrift festliegen, während aber die in dieser Welt lebende und daher je veränderten Situationen konfrontierte Kirche sich doch immer wieder neu auf die der Erfüllung ihres Auftrages in der jeweiligen Umwelt gemässeste oder am wenigsten hinderliche Regelung ihrer Dienste und Funktionen zu besinnen hat. Sie kann dies nicht, wenn sie am Buchstaben der KO festhalten will wie an den Worten der Schrift.


1) Vgl. Bredt, Die Verfassung der reformierten Kirche in Cleve-Jülich-Berg-Mark, bes. S. 65 ff., 72 f.
2) Das eben erwähnte Buch von Bredt ist dafür sehr aufschlussreich. Vgl. besonders S. 78 ff., 171 ff. Belege dieser Arbeit bietet Jacobson, Urkunden-Sammlung. Vgl. ferner Simons, Synodalbuch.

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Eine solche Ordnung darf gleichwohl nicht — im Sinne von Staatsgesetzen besonders modernen Staaten — alle Einzelheiten festlegen wollen. Eine wohlberatene und der Grunderkenntnis von ihrem Wesen folgende Kirche wird sich stets mit einer gemeinsamen Rahmenordnung begnügen; d.h. sie wird nur so viel gemeinverbindlich machen, wie für ein förderliches und dienliches Zusammenleben der Kirchen unumgänglich ist, während sie zugleich den einzelnen Gemeinden des Höchstmaß an Freiheit der eigenen Ordnung und Gestaltung lässt.1) Dies bedeutet: Die Synoden geben die allgemeinen Richtlinien, die “Regierung” der Gemeinde erfolgt wesensmässig nur in den örtlichen Presbyterien, nämlich da, wo die Kirche eigentlich lebt.

Das Problem der “Zuständigkeitsabgrenzung” zwischen Gemeinde und Synode ist aufs Engste verbunden mit der Einführung des römisch-rechtlichen Begriffes der potestas ins kirchliche Denken, welchem doch wohl ein etwas anderer Inhalt eignet als dem neutestamentlichen Begriff der exousia. Letzterer bringt deutlicher zum Ausdruck, dass jene Vollmacht, von der die Rede ist, in steter Abhängigkeit von ihrem Geber, dem Herrn der Kirche steht, auch dann, wenn sie Menschen übertragen ist.2)


1) Der Artikel “Synodalverfassung” in RGG2, 5. Bd., Sp. 960 ff. (Oeschey) zeigt den Typ der Synoden des 19. Jahrhunderts, die — nach Analogie staatsrechtlicher Vorstellungen — lediglich die Legislative in einem auf drei Säulen erbauten Kirchenrechtssystem bilden; sie sind Vertretung des “Kirchenvolkes” der “Kirchenleitung” gegenüber, also nicht selbst Kirchenregiment im ursprünglich reformierten Sinne. Sie waren im Grunde Verwaltungsorgane, ganz wie die niederländische “besturen-organisatie”. Dementsprechend wurde die KO ein minutiöser Gesetzeskodex und sprach vom Handeln und Auftrag der Kirche kaum noch. Vgl. dazu Weber, a.a.O., S. 76 f. und 107 f. Schweizer weist demgegenüber darauf hin, dass “die neutestamentliche Ordnung vom Wesen des Evangeliums und nicht von allerhand praktischen Erwägungen oder politischen Vorbildern her geformt ist” (a.a.O., S. 64, Anm. 11). Übrigens hat ja schon Rieker, Grundsätze, S. 130 ff. den fundamentalen Unterschied zwischen den reformierten und modernen Synoden herausgearbeitet.
2) Vgl. den Art. exousia im Th.W.B., Bd. 2, S. 559 ff. von W. Foerster.

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Es ist zu fragen, ob die Übernahme des potestas-Begriffes durch die Orthodoxie nicht ein Hereinlassen von dem Wesen einer nach Gottes Wort reformierten Kirche inadäquaten Elementen des römisch-katholischen Kirchenrechtes (und staatsrechtlichen Denkens) bedeutet. Denn dort steht seine Verwendung im engen Zusammenhang mit der Auffassung der Kirche (d.h. der Klerus) als Verwalterin eines Heilgutes, über das sie verfügt und für das sie also sich ein Monopol zuspricht und den einzelnen Amtsträgern zuteilt. “Potestas” gehört im Grund zum sakramentalen Bereich. Wo dieser Begriff aber eingeführt ist, bleibt die Abgrenzung der “Machtbereiche” unumgänglich.

Wenn überhaupt legitimerweise von einer potestas die Rede sein kann, so ist es jene je für die Erfüllung der ihr gestellten Aufgabe der Gemeinde als Ganzer oder — im Sinne von Charismata — einzelnen gegebene Vollmacht Christi. Diese ist zweck- bzw. funktionsgebunden. Sie ist von Menschen auch nicht übertragbar, sondern kann immer nur wieder erbeten und geschenkt werden.1) Die Vollmacht der Kirche erweist sich im Zeugnis des Geistes über dem von ihr gesprochenen Wort. Sie ist zwar der Kirche immer wieder verheissen, aber origine bleibt sie bei Christus. Darum ist sie eine und unteilbar. Sie ist nur insofern gegeben, als sie wirkt, also niemals inhärent.

Es gibt also auch keine Abstufung dieser potestas, weder in dem Sinne, dass sie gewissen Ämtern als solchen besonders eigne, noch in dem Sinne, dass sie grundsätzlich — weil eben innewohnend — einem Presbyterium mehr eigne als einer Synode. Das hängt mit dem Wesen der Kirche zusammen, insofern nämlich in ihr eine wirkliche vertikale Linie nur zu ihrem Haupte hin existiert,


1) Vgl. Schweizer, a.a.O., S. 119: “Nirgends handelt es sich um ein Abgrenzen der Machtsphären”. Vgl. auch ebenda, S. 109 ff.., 80 ff.

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alle anderen Linien gleichsam horizontal sind: zum Mit-Glied am Leibe, zur Brudergemeinde: “Einer ist Euer Meister, Christus, Ihr aber seid alle Brüder”.1) Eben darum ist auch der Grundsatz der Instituierung der Kirche “von unten her”, bei dem man von den Gliedern als den Trägern des Wesens und darum auch der Vollmacht ausgeht und sie jede Versammlung und Synode als nur von diesen übertragen besitzen lässt, prinzipiell ebenso falsch wie der römisch-katholische der Machtübertragung “von oben nach unten”.

Worum es eigentlich geht, — hier nun für die Gemeinden der Synode gegenüber — ist der nur aus geistlicher Erkenntnisse zu gewinnende Grundsatz, dass der Verpflichtung zur Dienstleistung auf der einen eine ebensolche Verpflichtung zur Dienstannahme auf der anderen Seite entspricht, ebenso wie in der Gemeinschaft der Glieder in der Ortsgemeinde.

Wenn aber um der Ordnung willen in der Gemeinde nur die amtlichen Dienst tun sollen, welche “rite ordinati” sind, das will sagen: deren Gabe die Gemeinde erkannt und anerkannt hat, und für die sie den Herrn um Vollmacht zu ihrem Auftrag gebeten hat, dann gilt dies in gleicher Weise für die Abordnung zu den Synoden. Dies bedeutet also, dass die Mitglieder der Synode sich als Abgesandte der Gemeinde bzw. entsprechend der Classen auszuweisen haben. So entsteht nun wiederum eine — allerdings qualifizierte — Gemeinde.2) Die Synode als solche


1) Mt. 23, 8.
2) Schweizer, a.a.O., S. 137 betrachtet sie als Gemeindeversammlung “im grösseren synodalen Rahmen”. Barth (Die lebendige Gemeinde, S. 20) bestimmter: “Die aus bestimmten Gliedern der beteiligten Ortsgemeinden ad hoc gebildete Synodalgemeinde”, die sich “ihrem besonderen Zweck entsprechend . . . als Muttergemeinde” konstituieren soll. Weber (a.a.O., S. 110) schreibt: “Ihr Gewicht gegenüber den zusammentretenden örtlichen Versammlungen begründet sich darin, dass hier Gaben vorhanden sind, die in dieser Fülle die örtlichen Versammlung nicht notwendig besitzt, dass hier Erkenntnisse gewonnen werden, die sich in ihrem sachlichen Gewicht dem Gewissen der hier Zusammentretenden aufdrängen . . . kurz, dass hier in einer wiederum örtlichen Versammlung mitgehandelt und beschlossen wird”.

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kommt formal aus den Gemeinden auf; ihr (geistliches) “gezag” empfängt sie aber nicht von diesen, sondern von Christus selbst.1)

Die Ordnung eines Kirchen-“Verbandes” ist gegenüber der einer örtlichen Gemeinde immer relativ. Das ergibt sich schon daraus, dass sich die Gemeinden in dieser Ordnung schon seit dem NT nach den jeweiligen und oft genug wechselnden politischen Grenzen gerichtet haben und überhaupt sehr beweglich waren; die Kirche besitzt kein eigenes Territorium, sondern lebt in einem fremden. Fest steht nur so viel, dass in dem je vorgegebenen Raum die Gemeinden kirchliche Gemeinschaft zu pflegen haben, sich als zueinandergeordnet, weil in ihrem Herrn eines Wesens und ein Leib, vorfinden; wie dieser Verband zustandekommt, ob durch Zusammenschluss der Einzelgemeinden, oder — wie doch vielfach in der Reformationszeit — durch Bemühung des Landesherrn, ist vom Augenblick seines Bestehens an ganz unerheblich. Denn seine Bildung ist immer nur Nachvollzug und Ausdruck der wesentlich schon vorgegebenen, der in Christus bestehenden Einheit. Aus ihr sich zurückziehen, kann nur dann seine Berechtigung haben, wenn diese anderen Gemeinden nicht mehr Kirche sind, d.h. Jesus Christus in ihnen nicht mehr als der Herr bekannt und verkündigt wird. Das Recht zur Separation kann nicht einfach in subjektiven Meinungsdifferenzen liegen; hier liegt der Grund der niederländischen Spaltungen.

Ein synodaler Beschluss sollte wesentlich die Gemeinden zum Gehorsam auffordern.2) Er wird sich dabei in Lehrfragen grundsätzlich an der Schrift ausweisen, in Fragen der Ordnung dieser zumindest nicht widersprechen und sich als der Erfüllung des Auftrages der Kirchen dienlich erzeigen müssen. Das Staatskirchenrecht und die Übernahme der landesherrlichen Autorität durch die


1) Vgl. dazu Bronkhorst, a.a.O., S. 261, 265.
2) Vgl. dazu H. Diem, De plaatselijke kerk in de KO (In de Waagschaal, 3. Jg., Nr. 29).

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Kirchen, welche schliesslich im 19. Jahrhundert unter Einführung des Prinzips der Gewaltenteilung zur Errichtung von synodalen Parlamenten als kirchlicher Legislative führte, hat in Deutschland zur Folge gehabt, dass kraft des Korporationsrechtes der Kirche die Synoden Kirchengesetze verabschieden, welche dann von den Kirchenleitungen ausgefertigt und durchgeführt werden. Diese Regelung hat gewiss für eine Kirche, die öffentlich-rechtliche Anerkennung geniesst, in Bezug auf ihre juridische Stellung mancherlei Vorzüge; dass sie jedoch zugleich für die Kirche selbst, für ihr Selbstverständnis und die Erfüllung ihres Auftrages auch eine schwere Gefahr bedeutet, indem sie nämlich zur Übernahme staatsrechtlicher Kategorien verleitet, kann nicht unausgesprochen bleiben.1) Sie bringt notwendig auch für das Verhältnis der Gesamtkirche im Gebiet eines Territoriums zur örtlichen Gemeinde einen anderen Maßstab zur Anwendung als den vorhin aufgezeigten. Der Unterschied zwischen einem Gesetz und einem Synodalbeschluss im Sinne der freien Kirche liegt auf der Hand.

Von einem “Ratifizierungs-Recht” der Gemeinden sollte man nicht sprechen; auch dieser Begriff ist politischen Ursprungs, unterstellt die Abgrenzung von Machtsphären. In der Tat ordnet die Synode gültig für die Kirche jenes Gebietes, aus dem sie zusammengekommen ist.2) Den


1) Die Form und der Rahmen, der “Apparat”, der gute innere Verwaltungsablauf gewinnen fast unausweichlich den Vorrang vor dem Bekenntnis, dem Handeln und Auftrag der Kirche. Legalität ist dann immer wichtiger als Legitimität.
Dies muss gesagt werden, obgleich der öffentlich-rechtliche Charakter eines Kirchengesetzes möglicherweise eine Sicherung gegen staatliche Übergriffe bietet; aber auch diese Sicherung ist ja, wie die letzten zwanzig Jahre uns lehrten, nur eine begrenzte, wo der Geist des Glaubens und schliesslich dann auch des Rechtes weicht.
2) Man wird übrigens sagen müssen, dass da, wo es um Fragen der Verkündigung direkt geht, und wo sie aus dem Geiste Christi spricht, ihr Wort eine an territoriale Grenzen und kirchenordnungsmässige Formationen überhaupt nicht gebundene Autorität für die gesamte Christenheit haben müsste.

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Gemeinden bleibt die Pflicht, Wort und Entscheidung der Synode ebenso wie die Verkündigung zu prüfen: dies nicht unter dem Gesichtspunkt, ob sie ihre eigenen Wünsche und Anschauungen darin bestätigt findet, sondern ob ein solcher Beschluss vor der Schrift und dem Herrn der Kirche — und das wird dann normalerweise auch bedeuten: vor dem Bekenntnis der Kirche — zu verantworten ist. Bestehen nicht unüberwindliche Bedenken, so kann es dabei bleiben. Bestehen aber solche, so hat die Einzelgemeinde diese den anderen, d.h. ggf. also der Synode vorzulegen und sie vor den eingeschlagenen Wege nicht nur aus Eigen-, sondern aus Gemeininteresse und aus Gehorsamspflicht gegen den Herrn zu warnen. Denn von hier aus besteht zum Einspruch nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht.

Über Einsprüche zu entscheiden, ist neben der Wahrung der Einheit in der Verkündigung und der Ordnung des gemeinsamen Lebens die dritte wesentliche Aufgabe der Synoden; sie hat sich aus der Praxis ergeben, war aber zweifellos auch bereits in den entsprechenden Einrichtungen der römischen Kirchen vorgebildet.1) Die Gemeinden erbitten in der synodalen Entscheidung die brüderliche Hilfe, der sie sich grundsätzlich unterwerfen, die anzunehmen sie bereit sind. In aller Regel sollte auch bei solchen Entscheidungen der Grundsatz gelten, dass die Synode erklärt, was zu geschehen hat, die schliessliche Ausführung dann aber bei der Ortsgemeinde liegt; genau wie die Ausübung kirchlicher Zucht allgemein dort zu geschehen hat, wo die Kirche lebt, in den Gemeinden und durch die Presbyterien. Die Synode kann und soll nicht die einzelnen Gemeinden regieren, sondern sich in der Regel auf Wegweisung beschränken.


1) Wir meinen die Synoden, vor allem aber die bischöflichen Gerichte. Vgl. jetzt: Codex Iuris Canonici, Liber quartus, “De Processibus”.

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Es hat aber seinen guten Grund gehabt, wenn man, um Unbesonnenheiten und Einseitigkeiten tunlichst zu vermeiden, in allen Fällen von Suspendierung oder Amtsenthebung und von Exkommunizierung schon sehr früh bestimmt hat, dass hier eine Ortsgemeinde nicht ohne Zustimmung ihrer Schwestergemeinden, in praxi also der Classis, entscheiden durfte. Dieser Grundsatz, dass trotz der bestehenden Eigenständigkeit der Einzelgemeinden diese doch immer auf die anderen zu hören haben, hat — schon vom Wesen der Kirche her — seine besondere Bedeutung in Bezug auf die Prediger als die vor allem berufenen Träger der Verkündigung. Darum ordnen die Kirchen eines “Verbandes” deren Ausbildung und Zulassung gemeinsam, darum sind die Gemeinden bei der Wahl wie bei einen eventuellen Vorgehen gegen einen Prediger an den Rat der Schwestergemeinden gewiesen. Aber auch hier gilt, dass grundsätzlich die letzte Entscheidung bei der Ortsgemeinde bleiben muss. Ihr kann das Recht der freien Wahl so wenig genommen werden, wie ihr andererseits die Freiheit bleiben muss, ihren Prediger, kommt es hart auf hart, auch gegen die Entscheidung der Synode zu behalten. Aber dies ist ein Grenzfall, den die Ordnung nicht mehr vorsehen kann; denn eine solche Gemeinde bricht damit faktisch die Gemeinschaft.1)

Die Synode kann, da ihr Zwang verwahrt ist, im äussersten Falle nur die Aufhebung der kirchlichen Gemeinschaft feststellen. Es ist begreiflich, dass man vor einem solchen Schritt immer wieder zurückschreckte. Man muss ja auch ernsthaft in Rechnung stellen, dass die Gesamtheit der Gemeinden — und also die “Synodalgemeinde” gerade dann, wenn das Wesen der Kirche im verkündigten


1) Eine Kirchenordnung kann so wenig Versicherung gegen Unglauben sein, wie sie jedermann das Recht zur kirchlichen Revolution einräumen kann. Vgl. hierzu H. Diem in dem schon erwähnten Aufsatz “De plaatselijke kerk in de KO” und ders., “Die Grenzen kirchlicher Gesetzgebung”, ZevKR, 1952, 1. Bd., S. 227 ff., besonders S. 239 f. Aber auch E. Schweizer, Leben des Herrn, S. 90 f.

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Worte lieg, es nicht zulassen darf, dass eine Gemeinde in die Irre geführt wird. Die Synode wird im Extremfalle — aber auch wirklich nur im Extremfalle — eingreifen müssen; sie wird einen Irrlehrer seines Amtes entheben, damit dann allerdings auch seine Verkündigung verurteilen und die Gemeinde auffordern müssen, die Gemeinschaft mit ihm aufzuheben. Es wird darauf ankommen, ob diese Gemeinde das Wort der Synode als Verkündigung des Willens und der Wahrheit ihres Herrn zu hören willig und bereit ist und begreift, dass ihr hier ein Dienst zur Erhaltung beim Glauben, zu ihrer Seligkeit angeboten und erwiesen wird.

Es gibt angesichts der Eigenart der potestas des Herrn in seiner Kirche, die nicht als ein verfügbares Gut verwaltet werden kann, keine letztgültige Abgrenzung zwischen “synodalen gezag” und “gezag” des Presbyteriums, der Gemeinde, weil in beiden derselbe Herr, dieselbe potestas am Werke ist. Es gibt aber gerade vom finalen Charakter einer KO her eine deutliche Tendenz dahin, dass alle synodale Arbeit und alle synodale Entscheidung, im Dienst der Verkündigung des Reiches Gottes stehend, auf ein Stärken und Zureichen zum eigentlichen Ort dieses Dienstes, zur Ortsgemeinde hin gerichtet sein muss. Nur wo dies deutlich wird, legt die Kirche in der Erfüllung ihres Auftrages als Organ des Reiches. Sonst lebt sie sich selbst — und würde dann auf die Dauer ihr Kirche-Sein verleugnen und verlieren.