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2. Kapitel

Der Zerfall der konsistorialen Kirche: Abraham Kuyper und die Doleanz.

 

I. Die ekklesiologische Theorie Kuypers.

 

Nur vor dem Hintergrunde dieser Situation kann das Auftreten Abraham Kuypers eine gerechte Würdigung erfahren. Kuyper wollte um jeden Preis die Kirche von der königlichen Verwaltungsorganisation lösen und die alte Synodalform wiederherstellen, vor allem aber der Schrift und dem Bekenntnis ihre Stellung als bindende Norm der Lehre wieder zurückgeben.

Durch die überragende Weite und Eigenart seiner geistigen Gesamtkonzeption wurde Kuyper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Führer des “gereformeerden volkes”, nicht nur auf kirchlichem, sondern auch auf politischem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet. Aber es würde über den Rahmen dieser Arbeit weit hinausführen, seine Bedeutung etwa als Führer der Antirevolutionären Partei, die er als Nachfolger Groen van Prinsterers aus einem relativ kleinen Häuflein zu einer ansehnlichen Machtgruppe formierte, oder als Gründer der Vrijen Universiteit Amsterdam, dem heutigen Zentrum des gereformeerden Geisteslebens in den Niederlanden, zu würdigen. Wir müssen uns darauf beschränken, der theologischen Konzeption seines Kirchenbegriffes nachzugehen, soweit dieser für das kirchliche Handeln der “Doleerenden” von Belang ist und für die Gestaltung der kirchlichen Ordnung zumindest in den “Gereformeerden Kerken in Nederland” entscheidendes Gewicht gewann.

Dieser ist in nuce bereits erkennbar in Kuypers Leidener Dissertation von 1862, einer Erweiterung der gekrönten Beantwortung einer Preisfrage der Groninger

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Fakultät, die zum Vergleich des Kirchenbegriffes bei Calvin und a Lasco aufgefordert hatte. Kuyper hatte sich damals für den Gemeindebegriff a Lascos entschieden, weil er besonders die theokratischen Gedanken Calvins und dessen Betonung der Ämter in der Kirche ablehnte.1) Seit jener Erstlingsarbeit hat ihn die Frage nach Wesen und Ordnung der Kirche nicht mehr losgelassen. Entsprechend dem allgemeinen theologischen Entwicklungsgang Kuypers, in dessen Verlauf er, vom Modernismus seines Leidener Lehrers Scholten ausgehend2), sich vorübergehend der Groninger Schule (Hofstede de Groot, Pareau) näherte, zeitweise enge Verwandtschaft mit den “Ethischen” empfand und es auch mit der Vermittlungstheologie französischer und deutscher Provenienz versuchte, bis er sich schliesslich doch


1) Abraham Kuyper, Disquisitio historico-theologica, exhibens Johannis Calvini et Johannis a Lasco de ecclesiis sententiarum inter se compositionem, Amstelodami, MDCCCLXII.
Kuyper bezeichnete selbst seine Beantwortung der Groninger Preisfrage als “doorgaande bestrijding van het Calvinisme”. (Confidentie, S. 46). Vgl. dazu Langman, Kuyper en de volkskerk, S. 35-42, wo er auch die wesentlichen Punkte der Kritik Kuypers an Calvin charakterisiert.
2) Scholten war seit 1843 Professor für Dogmatik in Leiden. Sein Hauptwerk: “De leer der Hervormde Kerk in haar grondbeginselen”, 2 Bd., 1. Aufl. Leiden 1848/50, 2. 1850/51, 3. 1855, 4. 1861/62. — Über ihn vgl. G. Brillenburg-Wurth, Scholten als systematisch theoloog. Diss. VU Amsterdam 1927.
Scholten steht in den Fußspuren von Hegel, Schleiermacher, Strauss und Rothe, welche dadurch auch auf Kuypers Theologie beträchtlichen Einfluss ausgeübt haben. Von Scholten dürfte Kuyper den von ihm dann weiter ausgeprägten Begriff der “Reformierten Prinzipien” übernommen haben, welche aus der Schrift, aber auch bei den reformierten Vätern und Bekenntnisschriften zu erheben sind. Wahrscheinlich geht auf ihn aber auch die hernach noch zu erwähnende Auffassung des Bekenntnisses als einer Art Satzung der religiösen Gemeinschaft Gleichgesinnter zurück. — Kuyper hat seinen ersten, geschätzten Lehrmeister, so sehr er später zu seinem Gegner wurde, niemals verleugnen können. Am wenigsten darin, dass er gleich ihm ein Bewusstseinstheologe mit einem starken Zug zur Immanenz gewesen ist.

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stärker Calvin zuwandte und unter dem Eindruck von Begegnungen in seiner ersten Gemeinde zum “gereformeerd Calvinist” wurde, lassen sich auf für Kuypers Kirchenbegriff verschiedene Stadien aufweisen. Sie brauchen hier nicht im einzelnen erörtert zu werden.1) Bemerkt werden muss indessen, dass sie sich nicht allein als Stadien eines rein theoretisch-wissenschaftlichen Weges begreifen lassen, sondern immer durch die kirchliche Lage und die jeweils gestellte Aufgabe bestimmt und deshalb allein von dort her voll zu verstehen sind.

Wesentliches Kennzeichen des Kuyperschen Kirchenbegriffes ist die strenge Unterscheidung zwischen der Kirche als Organismus und als “Instituut” (Institution).


1) Der Kirchenbegriff Kuypers ist gerade in jüngster Zeit Gegenstand zweier sehr beachtenswerter Dissertationen an Niederländischen Universitäten gewesen: P.A. van Leeuwen, O.F.M., Het kerkbegrip in de theologie van Abraham Kuyper (Nijmegen) und H.J. Langman, Kuyper en de Volkskerk (Groningen). Beide haben sich auch gründlich mit den genetischen Fragen auseinandergesetzt und die verschiedenen Perioden in Kuypers Denken und dessen vermutliche oder nachweisbare Wurzeln berücksichtigt. Vgl. Langman, a.a.O., S. 8-63 und 161 ff.; Van Leeuwen, a.a.O., im 1., 2. und 3. Kapitel (bis S. 121).
Für die folgende Darstellung sei noch vorweg bemerkt, dass immer nur einzelne Stellen aus dem reichhaltigen Schrifttum Kuypers (seine vollständige Bibliographie befindet sich in der Dissertation von E.E. Rosenboom, Die Idee einer christlichen Universität im theologischen Denken Abraham Kuypers. Göttingen, 1950) genannt sind, die als typisch gelten dürfen, sich aber durch ähnliche ersetzen liessen. Dabei sind, um dicht an der zur Entscheidung zwingenden kirchlichen Praxis zu bleiben, hauptsächlich die programmatischen Schriften und die systematische Abhandlung im Dogmatik-Diktat “Locus de Ecclesia” zugrunde gelegt.

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Nur als Organismus ist die Kirche Wesenskirche, nur dieser Organismus ist Objekt des Glaubens.1) Auf ihn und sein Wirken und Auftreten in der Welt konzentriert sich darum Kuypers Denken;2) in den ersten Jahren seines Wirkens hat er auf Einheit und Ordnung der instituierten Kirche überhaupt geringen Wert gelegt.

Als Organismus ist die Kirche das durch Gottes Tat in Christus wiederhergestellte, neue menschliche Geschlecht, dessen Grundlage Gottes Erwählung ist und in das die Eingliederung durch die Wiedergeburt als “eerste daad, die uit de uitverkiezing vloeit” erfolgt. Weil die Erwählung “cor ecclesiae” ist, muss der Geist beherrschendes Element in Kirche wie Theologie sein. Er ist dem Wort vorgeordnet, weil er durch die Einpflanzung des Glaubensvermögens ins Menschenherz den rechtfertigenden und heiligenden Prozess der Wiedergeburt bewirkt und damit für die Wesenskirche, den Organismus konstitutiv ist.3)

Dieser Primat des Geistes vor dem Wort hat aber nun Kuyper keineswegs zur Mystik geleitet. Während er dem


1) “Vergeet toch nooit, dat in de onderscheiding van de onzichtbare binnenzijde en de zichtbare buitenzijde der kerk het principale stuk onzer belijdenis ligt.” Separatie en Doleantie, S. 6. Zwar spricht K. hier nur von zwei Seiten, jedoch weist die Gesamtkonzeption viel stärker auf eine wesensmässige Trennung. Diese konsequente Scheidung zwischen der “waarachtige kerke Christi”, dem “geestelijk gebouw zelf”, dem “voorwerp van ons geloof” und jeder “aardschen vorm, waarin dit haar wezen tot openbaring komt”, zeigt sich besonders deutlich in E Voto, S. 109, 111 f. und passim. Vgl. auch Separatie en Doleantie, S. 8.
2) Haitjema (Abraham Kuyper . . .) weist darauf hin, dass Kuypers Hauptanliegen ein kulturphilosophisches gewesen sei; dies drücke sich symptomatisch auch in dem Vorrang der Veröffentlichung seiner “Encyclopedie der Heilige Godgeleerdheid” vor der Dogmatik aus, welche er niemals vollautorisiert habe drucken lassen (S. 345).
3) Kuyper, Locus de ecclesia, S. 268 f. E Voto Dordraceno, II, S. 128 ff., 133 f.

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Prinzip nach die Souveränität Gottes festhält, richtet sich sein Blick auf den menschlich erfassbaren Raum. Diese anthropologische Blickrichtung, die vermutlich auch die Vorliebe für a Lasco begründete1), folgert notwendig aus der Betonung der Wiedergeburt, durch welche die Erwählung sich realisiert. Der Gläubige, also der wiedergeborene Erwählte, wird zum beherrschenden Moment der Theologie und also auch der Ekklesiologie.2)

Das neue Leben des geistlichen Organismus drängt mit Notwendigkeit danach, sich in allen Gebieten menschlicher Lebensäusserung sichtbar zu offenbaren, da der wiedergeborene Mensch nun auch in dieser Qualität auftreten und handeln muss.3) Der so vom Gläubigen aus bestimmte Begriff “Kirche” kann, je nach Art der Fragestellung, eine verschiedene Füllung annehmen:
1. “Kirche” als die in Gottes Ratschluss begründete Zahl der Erwählten;
2. “Kirche” als das durch Wiedergeburt erneuerte menschliche Geschlecht, das Corpus Christi (der Organismus);
3. “Kirche” als Versammlung der Wiedergeborenen an einem bestimmten Ort und als deren Institution zum amtlichen “Dienst des Woords”;
4. “Kirche” kann schliesslich sogar sein der Effekt des Glaubens der durch Wiedergeburt im Zentrum ihrer Existenz “omgezetten” Menschen auf allen Gebieten ihres Lebens und wird hier etwa gleichgestellt mit dem Wachsen und Fortschreiten des Reiches Gottes (das Leben des Organismus).


1) Vgl. dazu Langman, a.a.O., S. 167 ff.
2) Vgl. Haitjema, a.a.O., S. 352.
3) Kuyper, Encyclopedie, III, S. 192: “Dit wedergeboren leven der menschheid op sociaal, ethisch en intellectueel gebied is de verschijning van de kerk als organisme, de metamorphose of kerstening van het algemeen menschelijk leven”. Vgl. auch Van Leeuwen, a.a.O., S. 149 ff.

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Man sieht sofort, in welcher Breite der Begriff “Kirche” hier — deutschen Ohren recht ungewohnt — verwendet wird, indem all das, was wir als Schwemmgut am Rande, als von Glaubensfragmenten und Reminiszenzen geprägte christliche Kulturphänomene, als “Christentum” oder auch “abendländische Geisteswelt” anzusprechen uns gewöhnt haben, hier unter ihm einbezogen ist. Die Kirche als Institution stellt nur einen Ausschnitt dessen dar, was “Kirche” ist und wie Kirche — nämlich als Kampftruppe, als Heerschar des Herrn zur Errichtung und Gewinnung seines Reiches — in der Welt handeln auftritt.1) Das Wesen der sichtbaren Kirche liegt in den Gläubigen oder, wie Kuyper es sogar auch ausdrücken kann: in der den Gläubigen eigenen “kerkformeerenden kracht”; hier muss es in der Immanenz angewiesen werden, während es für die unsichtbare Kirche direkt in Gott liegt.2) Da der Glaube als “adhaesievermogen” der Glieder an das Haupt der Kirche3) aber erst im Bewusstwerden der Wiedergeburt wirksam wird4),


1) Vgl. dazu E Voto . . . . II, S. 113 ff. — Hier liegt die eigentliche Quelle für die theologisch-theoretische Fundierung der christlichen Wissenschaft, der christlichen Gewerkschaft, der christlichen Rundfunkvereinigung, der christlichen Partei und ähnlicher Erscheinungen mehr, die uns in den Niederlanden heute allenthalben begegnen. Vgl. dazu im übrigen neben der Dissertation von Van Leeuwen besonders noch die umfassende Arbeit von S.J. Ridderbos, De theologische Cultuurbeschouwing bij Abraham Kuyper, Kampen, 1946 und A.A. van Ruler, Kuypers Idee eener christelijke cultuur, 1938 und die schon erwähnte Arbeit von E.E. Rosenboom.
2) “Het wezen der kerk ligt altijd uitsluitend in datgene, wat de kerkformeerende kracht in zich draagt, en deze kracht nu berust, naar wij zagen, voor de onzichtbare kerk rechtstreeks in God, en voor de zichtbare in de leden van het Lichaam Christi.” Tractaat van de Reformatie der kerken, S. 31.
3) Vgl. Locus de Ecclesia, S. 88.
4) Vgl. ebenda; die fides “beweegt zich . . . niet op het gebied van het zijn, maar van het bewustzijn”.

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ist die Gemeinde Gesinnungsgemeinschaft, entsteht sie durch freien Zusammenschluss auf Grund individueller Gewissensentscheidung.

Weil die Kirche wesensmässig ein Organismus ist, muss sie in ihrer irdischen Erscheinung den Gesetzen allen organischen Lebens unterworfen sein; sie muss sich also in mannigfachen, differenzierten Formen entwickeln, und Kuyper meint, dass dies in ihrer Geschichte tatsächlich geschehen sei. Diese Formen sind zunächst bestimmt durch den historischen Boden ihres Wachstums, durch die Volksart und verschiedene soziologische Momente. Aber da die sichtbare Kirche als Gesinnungsgemeinschaft definiert ist, erstreckt sich Kuypers These von der Pluriformität der Kirche, die er übrigens als eine der segensreichsten Früchte der Reformation im Gegensatz zur römischen Uniformität und dem modernen Drang zur “Eenvormigheid” betrachtet1), auch auf die Notwendigkeit verschiedener Gesinnungsgruppen im Kranze der instituierten Kirchen. Denn zwar bleibt die Wahrheit eine, aber ihre Erkenntnis und Aneignung ist so mannigfaltig, wie die Farben des im Prisma gebrochenen Lichtes.2) Kuyper plädierte in den siebziger Jahren dafür, dass jede Gesinnungsgruppe kirchlich ihre eigene Institution haben müsse.3)


1) Vgl. A. Kuyper, Encyclopedie der Heil. Godgel., III, S. 226 ff. — Ferner Van Leeuwen, a.a.O., S. 209 ff. 218; Praamsma, a.a.O., S. 133 ff.
2) Diese Vorstellung hängt eng damit zusammen, dass die instituierte Kirche Gründung der Bekenner ist, und dass nicht das Wort Gottes, sondern der — dem Bewusstsein zugerechnete — Glaube des Menschen hier den Ausschlag gibt. Man könnte sagen: Die Kirche ist Gestaltwerdung des Glaubens und insofern nur mittelbar des Wortes. — Auf Kuypers — wohl aus der Schule Scholtens mitgebrachte — Vorliebe für naturphilosophische Begriffe und Bilder hat übrigens auch Haitjema (Abraham Kuyper . . ., S. 344) hingewiesen. Er erklärt sie aus dem kulturphilosophischen Anliegen der Transponierung Calvinischer Ideen in die Gedankenwelt der Moderne.
3) Vgl. A. Kuyper, “Vrijheid”, Rede vom 23.3.1873; ferner seine Broschüre “De Sleutelmacht”, wo er sogar auf die hernach so zentrale Lehrzucht um der Gewissensfreiheit willen verzichten will. — Hierzu weiter G. Kuypers, Abraham Kuyper over het gezag der synoden, S. 25.

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Diese Pluriformitätslehre ist in den Niederlanden zunächst von dem katholischen Pater Bensdorp, später aber auch von reformierten Theologen teilweise scharf kritisiert worden, weil hier fremde Kategorien auf die Kirche angewandt würden.1) Ob und wieweit diese fremden Kategorien mit Einflüssen der deutschen Romantik gleichzusetzen sind oder sich selbständig im niederländischen Raum entwickelt haben, dürfte sich nur mit Mühe feststellen lassen und soll hier auch nicht untersucht werden. Offensichtlich aber haben sowohl für die Pluriformitätslehre als auch besonders für die Vorstellung der Kirche als Gesinnungsgemeinschaft und für den Ansatz des Kirchenbegriffes in den Gläubigen neben den philosophischen Quellen Gedanken des Reveil durchgewirkt. Sie mögen Kuyper zu einem guten Teil durch Bilderdijk, Da Costa und die niederländische Erweckungsbewegung zugekommen sein, haben aber theologisch ihre Wurzel höchstwahrscheinlich bei dem schweizerischen Erweckungstheologen Alexander Vinet, dessen Schriften Kuyper nicht unbekannt waren.2)

Es ist verständlich, dass Kuyper, wenn er die Pluriformität der Kirchen vertrat, in der Anwendung der Begriffe wahre und falsche Kirche äusserste Zurückhaltung üben musste und die verschiedenen Institutionen — und zwar je örtlich — nach dem Grade ihrer schriftgemässen Ordnung nur als “meer of minder zuiver” beurteilt wissen wollte. Denn wahre Kirche konnte im Grunde nur der Organismus sein.3)


1) Vgl. Bensdorp, Pluriformiteit, een fundamentele misvatting . . ., 1901; eine Übersicht der weiteren kritischen Schriften bei Van Leeuwen, a.a.O., S. 218 ff.
2) Vgl. dazu Van Leeuwen, a.a.O., S. 265 ff.; Langman, Kuyper en de volkskerk, S. 12 ff., 162, 167 ff. Für die theologische Konzeption A. Vinets vgl. in einzelnen die Göttinger Dissertation von H. Korth, Wesen und Ordnung der Kirche im theologischen Denken Alexander Vinets, 1949. — Mittelbar dürfte hier übrigens auch eine Abhängigkeit von Schleiermacher bestehen.
3) Vgl. A. Kuyper, Tractaat, S. 176 ff.; Locus de Ecclesia, S. 253 ff. Ferner auch Van Leeuwen, a.a.O., S. 201 ff.

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In der Kirche als Organismus pflanzt sich das neue Leben durch die Generationen fort, erscheint der Impuls des Geistes gleichsam in den Blutstrom aufgenommen. Im Gedanken des Organischen gründet für Kuyper die Kontinuität des Gottesvolkes; dieser Gedanke ist bei ihm das stärkste Gegengewicht gegen Individualismus und Individualisierung.1)

Nichtsdestoweniger hat er die Volkskirche abgelehnt und sogar bekämpft. Langman hat in seinem schon genannten Buche gezeigt, dass Kuypers Polemik gegen sie, so sehr aus der historischen Situation begründbar, theologisch in der Hintansetzung der speziell in der niederländischen Kirche so ausgeprägten “leer van het verbond” verwurzelt ist.2) In der Tat ist die Bundestheologie — wesentliche Stütze gerade der Volkskirche — bei Kuyper aus dem Mittelpunkt des Denkens verdrängt und durch die Erwählung und die Wiedergeburt ersetzt worden. Beiden aber eignet, wie wir sahen, eine Tendenz zum Individuellen; das liegt für die Wiedergeburt, dem konstitutiven Element der Kuyperschen Reich-Gottes-Theologie, am stärksten auf der Hand. Dadurch aber verschiebt sich der Akzent von der Zusage Gottes zum wiedergeborenen Menschen hin. Dies hat z.B. in der Bestimmung des Wesens der Kirche zur Folge, dass dies nicht in Wort und Sakrament, sondern in den “geloovigen”, den Wiedergeborenen gesucht wird. Der Gedanke des “foedus”, ohnehin auch im entsprechenden Locus der Dogmatik als Zusammenschluss


1) Im Tractaat, S. 39, schreibt er: “Komende uit de geestelijke kerk en pogende, die te openbaren, weten ze (die Gläubigen), dat ze die kerk niet als afgetrokken individuen formeerden, . . . Zij zijn met hunne kinderen, of wil men, zelfs met het zaad in hunne lendenen in die kerk ingetreden, en al wat hun geboren wordt, wordt dus in die kerk geboren . . . . En zoo ook wordt de levende stroom der kerk niet in stand gehouden door enkele bekeerlingen, die gij er in mengt, maar veeleer en veelmeer door dat nieuwe leven, in de kinderen, die geboren worden, welk leven voortkomt uit God . . .”. Der Anklang an Schleiermacher ist hier deutlich, der in seiner Glaubenslehre (§ 117,3) von der Bindung der Wiedergeburt des einzelnen an die “ebenfalls in der göttlichen Weltordnung wurzelnde Naturform des Zusammenlebens je zwei aufeinander folgender Generationen” spricht.
2) Vgl. Langman, a.a.O., besonders S. 165 ff.

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gleichberechtigter Personen zur Erfüllung einer Aufgabe verstanden1), taucht nun in der Gestaltung der sichtbaren Kirche wieder auf im Prinzip der Konföderation.

Wir können uns nun endlich der instituierten Kirche, dem “Instituut voor den Dienst des Woords” zuwenden. Diese ist zwar nur eine, aber doch die wichtigste Äusserungs- oder Offenbarungsform des Organismus, dazu bestimmt, das Volk des Herrn unter seinem König zu versammeln, das neue Leben der Gnade und Wiedergeburt bewusst zu machen und die so versammelte Gemeinde zu trösten und in der Heiligung fortschreiten zu lassen.2) Diese Institution steht insbesondere im Hinblick auf die in ihr zu übende Regierung als Einrichtung der “particulieren genade” Gottes in einer gewissen Parallelität zum Staat als der Einrichtung der “gemeenen gratie” und ist wie dieser notwendig um der Sünde willen.3) Sie gehört nicht — im Gegensatz zu den Personen, durch welche die unsichtbare Kirche sichtbar wird — zum Wesen, sondern lediglich zum “Welwezen” der Kirche.4) Den Gedanken der Heilsanstalt im römischen Sinne lehnt Kuyper entschieden ab; dem theologischen Ansatz in der Wiedergeburt als in der Welt geschehende und gewissermaßen verrechenbare Realisierung der Erwählung entsprechend überwiegt der Charakter als Sammelplatz des Volkes Gottes.5)

Die Gläubigen, durch die Einpflanzung des neuen Lebens und damit in gewissem Sinne der “kerkformeerenden kracht”, bereits eine “ecclesia apparens” bildend, sind verpflichtet, “tot kerkformatie over te gaan”6), d.h.


1) Vgl. dazu Locus de Foedere. Besonders interessant ist die Definition der trinitarischen Gottheit als “foederale eenheid”, wodurch Gott selbst “levende en eeuwige grondslag” der “verbondsidee als zoodanig” ist. Ebenda § 5, S. 80.
2) Vgl. Kuyper, De gemeene Gratie, II, S. 238; E Voto, II, S. 134 ff.; Van Leeuwen, a.a.O., S. 176 f.
3) Vgl. Kuyper, Tractaat, S. 24; Locus de ecclesia, S. 268 und § 13 De ecclesiae regimine.
4) Vgl. E Voto, S. 146 f.; 150.
5) Vgl. De gemeene Gratie, III, S. 116, 126.
6) Vgl. Kuyper, Separatie en Doleantie, S. 12 ff. — S. 9 wird ihr Auftrag mit “stichting van een kerk” bezeichnet.

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insbesondere Amtsträger zu wählen und einzusetzen. Um eine Kirche als Institution entstehen zu lassen, ist ausser (a) dem durch Christus, dem Herrn der Kirche, gegebenen Antrieb (b) eine Willensentscheidung der Gläubigen zum Zusammenschluss und (c) der Ausdruck ihrer Einheit im Bekenntnis erforderlich.1) Die Kirche als “algemeene kerk” ist zwar auch in ihrer sichtbaren Gestalt durch Christus gestiftet, die örtliche Kirche aber nur gleichsam vom typos her; in Erscheinung tritt sie erst “door het handelend optreden der geloovigen”.2) Und allein diese “vrije wilsdaad” der dazu einzig und allein durch ihr Bekenntnis qualifizierten Personen schafft die sichtbare Kirche und lässt sie fortbestehen. Daran hat sich Gott “instrumenteel gebonden”.4) Kommt die instituierte Kirche durch freien Zusammenschluss der “belijders des Heeren” zustande, so kann man als ihre Basis die Einmütigkeit des Glaubensbewusstseins bezeichnen5), welche in den “Formulieren van Eenigheid”, dem “accoord van kerkelijke gemeenschap” ihren Ausdruck findet.

Die “potestas ecclesiastica”, ohne deren Ausübung ein Bestand der institutionellen Kirche nicht denkbar ist, liegt primär im Amt der (oder besser: aller) Gläubigen.6) Sie bestätigen sie in der Regel aber nur


1) Vgl. Kuyper, Tractaat, S. 27 f. Die ersten beiden Glieder sind übrigens bei Schleiermacher vorgebildet; vgl. a.a.O., § 115.
2) Vgl. Kuyper, Separatie en Doleantie, S. 12, 15. Vgl. Kuyper, Tractaat, S. 48.
3) Vgl. Kuyper, Separatie en Doleantie, S. 9 f.
4) Vgl. Kuyper, Tractaat, S. 27.
5) Die Bekenner treten “met geen mensch . . . anders dan uit vrije overtuiging in kerkelijke gemeenschap”. Separatie en Doleantie, S. 10.
6) Dieser Terminus wird bei Kuyper zu einem speziell kirchenrechtlichen Begriff. Er setzt sich bei seiner Definition von Luther, aber auch von seinem Zeitgenossen Bavinck ab. “Ambt der geloovigen” bezeichnet das eine Amt aller, “die zich door belijdenis en stipulatie met een geïnstitueerde kerk in een vaste betrekking . . . geplaatst” haben. Es umschließt die Verantwortung für Lehre und Ordnung in der Gemeinde, die Berufung der Amtsträger und Kontrolle ihrer Wirksamkeit nach dem Maßstab der Schrift. Vgl. dazu Separatie und Doleantie, S. 10, 25 ff., 34.

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durch die personelle Anweisung von Amtsträgern. Die besonderen Ämter — und durch sie mittelbar aso die in diese Ämter berufenen Amtsträger — empfangen ihre Potestas direkt vom Herrn der Kirche, von Christus her.1) Es ist an dieser Stelle sichtbar, wie zum Gemeindebegriff a Lascos mit der starken Akzentuierung des Mandates Elemente der strengeren Ämterlehre Calvins hinzugetreten sind. Weil die eine Kirche nicht anders als in den örtlichen Gemeinschaften, in ihnen aber wiederum auch im vollen Gehalt in Erscheinung treten kann, ist die Ortsgemeinde “ecclesia completa”. In ihr allein ist ja auch ein kirchliches Zusammenleben in striktem Sinne möglich.2) Kuyper stützt sich für seine These besonders darauf, dass die Schrift über Kirchen auch dann in der Mehrzahl spricht, wenn sie in einen politisch und territorial zusammengehörigen Gebiet liegen, “terwijl een afzonderlijke term voor de openbaring van de kerk in een geheel land ontbreekt”.3) Das Bild von den sieben Leuchtern in Apok. 2 wurde dabei zum locus classicus. Sie deuteten auf mehrere in sich ganzheitliche und voneinander prinzipiell unabhängige Gemeinden, denn sonst hätte von einem Leuchter mit sieben Armen die Rede sein müssen.

So hat auch die potestas ecclesiastica, die Gesamtheit aller kirchlichen Vollmachten, im “Amt der Gläubigen” verwurzelt, ihren Wirkungskreis und ihre Legitimation nur in der Ortsgemeinde. Denn Christus hat kein oberes “gezag” eingesetzt, nachdem der ökumenische Auftrag der Apostel, von der Wirksamkeit ihrer kanonisierten Briefe abgesehen, mit deren Tode erloschen ist.


1) Vgl. Kuyper, Locus de ecclesia, S. 269; Tractaat S. 19 ff.
2) Vgl. Tractaat, S. 33.
3) Vgl. Tractaat, S. 35; Locus de ecclesia, § 8, S. 155, 169 ff. De Heraut, Nr. 751.

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Die ecclesia localis oder particularis ist also die eigentliche Institution, von der alles kirchliche Denken auszugehen hat. Sie ist zwar Teil der Allgemeinen heiligen Kirche, die in der Gesamtheit der Erwählten besteht, darf aber niemals zur blossen Parochie einer grösseren Einheit, heisse sie nun Welt-, Volks- oder Landeskirche, werden. Von der Freiheit und das Recht des einzelnen Gläubigen in der Ortsgemeinde — also von der Wirkungsfreiheit des “ambt der geloovigen” — und von der selbständigen Position der einzelnen Gemeinden den anderen gegenüber hängt der Wohlstand der Kirche ab.1) Die eine unsichtbare Kirche und die Menge der vielen sichtbaren Ortsgemeinden sind die einzigen Grössen kirchlicher Einheit, die Kuyper zulassen will.2) Er befindet sich darin ja übrigens durchaus im Gefolge Calvins, dessen Denken sich ganz wie bei Kuyper um diese beiden Grössen bewegte, ja, der sich dem erstmalig durch die Franzosen realisierten Gedanken einer organisatorischen, überörtlichen Kirchengemeinschaft anscheinend nur der Not gehorchend zugewandt hat; in seiner Ekklesiologie jedenfalls hat er ihn auch nach der Pariser Synode niemals direkt thetisch vertreten.

Können mehrere Kirchen zusammen schon keine Einheit bilden, so muss auch ihr Zusamenschluss sekundärer Natur sein. Er ist nur als freier, konföderativer Verband denkbar.3) Der Gläubige kann immer nur Glied des einen grossen Organismus und — in der sichtbaren Komponente — seiner örtlichen Gemeinde, des “plaatselijken instituuts” sein. Es gibt keine Mitgliedschaft einzelner in einer “kerkgenootschap” oder Landeskirche, weil Mitgliedschaft nur da legitim ist, wo sie auch faktisch betätigt werden kann.4) Kuyper hat die


1) Vgl. Locus de ecclesia, S. 79, 237, 254 ff. Tractaat, S. 34 ff., 147.
2) Kuyper schreibt in Separatie en Doleantie, S. 8: “dat geestelijk mystieke lichaam, een en ondeelbaar, zonder vlek en rimpel heilig; . . . maar . . . dit lichaam . . . kon . . . in de menschelijke verhoudingen niet anders optreden dan gedeeld naar plaats en tijd, en behept met de gevolgen van menschelijke feilbaarheid en onheiligheid”.
3) Vgl. Kuyper, Locus de ecclesia, S. 174.
4) Vgl. ebenda, S. 176.

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Inklination seiner Gedanken zum Independentismus selbst deutlich empfunden und versucht, sich von diesem abzugrenzen.1) Er erkennt an, dass die Independenten sich weitgehend in der reformierten Linie bewegen, sofern auch für sie die Erwählung cor Ecclesiae und das Wort Gottes norma Ecclesiae ist. Der Unterschied sieht er aber darin, dass sie von jedem beliebigen Kreise von Gläubigen statt ausschliesslich von der Ortsgemeinde ausgehen2), dass sie zumeist die Regierung der Kirche in die Hände der ganzen versammelten Gemeinde legen und die Funktion besonderer Ämter ablehnen. Schwerer noch wiegt der Vorwurf, dass sie sich der Einführung eines Bekenntnisses, eines Katechismus und gemeinsamer liturgischer Formulare widersetzen und im Zusammenhang damit kein “synodaal gezag” über die einzelnen Gemeinden gelten lassen wollen.3) Der Independentismus beraubt die sichtbare Gestalt der Kirche ihrer vollen Kraft und lässt nur noch ein Schattenbild derselben übrig.4)

So sehr Kuypers eigene Argumentation mit independentischen Gedanken durchtränkt ist, wogen die Gegengewichte bei ihm schwerer als bei manchen seiner Kampfgenossen. Eine der vielleicht unterbewussten Triebkräfte war seine Sehnsucht nach der Bändigung des Individualismus durch die geschlossene und starke Kirche, die ihn seit der Lektüre eines Romans über die anglikanische Kirche bestimmte.5)


1) Des Independentismus wurde er nicht nur von den Hervormden, sondern zumindest bis 1892 auch von den Christelijk Gereformeerden bezichtigt. Vgl. dazu etwa De Cock, a.a.O., S. 19, 24.
2) Ob dies so völlig unbiblisch ist, wie Kuyper meinte, darf angesichts der Verwendung von ecclesia in Röm. 16, 5; 1. Kor. 16, 19; Kol. 4, 15 bezweifelt werden. Jedenfalls hat Paulus Orts- und Hausgemeinde gekannt und ihnen offenbar gleiche Würdigkeit beigemessen.
3) Tractaat, S. 50 schreibt Kuyper, dass die Gereformeerden daran festhalten, “. . . . dat het gezag van Christus over heel zijn kerk gaat en dus ook de tucht van meerdere kerken noodzakelijk was, om de enkele kerken te houden in de paden des Woords”.
4) So etwa Locus de ecclesia, S. 171.
5) Ch.M. Younge, The Heir of Redcliffe, Leipzig 1885. Kuyper schreibt in Confidentie, S. 43, dass ihm durch dies Buch sein “ideaal voor het kerkelijk leven” in dem “flüchtigen Wort” von der Kirche als “een moeder, die van de jeugd af onze schreden leidt!” offenbart worden sei.

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Wir dürfen Van Leeuwens Urteil hier wohl übernehmen: “Dat hij toch niet geheel tot independentisme verviel, is te danken aan zijn sterk besef van de eenheid der Kerk als lichaam van Christus en als organisme en aan zijn voorliefde voor de vaste kerkvorm en het kerkelijk gezag, dat hij juist in de plaatselijke kerk in ideale vorm belichaamd zag”.1)

Wenn Kuyper nun vom Verband der Kirchen und den darin geltenden Regeln spricht, verlagert sich in dem bisher aufgezeigten Schema der Akzent.2) Das geschieht in einer gewissen Parallele zur Formation der Ortsgemeinde. Die Gläubigen haben ihre Qualität und ihr Amt durch Gottes Tat an ihnen bereits vor und ohne Zutun der Kirche;3) aber sie haben die Pflicht, sich zum Institut zusammenzuschliessen, um die Einheit des Leibes Christi besser zur Offenbarung zu bringen.4) Jetzt lautet die These: Die (örtlichen) Kirchen sind vollwertige und komplette Institute, aber vom soma her gesehen doch erst eine teilweise Offenbarung; sie müssen darum das sie ohnehin längst essentiell verbindende Band des Glaubens auch nach aussen hin durch ihren Zusammenschluss zu einem Kirchenverbande sichtbar in


1) Van Leeuwen, a.a.O., S. 182.
2) Die Probleme wurden für ihn in dem Augenblick brennend, als der Kampf gegen die “synodale besturenorganisatie” sich dem Konflikt nähert und damit die Aufgabe entstand, die neu zu bildende Kirchen auf dem Boden der alten Dordrechter Ordnung zu einer Handlungseinheit zusammenzufassen.
3) Vgl. Locus de ecclesia, S. 184. Wir hatten vorher gezeigt, wie stark sich K. an Schleiermacher anlehnte. Hier weicht er entschieden ab. Für Sch. geht die Kirche dem Gläubigen vorauf. Der Wiedergeborene findet sich immer schon in ihrer Gemeinschaft vor; durch den Akt der Wiedergeburt wird er unmittelbar zum “selbstthätigen Mitglied der christlichen Kirche” (Schleiermacher, a.a.O., § 113 und 114,2). Was Sch. auch für die sichtbare irdische Gemeinschaft noch aussagt, gilt bei K. nur noch für den Organismus.
4) Vgl. Locus de ecclesia, S. 189. Hinsichtlich der Bildung (“stichting”) der Kirche klingt allerdings Sch.s § 115 an, der vom “Zusammentreten der einzelnen Wiedergeborenen” spricht.

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Erscheinung treten lassen.1) So wird diese in die Gemeinden bzw. ihre Presbyterien gelegte potestas auch synodal zusammengefasst, und es entsteht ein Regiment über die Kirchen in ihrer Gesamtheit.2) Diese Verbindung muss kraft ius divinum zustande kommen. Sie ist nicht bloss begründet in dem Wunsche nach dem Besitz einer Berufungsinstanz oder der reinen Nützlichkeitserwägung, dass sich gewisse Belange besser gemeinsam versorgen lassen, sondern notwendig, weil die zahlreichen und verteilten Charismata, die Gnadengaben, zum gemeinsamen Nutzen aller bestimmt sind, und weil eine isolierte Kirche “een gebroken leven leidt”. Nur im Zusammenschluss können die Kirchen ihrem Auftrag zum Zeugnis für den Namen ihres Herrn, zum Kampf gegen Lüge und Ketzerei (durch Aufstellung und Verteidigung ihres Bekenntnisses) und zum Zeugnis der Liebe (diakonischer Dienst, gegenseitige Unterstützung) gerecht werden.3)

Dieser durch freien Zusammenschluss entstehende Verband bleibt für das Wesen der Institution akzidentell, kann nur “het welwezen aan het wezen toevoegen”.4)


1) Vgl. Locus de ecclesia, S. 252 ff., 256; Tractaat S. 17, 50. “Een kerk mag niet op zich zelven blijven staan, daar zij niet de kerke Christi is, maar slechts een openbaring van de kerke Christi op ééne enkele plaats”. Tractaat, S. 77.
2) Vgl. G. Kuypers, Abraham Kuyper over het gezag der synoden, § 17. G.T.T., Jg. 49, S. 105.
3) Vgl. Locus de ecclesia, S. 252 ff. (§ 12 de ecclesiarum vita communi).
4) Die ihm persönlich vorschwebende und im “gereformeerden kerkrecht” gelehrte Synodalverfassungsform hält Kuyper übrigens keineswegs für direkte und allgemein verbindliche Einsetzung Christi. Nur die Forderung der kirchlichen Gemeinschaft als solche beruht auf einem ius divinum positivum, nicht Modus und Form. Er bestreitet auch in “Antirevolutionaire Staatkunde”, Jg. 1916, I, S. 465/66, dass der Acta 15 erwähnte Apostelkonvent die erste Synode im reformierten Sinne gewesen sei; zu dieser Zeit habe noch gar keine synodale Organisation bestanden. Diese ist unter der himmlischen Herrschaft Christi erst im Laufe der Jahrhunderte, im Zuge der natürlichen Entwicklung der Kirchen entstanden. Vgl. Kuyper, Pro rege, II, II. Hoofdst. 6, S. 170 ff.; G. Kuypers, a.a.O., S. 110.

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Seine unabdingbare Voraussetzung ist allerdings — genau so wie für die örtliche Institution — “gelijkgezindheid, overeenstemming in beginselen”.1) Diese findet ihren Ausdruck im gemeinsamen Bekenntnis, das damit zum Statut nicht nur der Ortsgemeinde, sondern auch des Verbandes wird; und zwar seinem Wortlaut und seiner Interpretation nach. Seine Ausformung und Reinerhaltung sind erste Aufgabe des Verbandes.2) Es darf keine organisatorische Einheit geben, der nicht eine innere — ein gleicher Gemeingeist im Selbstbewusstsein, könnte man mit Schleiermacher sagen — entspricht, so polemisiert Kuyper gegen die Hervormde Kerk.3) Die grössere, im Organismus begründete und prinzipiell über alle Kinder Gottes auf Erden sich erstreckende Einheit der Kirche kann ihren Ausdruck nur in der gegenseitigen Anerkennung der Taufe zwischen den verschiedenen Kirchengemeinschaften finden.4) Vollendete Einheit in Bekenntnis, Kirchenregierung und Liturgie ist ein himmlisches Ideal. Auf Erden kann “Correspondentie” im weiteren Sinne von organisatorisch geordneter Gemeinschaft nur zwischen solchen Kirchen bestehen, die in diesen Stücken schon jetzt gleicher Überzeugung sind und die durch ihre geographischen und nationalen Verhältnisse schon ohnehin einander zugeordnet und aufeinander angewiesen


1) Vgl. Kuyper, Tractaat, S. 77 f. Es ist deutlich, dass die Einheit in den “beginselen” der eigenen Überzeugung etwas anderes ist als die Einheit in dem, den die Gemeinde bekennt.
2) “Eenheid van belijdenis is de onmisbare grondslag, waarop alle kerkelijke correspondentie, en dus ook alle kerkverband moet staan”. Tractaat, S. 77. “Formulieren van eenigheid vast te stellen, is alzoo de eerste plicht van alle kerken, die in kerkverband treden”. Ebenda, S. 78.
3) Kuyper, Tractaat, S. 77 f.; Locus de ecclesia, S. 252 ff.
4) Vgl. Kuyper, Locus de ecclesia, S. 253; Tractaat, S. 147.

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sind.1) Das Bekenntnis ist dabei Ausdruck der Aneignung des gelesenen und gehörten Wortes durch die Kirche, also ihres Glaubensbewusstseins, nicht von gleicher Dignität wie das Wort selbst, sondern Kompass für die Gläubigen zwischen den vielen Auslegungen der Schrift hindurch. Aber der einzelne kann in seiner jeweiligen Gemeinschaft nur leben und besonders natürlich amtliche Funktionen ausüben, wenn er ihrem Bekenntnis vorbehaltlos zustimmt.2) Kuyper will die Kirche des einen Bekenntnisses. Es bleibt die Frage, wie weit diese in der Zustimmung zu den “Formulieren van Eenigheid” basierte Einheit nicht auch eine sehr menschliche Begrenzung sein könnte; sie soll hier nur aufgeworfen werden.

Für den Bestand der institutionellen Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen hält Kuyper — wie ja übrigens auch Calvin — die Ausübung von Regier-Funktionen für unabdingbar notwendig und vom Zeugnis des NT her begründet und gefordert. Er stellt dabei zunächst den Grundsatz auf: “Geestelijk streng monarchaal, zijnde een koninkrijk onder het absolute Koningschap van den Christus, is de Kerk . . . in het zichtbare beslist demokratisch, maar voor haar bewerking aan den aristokratischen vorm gebonden”.3) Und Aristokratie definiert


1) Wie sehr Kuypers Denken dabei von Argumenten des Volkscharakters und der mit ihm verbundenen Prädisposition für bestimmte Formen in Bekenntnis und Gottesdienst und damit auch zu seiner Lehre von der Pluriformität der Kirche (diese hat allerdings neben der Volksart eine zweite, gelegentlich sehr betonte Wurzel in der Verschiedenheit von Gesinnung und Bewusstsein) gelenkt wird, hat Praamsma, a.a.O., S. 130 ff. gezeigt. Kuyper betrachtete als besten Garanten der Einheit der Kirche im Wesen von “belijdenis, eeredienst en regeering” ein Weltkonzil aller Kirchen “zoo dikwijls de nood der kerken dit eischte”. Pro rege II, S. 191 f. Aber dieser Gedanke ist nie voll zum Tragen gekommen.
2) Vgl. Tractaat, S. 25 ff., 78; Locus de ecclesia, S. 261 ff. Über Kuypers Auffassung von Bekenntnisbildung und -bindung und von dessen Änderung oder Neufassung vgl. im übrigen besonders bei Praamsma, a.a.O., S. 91 ff.
3) Tractaat, S. 43.

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er für jedes Lebensgebiet als “regeering derzulken, die als de besten gelden in die kwaliteit, die op het gegeven gebied primeert”.1) Weil die institutionelle Kirche den Gesetzen allen organischen Leben unterliegt und der Glaube, wenn der Geist erst einmal seinen Keim ins Menschenherz gepflanzt hat, als eine geradezu naturhafte Qualität behandelt wird, ist also “aristokratie op kerkelijk gebied regeering der vroomsten”. Von hier aus hat Kuyper sich dann in der kirchlichen Praxis bemüht, den Regierungsanspruch der “waren belijders” durchzusetzen2), wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden.

Dieser aristokratische Grundsatz kommt bei der Zusammenstellung der Presbyterien zur Wirkung. Sie sind die einzigen ständigen Kollegien zur Kirchenregierung. Ihre Mitglieder bekleiden die einzigen direkten Ämter in der Kirche; es gibt keine Amtsträger für einen grösseren Bereich als den der Ortsgemeinde. Alle andere Machtausübung leitet sich von ihnen her, ist “potestas derivata”; zur Ausübung der gemeinsamen Regierung und gegenseitigen Zucht bringen die Presbyterien ihre Macht auf den periodischen Classical- und Synodalversammlungen zusammen. Diese sind im Grunde erweiterte Presbyteriumssitzungen, durch das Repräsentativsystem reduziert. Sie repräsentieren, da sie die Amtsträger eines ganzen Gebietes vereinen, die Macht Christi über seine ganze Kirche in diesem betroffenen Gebiet.3) Ihre Beschlüsse sind Beschlüsse der Kirchen über sich selbst; darum ist die Abordnung entscheidend, haben sich die Abgesandten der Kirche durch ihre “geloofsbrieven” auszuweisen. Auf das “wettige” Zustandekommen


1) Kuyper, Wat moeten wij doen, S. 12.
2) Vgl. H. Berkhof, Geschiedenis der Kerk, S. 295.
3) Vgl. Tractaat, § 31; G. Kuypers, a.a.O., S. 29, 34. Dass übrigens dieser Synodalbegriff keineswegs exklusiv-reformiertem Gedankengut zugehört, hat K.G. Steck in seinem wichtigen Aufsatz: “Der Locus de Synodis in der lutherischen Dogmatik” (Theol. Aufsätze, Karl Barth zum 50. Geburtstag, S. 338 ff.) gezeigt.

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der Synoden legt Kuyper im Gegensatz zu Calvin, dem nur an der Übereinstimmung der Synodalbeschlüsse mit dem Zeugnis der Schrift lag, während der erst in Frankreich und natürlich bei a Lasco eingeprägte Gedanke der Abordnung zurücktrat, entschiedenes Gewicht. Abordnung und Auftrag der einzelnen Gemeinden dürfen jedoch nicht die Synodalen in ihren Entscheidungen im einzelnen festlegen. Wohl können sie vor einem Abweichen von der ihnen aufgetragenen Linie zu einer nochmaligen Rücksprache mit ihrem Auftraggeber verpflichtet werden; aber eine unbedingt bindende Instruktion lehnt Kuyper ab.1) Die Synode darf nicht zu einem blossen Stimmlokal degradiert werden, sie muss Platz gemeinsamer Beratung bleiben. Die Macht über die Einzelgemeinde liegt also nicht in der Synode als Einrichtung oder gar Körperschaft, erst recht nicht in ihrem Charakter als Kirchenleitung, sondern sie wird durch alle Kirchen gemeinsam und dadurch von Fall zu Fall allerdings auch gegenüber einer einzelnen ausgeübt.

Das “gezag” der Synode findet seine Begrenzung, abgesehen von der Autorität der Schrift, darin, dass keine Synodalentscheidung einem Presbyterium oder überhaupt einer Versammlung der kleineren Gemeinschaft vorgreifen, diese ausschalten darf. Was in ihr behandelt und beschlossen werden kann und nicht von ihr ausdrücklich der Synode vorgelegt wird, ist deren Entscheidung entzogen.2) Nur wo die akute Gefahr einer Deformation der Gemeinde entsteht, wo es um die Treue zum Bekenntnis und die Innehaltung der gemeinsamen Ordnung der Kirchen geht, kann der Synode die gleiche Macht zufallen wie einem Presbyterium: Sie kann zitieren, kann — sofern ihr eine Angelegenheit oder ein Verfahren von unten her übertragen wird — selbst zur Absetzung von Amtsträgern und zur Exkommunikation von Gliedern übergehen.3) Ihr Ziel muss dabei sein, auf dem


1) Vgl. Kuypers, a.a.O., S. 119.
2) Vgl. dazu Kuypers, a.a.O., S. 126.
3) Vgl. ebenda, S. 126 f.

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kürzesten Wege eine geordnete, selbständige Regierung in der (örtlichen) Kirche wiederherzustellen. Sie darf auf keinen Fall die Regierung einer Ortsgemeinde auf die Dauer an sich ziehen.1) Sie ist kein “bestuur”, sondern dienendes Organ. Auch ihre Deputaten haben sich streng an ihre Aufträge zu halten und besitzen keine selbständige Entscheidungsvollmacht.

Weil hier eine geordnete Vertretung aller Kirchen gegenwärtig is, darum steht eine Synode als “officieele en wettige kerkelijke vergadering hoog in geestelijke autoriteit boven alle particuliere conferenties . . . of groepeeringen van geloovigen”. In einer “vergadering van Christus’ koninklijke ambtenaren” kann der Heilige Geist seine Wirkung besser und kraftvoller offenbaren als in der “beperktheid van den enkele”.2)

Einzig bei einer so zusammengestellten, also gewählten Versammlung der Amtsträger liegt dann auch das “gezag over de ambtsdragers”, das “nooit anders gevormd” wird, “dan door de bijeenvoeging van hun aller gelijke auctoritas”, örtlich im Presbyterium, für mehrere Kirchen zusammen in Classen, Synoden, Concilien. So allein kann die Gefahr der Hierarchie gebannt werden. Besondere, höhere Verwaltungsinstanzen und Gerichtshöfe, wie sie die reglementäre Kollegialorganisation kannte, müssen abgelehnt werden.3) Ein ständiges, koordinierendes Organ, eine verwaltungsmässige Zentrale fehlt hier vollständig. Auch heute noch regieren die Gereformeerden bewusst ihre Kirchen ohne eine ständige Kirchenleitung (wie ja im Grunde übrigens auch die Hervormde Kerk!). Es gibt neben dem Presbyterium keinen Inhaber ständiger Kirchengewalt. Als einzige überörtliche Autorität regieren sich die Kirchen selbst durch die gleichsam in ihrer Mitte je ad hoc zusammenströmenden “vergaderingen”. “Is er geen classis


1) Vgl. dazu Kuypers, a.a.O., S. 123 ff.
2) Vgl. Kuyper, Tractaat, S. 24 f., 103; Van Leeuwen, a.a.O., S. 191.
3) Vgl. Kuyper, Locus de ecclesia, S. 299.

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saam, dan bestaan er niets dan naast elkander liggende kerken, en elk denkbeeld van eenig duurzaam bestuur of moderamen moet als inkruipsel van pauselijke tyrannie met ijver uit de kerke Gods geweerd blijven . . .”1)

Fassen wir die vorstehenden Ausführungen noch einmal kurz zusammen: Im Zentrum der Lehre von der Kirche stehen die Wiedergeburt und der Glaube als das Bewusst- und Wirksamwerden der Erwählung. Dementsprechend liegt das Wesen der Kirche in den (wiedergeborenen) Gläubigen und ist ihr Auftrag als Organismus des neuen Geschlechtes die Inbesitznahme der Welt als des Reiches Gottes, oder anders ausgedrückt: die Inkraftsetzung der neuen Wirklichkeit gegenüber der alten. Obgleich die Stellung des Amtes als Gegenüber der Gemeinde gelegentlich stark betont wird, ergibt sich doch schon aus dem Ansatz des Wesens der Kirche in den Wiedergeborenen, dass auch die potestas ecclesiastica in der instituierten Kirche nicht direkt beim Wort gesucht wird, sondern weil “het kerkrecht deze macht op aarde moet kunnen aanwijzen”, “door Christus in menschen moet zijn gelegd”.2) Sie ist mit dem Keim des neuen Lebens verbundener, inhärenter, materieller Besitz. Aus dem Postulat der Freiheit individueller, organischer Entwicklung resultiert die Lehre von der Pluriformität der Kirche; die “zelfstandigheid”, “autonomie der deelen” hat den Vorrang vor der “kracht der eenheid”, im kirchlichen Leben ebenso wie im politischen und sozialen. Freiheit und Einheit aber finden ihren besten Garanten ohne Schaden für die Wahrheit in einem auf allen Stufen gültigen und auch “met den aard van ons volk het meest overeenkomstig(en)” dezentralisierten, konföderativen System.3)


1) Vgl. Kuyper, Tractaat, S. 79.
2) Vgl. Kuyper, Separatie en Doleantie, S. 11.
3) Vgl. Praamsma, a.a.O., S. 107; die Zitate aus A. Kuyper, Eenvormigheid . . ., S. 28 ff.

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II. Die Auswirkungen der Ideen Kuypers im kirchlichen Raum: Die Doleanz.

 

a) Die Vorbereitung der Separation.

Kuyper war, von der Auffassung der Gemeinde als Konföderation Gleichgesinnter ausgehend, ein Mann des “Richtungskampfes”. Der demokratische Geist, den er geatmet hatte, legte es ihm nahe, die “Machtergreifung” zunächst in den Gemeinden zu versuchen und dann auf diesem Wege auch in den “bestuurs”-Gremien die Mehrheit an sich zu bringen.1) Dem kam das 1867 von der Synode verabschiedete “Reglement op de kieskollegien” entgegen, das die Gemeinden ermächtigte, Wahlausschüsse zu bilden und durch diese selbst die Wahl ihrer Amtsträger zu tätigen. Dies Reglement liess die Alternative zwischen der Aufstellung solcher “Kieskollegien” oder aber der Fortsetzung der Wahlen durch den “kerkeraad” im Sinne der Kooptation. Mit seiner Kampfschrift “Wat moeten wij doen . . .” gab Kuyper das Signal zum Angriff auf die synodale Organisation: Die Gemeinde müsse selbst die Initiative ergreifen, um so endlich wieder zu einer gereformeerden kirchlichen Ordnung zu kommen.2) Aus taktischen Gründen befürwortet Kuyper hier die Gemeindewahl.3) Angesichts der Gespaltenheit der beiden anderen Parteien in der Kirche — der Mittelpartei (“Ethische” und “Irenisch-Konfessionelle”) und


1) Berkhof (a.a.O., S. 295) schreibt: “voor het bereiken van zijn doel . . . (stellte er) . . . al zijn middelen van taktiek en politiek in het werk”.
2) “Welbezien hebben wij wel een feitelijk, maar geen wettig kerkbestuur, en doet het reglement dus niets anders dan de gemeente in staat stellen om zonder revolutie handelend op te treden” . . . a.a.O., S. 17.
3) Kuyper, Wat moeten wij doen, S. 19, S. 26.

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der modernen Linken — kann über den eigenen Erfolg kein Zweifel bestehen.1) Der Möglichkeit, dass es darüber zu einer Kirchenspaltung kommen könnte, sieht er gelassen ins Auge. Ja, man kann sagen, dass schon diese erste Schrift sichtbar in ihre Richtung weist.2) “Een eigen huis stichten op vrij geworden erf”3), das ist in wenigen Worten das programmatische Ziel, welches Kuyper anstrebt.

Jahre der Kleinarbeit und Zellenbildung folgten, während derer Kuyper als Prediger in Utrecht und dann in Amsterdam, dem Zentrum des Landes, wirksam war. Seine Sorge und Arbeit an der inneren und ordnungsmässigen Erneuerung der Kirche liess auch nicht im geringsten nach, als er 1874, von seiner antirevolutionären Partei ins Parlament entsandt, aus dem aktiven Predigeramt ausschied und fortan als Emeritus Ältester der Amsterdamer Gemeinde war. 1880 setzte er zum nächsten Vorstoss an, und zwar bezeichnenderweise — man denke an seine Bewusstseins-Theologie und den Akzent auf der Gesinnungsgemeinschaft! — auf kulturellem Gebiet: In diesem Jahre gründete Kuyper als geistiges Zentrum und wissenschaftliche Rüstkammer der Gereformeerden gegen den die Reichsuniversitäten fast vollständig beherrschenden Liberalismus die Vrije Universiteit in Amsterdam. Diese Gründung stellt den Versuch dar, dem auf die reine Religiosität abgedrängten Glauben seinen kosmischen Aspekt wiederzugewinnen, oder anders gesagt: der Herrschaft Christi “jeden Daumenbreit” des menschlichen Lebens neu zu erobern.


1) . . . weil “. . . de numerieke meerderheid der stemgerechtigden wel niet van harte orthodox is, maar toch waar het vraagstuk van modern of antimodern met beslistheid gesteld wordt stellig niet met onze tegenstanders meegaat”. Wat moeten wij doen, S. 30.
2) K. schreibt hier: “Maar als het eens op scheuring uitliep: als de kerk der vaderen eens uiteen spatte voert ge mij op hoogst bedenkelijken toon tegen! En nu, wat zou er dan uiteenspatten? Ge vergist u: haar geraamte misschien, maar van haar zelve zou het dan juist blijken, dat ze er sints lang niet meer was geweest. Komt er scheiding, welnu, dan zal het openbaar worden, dat de eenheid slechts kunstmatig was”. Wat moeten wij doen, S. 22 f.
3) Kuyper, Wat moeten wij doen, S. 20.

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Darum konnte man sich nicht mit einer kirchlichen Hochschule begnügen, sondern begann sofort mit drei Fakultäten (der theologischen, philosophischen und juristischen), die in den letzten Jahren eben auf ihre volle Zahl erhöht werden konnten.1) Die künftige Führerschicht sollte nicht nur persönlich gläubig und wiedergeboren sein, sie sollte auch in der Lage sein, sich in Theorie und Praxis auf ihre Prinzipien zu stützen.

Vorausgegangen war der Universitätsgründung bereits der schliesslich erfolgreiche Kampf um die Errichtung der “School met den Bijbel”, die christliche Volksschule reformierten Geistes, die ihre Ergänzung bald auch in Mittel- und Oberschulen “op gereformeerden grondslag” fand.

Am 11. April 1883, genau auf halbem Wege zwischen der Universitätsgründung und der ersten Separation im Norden des Landes, wurde ins Lokal “Frascati” in Amsterdam die “Conferentie van gecommitteerde kerkeraadsleden” einberufen. Sie vereinte Pastoren und Älteste, teils von ihren Presbyterien bevollmächtigt, teils — wo sie sich daheim in der Minderheit befanden — aus eigener Initiative in die Hauptstadt gekommen. Auch Hoedemaker gehörte damals noch dazu; einstweilen bestand noch die Verbindung mit der gemässigteren Gruppe um ihn und Gunning, die Kuyper zwei Jahre später bereits abbrach. Diese Versammlung bracht die unverhüllte Kampfansage an das “besturen-stelsel” und alle, die mit ihm sympathisierten. Sie hatte sich bereits in Kuypers Amsterdamer Antrittspredigt am 10.8.1870 angekündigt: “De valsche band van het ongereformeerde kerkbestuur zal eindelijk springen, zoo wij de leus maar moedig opnemen, die in die autonomie, d.w.z. het “zelfbeheer en zelfbestuur der gemeente” ligt”.2)


1) Auf die Geschichte der Universität und den für sie grundlegenden Kuyperschen Wissenschaftsbegriff kann hier nicht näher eingegangen werden. Wir verweisen auf das schon genannte Werk von S.J. Ridderbos und auf die 1950 bei der Universität Göttingen vorgelegte Dissertation von E.E. Rosenboom “Die Idee der christlichen Universität im theologischen Denken A. Kuypers”.
2) A. Kuyper, Predicatien, S. 346.

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Diese Konferenz hat aber noch in anderer Hinsicht Bedeutung. Man kann sagen, dass sie die einstweilige Wendung vom Pro Rege zum Pro Confessione darstellt. Das Bekenntnis wird zum Plattform deklariert, auf der die gläubige Gemeinschaft, die Kirche, stehen muss. “Correspondentie”, d.h. kirchliche Gemeinschaft im weitesten Sinne, “wederzijdsche erkenning van elkanders kerken als kerken van Jezus Christus”1) kann es nur geben mit Kirchen, “die eenzelfde heilige belijdenis met ons deelachtig zijn”.2) Ist mit solchen Kirchen die Gemeinschaft Pflicht, so kann sie doch niemals als unwiderruflich bindend betrachtet werden, wenn durch sie eine Gemeinde in Gefahr kommt, “afgetrokken te worden van hare belijdenis”.3) In die gleiche Richtung weist auch die zweite Resolution der Konferenz: Es heisst dort, dass “het kerkverband, waarin onze kerken thans sedert 1816 staan, mag en moet afgebroken, waar de gereformeerde kerken hierdoor zouden belet worden, — Koning Jezus overeenkomstig hare belijdenis als den eenigen souverein in zijne kerk te eeren”.4)

Zweimal ist an entscheidender Stelle die Bekenntnisnorm interpoliert. Wenn es wohl auch übereilt wäre, zu sagen, dass an Stelle des lebendigen Herrn hier die Formel der Confessio getreten ist, so muss doch festgestellt werden, dass die Interpolation einer gewissen Verengung gleichkommt. Jesus Christus ist der Herr der Kirche; — aber so, wie die “Formulieren van Eenigheid” von ihm sprechen. Damit werden aber zumindest potentiell alle, die diese Formulare nicht Wort für Wort zu unterschreiben bereit sind, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Kuyper selbst hat übrigens die drohende Gefahr des


1) So von Rutgers definiert. Acta der Conferentie . . . van Gecommitteerde kerkeraadsleden, S. 18.
2) Acta der Conferentie, S. 17 f.
3) Acta der Conferentie . . ., S. 17 f. In der Vorlage hiess es bezeichnenderweise noch: “. . . afgetrokken te worden van den dienst van haren Heer en Koning”.
4) Acta der Conferentie . . ., S. 22 f. Der auf Vorschlag von Rutgers im oben zitierten Sinne geänderte ursprüngliche Text hatte: “het eenig souvereine koningschap van Koning Jezus te eeren”.

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Konfessionalismus schon bald erkannt und im nächsten Jahr in seinem “Tractaat . . .” davor gewarnt, weil das Bekenntnis in seinem Nerv zerstört werde, wenn eine Kirche “in valschen zin confessioneel wordt, d.w.z. indien ze haar beginsel put uit haar formulieren, instee van uit den woorde Gods . . .”.1)

In Bezug auf die kirchliche Ordnung war die Konferenz der Ansicht, dass jede Gemeinde berechtigt sei, ihre Kirchenordnung zu ändern, da ihr diese Befugnis auch 1816 bei der Einführung des AR zugestanden habe.2) Aber sie sollten sich doch an die alte Ordnung bis zur Einführung einer besseren gebunden wissen. Allerdings unter der Voraussetzung, dass sie dadurch nicht zum Ungehorsam gegen die Schrift veranlasst würden. Denn eine Befolgung von Reglementen, “die tot ongehoorzaamheid aan het woord van God zou leiden”, wäre “revolutie tegen den Koning der Kerk”.3) Was wir hier ausgedrückt finden, ist dem Grundsatz nach nichts anderes als eine Neufassung der alten Regel, dass in der Kirche Legitimität vor Legalität geht, Gottes Wort vor Gesetz und Brauch, — wenn nur zwischen diesen beiden die Wahl bleibt.

Weil man aber diese Voraussetzung, dem Wort Gottes auch unter der reglementären Ordnung gehorchen zu können, vielerorts nicht mehr gegeben sah, entwickelte man unverzüglich ein Aktionsprogramm, dessen Verabschiedung offenbar das eigentliche Ziel der Konferenz


1) Kuyper, Tractaat . . ., S. 103.
2) Acta der Conferentie . . ., S. 23. Dieser Schluss geht aber nicht ganz auf. Denn das Reglement von 1816 hatte — wie im 1. Kapitel gezeigt wurde — von anderen rechtlichen und ekklesiologischen Auffassungen ausgehend, gar nicht nach der Annahme durch die Gemeinden gefragt oder verlangt. Das AR war eine auferlegte Staatskirchenordnung, die 1852 durch die von staatswegen geschaffenen Organe der Kirchenregierung unter gewissen Modifizierungen und Verbesserungen kirchlich legalisiert wurde. Dass die Kirchen unter dieser Ordnung lebten, beruhte im Grund nicht auf ihrem eigenen positiven Handeln, sondern allenfalls darauf, dass sie sich dem staatlichen Eingriff nicht widersetzt hatten.
3) Acta der Conferentie . . ., S. 24 f.

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gewesen ist. “Gereformeerde belijders, die onder een kerkeraad verkeeren, wiens doen en toeleg tegen Koning Jezus ingaat”, und der auch nach “ernstige vermaning” seine Haltung nicht ändern will, sollen die kirchliche Gemeinschaft mit diesem aufheben, selbst jedoch als Gemeinde bestehen bleiben und neue Älteste und Diakone ernennen und dadurch dafür sorgen, dass “de zuivere prediking des Woords, de zuivere bediening der sacramenten en de oefening der christelijke tucht weer onder hen plaats grijpe naar de ordinantie Gods”.1) Die Gläubigen sind also dafür verantwortlich, dass sie in der rechten Kirche sind oder andernfalls sich die rechte Kirche schaffen. Nur von ihnen, als Gliedern des Organismus her, kann die verfälschte Institution eine Reformation erfahren. Damit eine solche Reformierung nicht in individuelle Willkür ausarte und das Bewusstsein der überörtlichen Gemeinschaft erhalten bleibt und Ausdruck erhält, soll die Errichtung einer neuen Institution wenn irgend möglich nur unter der Leitung eines benachbarten Predigers erfolgen.

Sind auf diese Weise Gemeinden aus dem alten Verbande ausgeschieden oder — was in der Praxis auf dasselbe hinausläuft: — durch Separation neu entstanden, so sollen sie unverzüglich die Verbindung mit anderen “gelijkgezinde kerken” aufnehmen, damit der Leib des Herrn “niet slechts plaatselijk, maar ook aanstonds classicaal, en zoo allengs ook synodaal voor heel ons land, tot openbaring kome”.2)

Einen letzten Versuch zur Reformierung der Kirche von innen her hat man allerdings noch ins Auge gefasst “in Classes, waar de Gereformeerde kerken tot haar recht kunnen komen”, d.h. wo sie in der Mehrheit sind. Für sie wird vorgeschlagen, alle Mitglieder des “classicalen bestuurs hun ontslag nemen” zu lassen, ohne ihre Stellen neu zu besetzen und an ihrer Statt das “bestuur” wieder durch die “Classicale vergadering”


1) Acta der Conferentie . . ., S. 27.
2) ebenda, S. 25.

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selbst auszuüben, “dikmaals saamkomende en telkenmale voor ééne vergadering keuze doende van Praeses, Assessoren en Abactis, die defungeeren, zoodra de vergadering sluit”.1) Niemand konnte annehmen, dass man in einem solchen Falle nicht mit disziplinären Eingriffen des Provinciaal-Kerkbestuurs oder der Synode wegen des Vorstosses gegen die geltende Ordnung zu rechnen habe; und so bestand wenig Hoffnung, dass der offene Bruch vermieden werden könnte.

Allerdings ist von Interesse, dass hier von einem Handeln im Rahmen der Classis die Rede ist, wobei die Presbyterien nicht besonders erwähnt werden. Das setzt voraus, dass man die Kirchen der Classis doch als eine gewisse Einheit betrachtet, deren repräsentative Versammlung in gleicher Weise mit Vollmacht und Autorität zu handeln befugt ist wie in der Ortsgemeinde der “Kerkeraad”. Dies Prinzip lässt sich, einmal aufgestellt, auch auf einen grösseren Raum übertragen, sofern man mit “gelijkgezinde” und im Verband zusammengeschlossenen Kirchen zu tun hat. Immerhin, die letzte Resolution, wie schon die Verpflichtung zu erneutem synodalen Zusammenschluss, zeigen, dass die independentischen Motive — an sich zweifellos aufweisbar — ihre Wirkungskraft mindestens hauptsächlich taktischen Erwägungen verdanken, nicht aber theologisch-grundsätzlicher Art sind.

1884, ein Jahr nach diesen ersten Sturmsignalen, erschien aus der Feder Kuypers der “Tractaat van de reformatie der kerken”, der bald zur wegweisenden Schrift der Doleanz wurde und noch heute als gereformeerdes Standardwerk für die Lehre von der Kirche gilt. Den “Söhnen der Reformation” in den Niederlanden gewidmet, will er ihnen ins Gedächtnis rufen, dass die ecclesia reformata semper reformanda ist. Dass im gleichen Jahre ein bei der Hervormden Algemeenen Synode


1) Acta der Conferentie . . ., S. 31.

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eingebrachter Antrag ihrer vier “rechtzinnigen” Mitglieder auf unverzügliche Rückkehr zur presbyterial-synodalen Ordnung und “handhaving der belijdenis” mittels Durchführung der Lehrzucht von dieser Synode mit überwiegender Mehrheit verworfen wurde, mag symptomatisch sein.

 

b) Der Bruch und die Konsolidierung der Freikirche.

Der Kampf gegen den theologischen Liberalismus und seine Vertreter spitzte sich 1885 zum offenen Konflikt zu. Der Amsterdamer Kerkeraad, dessen “rechtzinnige” Mehrheit 1870 Kuyper zum Prediger gewählt hatte und auf seiner Seite stand, hatte einigen ihm als “vrijzinnig” bekannten Gemeindegliedern “Attestaties” zum Übergang in andere Gemeinden der Hervormden Kerk verweigert. Als das “Classicale bestuur” auf eine Beschwerde der Betroffenen hin die Ausstellung der Mitgliedszeugnisse verlangte, suchte man sich in Amsterdam für die vorausgesehene Auseinandersetzung die Unabhängigkeit zu sichern: Die den kirchlichen Besitz verwaltenden “Kerkvoogden” wurden verpflichtet1), die Gebäude und Güter unabhängig von der Entscheidung der vorgesetzten “besturen” zur Verfügung des derzeitigen Presbyterium bzw. der von ihm gewählten Nachfolger im Amt zu halten. Dahinter steht die von Kuyper bereits 1870 bei seiner Amsterdamer Antrittspredigt ausgesprochene, drei Jahre später von Rutgers und Lohman explizierte These,


1) Die Verwaltung des kirchlichen Besitzes, das “beheer”, war im A.R. nicht in die Hand des KR gelegt, sondern einer von diesem unabhängigenKerkvoogdij” übertragen. Das hat seinen Grund in der obrigkeitlichen Verantwortung für das Kirchengut, die aus der Übernahme römisch-katholischer Besitzungen in der Reformationszeit herrührt. Erst mit der Einführung der neuen KO der Hervormden Kerk wurde auch das “beheer” grundsätzlich dem KR übertragen, ohne dass die Frage praktisch bisher völlig geklärt ist, weil diese Übernahme z.T. zivilrechtlich angefochten wurde.

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dass kirchlicher Besitz, sofern er für örtliche Aufgaben bestimmt ist, — also z.B. Kirchengebäude, Diakoniegelder usw. — den einzelnen örtlichen Gemeinden, nicht der Gesamtkirche gehöre und diese darüber unabhängig und selbständig verfügen könne.1) Da der Kerkeraad sich mit diesem Beschluss über die geltenden Reglemente hinwegsetzte und sich offensichtlich gegen die oberen “besturen” wandte, griff das Provinciale Kerkbestuur von Noord-Holland ein und suspendierte auf Grund einer Mitteilung eines synode-treuen Presbyteriumsmitgliedes am 4.1.1886 sämtliche Amtsträger, die sich für die Vorlage ausgesprochen hatten: 75 Prediger und Älteste!2) Diese dachten nicht daran, sich dem Urteil zu beugen. Sie begründeten die weitere Ausübung ihrer Funktionen in der Gemeinde damit, dass sie ihr Amt vom Herrn der Kirche empfangen hätten und ihm allein verantwortlich seien, und dass infolgedessen kein — kraft eines im kirchlichen Sinne “onwettigen” Reglements fungierendes — “bestuur” sie von ihrem Auftrage entbinden könne. Da ihnen die Kirchengebäude durch den mächtigeren Arm der Kirchenleitung versperrt blieben, versammelten sich den bekenntnistreuen und ihnen anhängenden Teil der Gemeinde an besonderen Predigtstätten. In Schriften und persönlichen Verhandlungen bestritten sie — Kuyper an der Spitze — den Kirchenbehörden das Recht zu ihrem Eingreifen.3) Als am 1. Dezember 1886 ihre Absetzung erfolgte, erklärten sich diese Prediger, Ältesten und Diakonen mit mehreren Tausend Gemeindegliedern am 16. Dezember als die wahre Kirche am Ort und konstituierten sich als selbständige, “doleerende”, d.h. auf ihr öffentliches Recht klagende Gemeinde. Sie machten dies Recht aus ihrer Treue zum alten Bekenntnis, zu den “Drie formulieren van eenigheid” geltend.


1) Vgl. Rutgers-Lohman, De rechtsbevoegdheid onzer plaatselijke kerken; A. Kuyper, Geworteld en gegrond.
2) Vgl. dazu neben De Wilde und dem Jahrbuch De Reformatie van ’86 besonders die vom KR Amsterdam herausgegebenen Broschüren “Het Conflict gekomen” und “Laatste Woord tot de consciëntie”.
3) Vgl. dazu Het Conflict gekomen, 1886; ferner: Laatste woord tot de consciëntie van de leden der synode, 1886.

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Im Norden des Landes hatte sich allerdings die erste Sezession bereits vollzogen, während in Amsterdam die Dinge noch schwebten. Die friesische Gemeinde Kootwijk wählte den ersten Kandidaten der inzwischen fünfeinhalb Jahre bestehenden Vrijen Universiteit, einen gewissen Houtzagers, als Diener am Wort. Das Classicale bestuur verweigerte die Bestätigung, weil H. sein Examen nicht an einer staatlichen theologischen Fakultät abgelegt hatte. Die Auseinandersetzung, fast gleichzeitig mit dem Konflikt in Amsterdam begonnen, endete damit, dass das Presbyterium in einer Gemeindeversammlung und unter Zustimmung der Gemeindeglieder das Band mit der Hervormden Kerk löste, die Gemeinde neu konstituierte und den in Aussicht Genommenen berief und ordinierte. Alles unter massgeblicher Beteiligung des Pastors Van den Berg aus Voorthuizen, der als Konsulent die Verhandlungen der vakanten Gemeinde leitete. Die Prozedur trug sich am 3. Februar 1886 innerhalb weniger Stunden zu; vier Tage später hatte auch Van den Berg selbst mit seiner Gemeinde bereits “het juk der tweede hierarchie afgeworpen”, wie man das Vorgehen damals im Anklang an die Reformation bezeichnete.1) Am 9. Februar folgte die Gemeinde Reitsum, im Juli Kollum und Leiderdorp, am 19. Juli Gerkesklooster, und so spülte rasch anschwellend die Welle der Separationen über das ganze Land hin. Die friesischen freien Gemeinden bildeten bereits am 9. November 1886 die Classis Dokkum, die somit erste Zelle des neu zu organisierenden Verbandes wurde.

Am 11. Januar 1887 versammelten sich wiederum im Amsterdamer Lokal “Frascati” auf dem “Gereformeerd kerkelijk Congres” die persönlich geladenen und auf das Bekenntnis verpflichteten Vertreter aller doleerenden Gemeinden, um miteinander über den ferner einzuschlagenden Weg zu beraten.2) In drei Referaten sprachen


1) Vgl. die Broschüre “Afwerping van het juk der synodale hierarchie”.
2) Zum folgenden vgl. die Akten des Kongresses: “Het juk der tweede Hierarchie”.

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Rutgers, Lohman und Kuyper über Wesen, Entstehung und Überwindung der “zweiten Hierarchie”. Rutgers betonte, die Gemeinde trage in de Regel zusammen mit den Ämtern, bei deren Versagen aber auch alleine die volle Verantwortung vor dem Herrn für ihre Ordnung und müsse notfalls selbst “de zaak des Heeren” gegenüber jedem ihr entgegentretenden “kerkbestuur” “handhaven”. In der “Synodalen organisatie” liege das gleiche hierarchische “beginsel” wie es die Reformation in der römischen Kirche vorfand, in der in langsamen Prozess der Dienstcharakter der Ämter “wordt omgezet in een heerschen”, die kirchlichen Amtsträger “met een soort van geestelijke hoogheid” und in einer “zekere rangorde” untereinander als “kerkelijke overheid” “. . . lasten en bevelen”, und dem obersten “bestuur” “schier onbeperkte macht” zufalle, “waarbij dan Gods woord zijn volstrekt gezag natuurlijk verliest”. Rutgers plädierte demgegenüber für die alte reformierte Ordnung, in der Gleichheit aller Amtsträger untereinander und auf den Synoden allein die Abordnung durch die Kirchen gegolten habe; an Stelle der mit eigener Vollmacht ausgestatteten “bestuursleden” müssten wieder der Synode voll verantwortlichen “deputaten” treten.

In den Resolutionen des Kongresses, die er neben einer grösseren Zahl sachlicher Hinweise verabschiedete, heisst es:

“1. dat de synodale hierarchie, die in 1816 aan onze kerken is opgelegd, . . . door het haar inwonende beginsel er met onweerstaanbare kracht toe drijft, . . . dat het gezag van Gods woord vervangen wordt door de willekeur en de autoriteit van menschelijke inzettingen; en dat het Koninklijk regiment van den Zone Gods wordt teruggedrongen door eene hiermee onbestaanbare bestuurstirannie.
2. dat des niettemin zulk eene Hierarchie, thans in synodalen vorm, door een schuldig ingrijpen van de Overheid in de Majesteitsrechten van Koning Jezus in onze kerken is ingevoerd; dat dit alleen mogelijk is geworden door de nog schuldiger ontrouw van de kerken die . . . waren ingeslapen en zich alsnu bepaalden tot een zwak, kortstondig, althans niet algemeen protest, waardoor zij zelven de valsche meening deden ontstaan, als hadden zij deze hierarchie als hoogste gebiedster erkend . . . .

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3. . . . dat na het vallen van de eindbeslissing der volle synode in de Amsterdamsche Tuchtzaak, waarbij op vijf bedienaren des Woords en zeventig Opzieners en Armenverzorgers het kerkelijk doodvonnis om geen andere reden is toegepast, dan overmits zij weigerden voor de ongoddelijke synodale Hierarchie het hoofd in den schoot te leggen; en zulks in weerwil van het straffeloos dulden van de meest volstrekte Christusverwerping tot in de leden der Synode zelven; . . . — van alle verder pogen om deze hierarchie door haar zelven af te breken, als ondoeltreffend en ongeoorloofd, moet worden afgezien. Dat derhalve thans voor ons evenals voor onze vaderen in de eeuw der Hervorming, de ure gekomen is, om krachtens het recht, dat Gods woord aan de geloovigen toekent, en de plicht die dit Woord aan hen als aan de opzieners oplegt, zonder verder verwijl het juk dezer hierarchie af te werpen. Dat noch de vroegere schuld der Overheid, noch de begane zonde der Kerken, hetzij aan dit recht, hetzij aan dezen plicht, ook maar iets van hun volle geldigheid ontnemen, dat de beloften, die op allerlei wijs door de geloovigen of de Opzieners mochten zijn afgelegd, thans zoo min tegenover deze hierarchie binden, als ze Luther en Calvijn en met hen onze martelaren, een oogenblik weerhielden, om met Rome te breken. En dat nu, gelijk in de zestiende eeuw, dit afwerpen van het Hierarchische juk niet zijn mag een zich terugtrekken in eigen kringen, maar doelen moet op een algemeene vrijmaking der kerken, en diensvolgens het verwekken van een algemeene beweging en het handelend optreden, dat zulk een beweging steunen kan, ten plicht maakt.”1)

Die Kirche ist hier mit Kuyper, der an der Verfassung der Resolutionen selbst massgeblich beteiligt war, definiert als die “gemeenschap der geloovigen met hun zaad”.2) Damit tritt ihr Charakter als Congregatio stark in den Vordergrund gegenüber dem Institutsgedanken, der bei Calvin noch viel stärker ausgeprägt und mit jenem ausgewogen war.3) Der einzelne Gläubige ist der Kirche vorgeordnet, sofern es sich dabei um die irdische in Erscheinung tretende Gemeinschaft handelt.


1) Gereformeerd kerkelijk Congres, 3 Referaten: Resolutie I, II, III.
2) Wir haben bereits gezeigt, dass unter “geloovigen” alle die verstanden werden, die sich unter Zustimmung zum Text des Bekenntnisses, also der “Drie Formulieren van Eenigheid” zur Gemeinde zusammenschliessen.
3) Vgl. Calvin, Institutio, 4. Buch, Kap. 1-10; ferner J. Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche, besonders S. 346 ff. Rieker, Grundsätze Reformierter Kirchenverfassung, S. 59 ff.; P.J. Richel, Het kerkbegrip van Calvijn.

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Sein — vor Gott gebundenes — Gewissen entscheidet in subjektiver Freiheit nach dem Masstabe des Wortes der Schrift auch über die Regierung der Kirche. Indem der Kongress aber das derzeitige Kirchenregiment der “besturen” für gottlos (ongoddelijk) erklärte und in seiner Entartung zur Hierarchie und menschlicher Willkür auf eine Ebene mit der Römischen Kirche zur Reformationszeit stellte, und vor allem, indem er dies unter Inanspruchnahme der besseren Schrifterkenntnis und des Gehorsams gegen den “König de Kirche” (hätte man hier nicht richtiger vom Herrn oder vom Haupt gesprochen, wo doch König ein dem Reich, nicht aber der Gemeinde zugehöriger Titel ist?) tat , stellte er alle Glieder der Hervormden Kerk vor die unausweichliche Gewissensentscheidung, sich entweder von der Hervormden Kerk loszusagen oder aber die Gemeinschaft mit den Kuypersch-Gereformeerden aufzuheben. Es ging dabei um nichts weniger als um die Frage, ob in der Hervormden Kerk noch Jesus Christus der Herr der Kirche sei oder nicht. War er dies nicht mehr, dann konnte man allerdings mit Recht alle abgelegten Gelübde für ungültig erklären. Denn an eine Nicht-Kirche oder Scheinkirche kann kein Gelübde vor Gott binden. Und der Schluss der dritten Resolution zeigt völlig eindeutig, dass der Kongress auf die Beseitigung der bestehenden Ordnung in der gesamten Kirche abzielte; der gesamten Kirche — soweit sie aus den “waren belijders” bestand.

Knapp ein halbes Jahr nach dieser ersten Versammlung, als sich schon herausstellte, dass es nicht gelingen würde, die gesamte Kirche von der reglementären Ordnung zu befreien, versammelte sich in Rotterdam, wo die Separation am 5. Januar 1886 vollzogen worden war, der “Synodale Convent van Nederduitsche Gereformeerde kerken (Doleerende)”.1) Er bestätigte und präzisierte im wesentlichen, was schon die Januar-Versammlung in ihren “Adviezen” festgelegt hatte. Das von Kuyper entworfene Programm wurde ohne wesentliche Abstriche und Änderungen zum kirchlichen Beschluss erhoben.2)


1) Zum Folgenden vgl. “Acta van het Synodale Convent . . .”.
2) K. fungierte als Rapporteur des Ausschusses, der die Beschlüsse vorzubereiten hatte.

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Der Separation folgte unmittelbar die Formierung des neuen Verbandes. Ausdrücklich heisst es, die Kirchen seien “naar goddelijk recht gehouden en verbonden, om niet independentisch op zich zelven te blijven staan, maar zich onderling te verbinden en saam te plaatsen onder het eenige zeggenschap van den Koning der Kerk”.1)

Die Neuordnung soll zunächst nur eine vorläufige sein, eine Übergangslösung unter Verzicht auf Beschlüsse, die Bekenntnis und Kirchenordnung berühren.2) Denn die überörtliche kirchliche Gemeinschaft — prinzipiell weltweit, praktisch aber zunächst innerhalb der politischen Grenzen — kann erst dann eine endgültige (“definitieve”) sein, wenn “alle geloovigen, die eenzelfde zuivere belijdenis met ons deelachtig zijn . . . met ons saam kunnen werken”. Darum strebte man die Vereinigung mit den noch in der Hervormden Kerk gebliebenen Gereformeerden sowie mit den Kirchengruppen, die aus der “Afscheiding” von 1834 hervorgegangen waren, an.3) Das Ziel ist der verbandsmässige Zusammenschluss aller Kirchen und Gläubigen des gleichen Bekenntnisses, oder, wie wir auch sagen könnten, der gleichen “gezindheid”.

Was die Zusammengehörigkeit der Kirchen angeht, so legte Kuyper vom Konföderationsprinzip her grossen Wert auf das Zusammenschliessen oder Zusammenfügen der Gemeinden zu Classen und verwehrte sich gegen den — seiner Meinung nach unreformierten, weil von einer landeskirchlichen Einheit ausgehenden — Begriff des Einteilens.4) Wenn dies allerdings wirklich ein Kernpunkt reformierter Auffassung wäre, dann müsste man den Vätern in Emden und Wesel wahrscheinlich die “gereformeerde opvatting” absprechen. Sie jedenfalls verwandten im selben Zusammenhang unbedenklich das Wort “distribuere”.5) Der Sache


1) Acta, Art. 16; Agendum Art. 9,1 — S. 24.
2) Acta, Agendum Art. 9,5 und 6, S. 25.
3) Acta, Agendum Art. 9,4 bis S. 24.
4) Acta van het Synodale Convent, S. 25.
5) Vgl. z.B. die Weseler Beschlüsse von 1568, bei Richter, I, S. 311.

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nach besteht auch kaum ein Unterschied. Beide Male werden aus der Menge der Gemeinde kleinere, territorial zusammengehörige Gruppen gebildet. Auch die Gereformeerden waren sich einer Einheit, schon aus dem gemeinsamen Handeln und der gemeinsamen Vergangenheit her, durchaus bewusst. Es ist auch hier nicht so, dass sich jeder seinen Platz beliebig wählen kann, sondern er wird ihm von der Gesamtheit bestimmt.

Der so entstehende “kerkverband”, der sich übrigens 1892 mit der “Christelijk gereformeerde Kerk” unter dem Namen “Gereformeerde Kerken in Nederland” — zunächst classical und synodal, später auch örtlich — vereinigte1), kann als ein Kirchenbund bezeichnet werden. Zentrale Beschlüsse und Regelungen werden nur mit grösster Vorsicht, um nicht zu sagen: Furcht, zugebilligt. Kirchliche Ämter oder Dienste, Funktionen der Kirchenregierung bestehen nur in der konkreten örtlichen Gemeinde. Auch selbst die Zulassung zum Dienst am Wort gilt zunächst nur für die “roepende kerk”, und den anderen Gemeinden “moet vrijgelaten blijven, voor zich zelve een vernieuwde onderzoeking van den dienaar voor te stellen”.2)

Scheint hier auf den ersten Blick eine stärkere Neigung zum Independentismus sichtbar zu werden, so wird dies doch dadurch kompensiert, dass solche Prüfung für den Dienst am Wort durch die Classis vorgenommen wird, wie überhaupt auch in mancher anderen Hinsicht die Stellung und Aufgabe der Classis bzw. der “Classicalen vergadering” die feste Zusammengehörigkeit der Kirchen betont.

Sagten wir schon, dass Kuypers independentische Ausführungen mehr taktischer als grundsätzlicher Art waren, so wird man sie für die Bewegung der Doleanz in ihrer Gesamtheit vor allem als Reaktion gegen das verhasste, zentralisierte und ungeistliche “besturen”-Regiment begreifen müssen. Dass man sich der hier drohenden Gefahren durchaus bewusst war, zeigt die Schärfe, mit der die


1) Eine Restgruppe dieser Kirche blieb weiterhin unter dem alten Namen bestehen.
2) Acta Synod. Convent, Art. 43.

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“Voorlopige Synode” im Sommer 1888, die sich im allgemeinen auf Empfehlungen an die Classen beschränkte, die Gemeinden zur Freigabe ihrer Prediger für Dienste in Vakanzen ermahnte: “Weigering, om in dezen de aanwijzing der Classe te volgen, is feitelijk verbreking van het kerkverband”.1)

Allerdings hat es unter den “Doleerenden” auch Kreise gegeben, bei denen der Independentismus sehr kräftig ausgeprägt war und das reformierte Erbe in Gefahr zu bringen drohte. Als ihr extremer Vertreter, in seinen Äusserungen Rutgers und erst recht Kuyper weit überflügelnd, muss der Jurist Fabius gelten, für den der Kirchenverband nur als jederzeit wieder lösbare Verbindung völlig unabhängiger Ortsgemeinden gilt.2) Zum ersten Male vielleicht seit der Zeit Labadies taucht damit in den niederländischen, reformierten Kirchen die Infragestellung der kirchlichen Gemeinschaft in Breite und Vehemenz auf. Jene Sprengkraft, die mit solchen Ideen, wie sie sogleich noch näher von ihrer kirchenrechtlichen Seite her zu erörtern sein werden, der jungen Kirche ins Fundament gelegt waren, sollte erst zwei Generationen später ihre zersplitternde Wirkung zeigen. Vorerst blieb sie latent, weil man zu den in der Synode sitzenden “mannen van gezag”, das will sagen, von persönlicher Autorität, aufsah und der äussere Druck wie der frische Aufschwung der kirchlichen Bewegung die Gemeinden eng zueinanderrückten.

Jene Synoden wurden aufgefasst als Versammlungen der Kirchen selbst, nicht also bloss von Abgeordneten. Der “geloofsbrief” ist das Zeichen dafür, dass die Presbyterien die ihnen eigene Macht delegieren zur Beratung und zum Beschluss über ein von ihnen selbst aufgestelltes Agendum. Die Synode steht also, so will man betonen,


1) Acta van de eerste voorl. Syn. . . . Art. 83.
2) Vgl. Fabius, Het Reglement van ’52. Nach Fabius’ Konzeption wird der Zusammenhalt der Gemeinden praktisch durch jeden Synodalbeschluss in Frage gestellt, wenn er etwa schreibt, dass “beslissingen dier in meerdere vergadering saamgekomen kerken voor de enkele kerk slechts verbindend zijn, voorzoover zij in het kerkverband blijven” (S. 240).

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nicht den Kirchen gegenüber.1)

Das Schwergewicht der kirchlichen Gemeinschaft verlagerte sich wieder, wie in der Früh- und Blütezeit der niederländischen reformierten Kirchen, im 16. und 17. Jahrhundert2), von einer verwaltungsmässigen Zentrale zu den Classen. Sie ordnen zur allgemeinen Synode ab (Art. 12), sie sind Träger der Visitationen der Einzelgemeinden (Art. 11), ihnen obliegt die Examinierung einzustellender Pastoren (Art. 42), sie sind verantwortlich für die Einrichtung und Betreuung der Gemeinden sowie für die Einrichtung eines Presbyteriums an Orten, wo einstweilen nur wenige Gläubige wohnen (Art. 25).3)

Eine Regierung der Kirche im eigentlichen Sinne jedoch wird nur von den Presbyterien ausgeübt. Die Gereformeerden haben entscheidendes Gewicht darauf gelegt, dass allein das Presbyterium, der örtliche kerkeraad, seine Vollmacht direkt vom Herrn der Kirche her empfangen habe, wobei sie von dem Grundsatz ausgingen, dass sich die potestas ecclesiae (oder ecclesiastica) jeweils nur örtlich konkret betätigen lasse. Darum trägt das Presbyterium vor dem Herrn der Kirche die letzte Verantwortung für die Gemeinde und die Berufung aller Amtsträger.4) Darum steht es, insofern nämlich die Synoden nur dank der Übertragung und Kumulierung von origine presbyterialer Vollmacht ihren Dienst ausüben und ihren Beschlüssen Kraft beimessen können, über allen Synoden.5)


1) Die Synode von Leeuwarden 1890 beschloss (Art. 4): “Hier is geene vergadering van eenige Ambtsdragers, maar van vertegenwoordigers der kerken; deze credentiebrieven tonen dus, dat hier dienende vertegenwoordigers van — en niet willekeurig opgeworpen heerschers over — de kerken tezamen zijn”. Und im selben Sinne entschied schon Utrecht 1888 (Art. 68): “. . ., dat het, aangezien de Synode is eene vergadering van kerken, niet aangaat, om een zendschrijven van de synode aan de kerken te richten”.
2) Vgl. dazu neben Hoffmann, Kirchenverfassungsrecht, bes. die Untersuchungen von H.G. Kleyn, Algemeene Kerk en Plaatselijke Gemeente, und von Schokking, De leertucht in de Gereformeerde kerken.
3) Die Art.-Ziffern beziehen sich auf die Acta des Synod. Conventes.
4) Acta Voorl. Synode 1888, Art. 94.
5) Rutgers sagte: “Wat de hoogheid betreft, wordt uitdrukkelijk uitgesproken, dat juist de kerkeraad boven de Classe stond en de Classe weer boven de Synode”. Gereformeerd Kerkelijk Congres, S. 14.

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Wie weit eine solche Verabsolutierung des Presbyteriums noch legitim ist, oder ob vielleicht doch die Stellung der Synode und die Begründung ihres “gezags” anders bewertet werden muss, wird noch zu erwägen sein. Zunächst haben wir uns der um die Doleanz und ihr Kirchenrecht entstandenen Auseinandersetzung zuzuwenden.

 

III. Die kirchenrechtliche Auseinandersetzung.

 

Es darf wohl als calvinistische Erbe gelten, wenn in den niederländischen Kirchen der Charakter der Gemeinde als “ecclesia completa” allerseits anerkannt und gefordert wird.1) Die Differenz erstreckt sich auf ihr Verhältnis zur Gesamtheit der anderen Gemeinden, auf den Charakter des “kerkverbandes”.

Während Hoedemaker, Kleyn, Segers, Goossen und Gunning — kurz also: die gereformeerde Gruppe, welche sich nicht der Separation anschloss — von der gemeinsamen Geschichte und nicht zuletzt auch von nationalen Gesichtspunkten her die organische Verbindung aller instituierten Gemeinden hervorhoben, fällt bei Rutgers, der zusammen mit Lohman dem kirchenrechtlichen Standpunkt der “Doleerenden” Ausdruck verlieh, der Akzent voll und ganz auf die örtliche Gemeinde als einzige Offenbarung der Kirche Jesu Christi.2) Das Bestreben, den kongregationalistischen mit dem institutionellen Charakter zu verbinden, führte dazu, dass es in dieser Ortsgemeinde zwei bestimmende Faktoren gibt: 1. Die sich durch ihre Zustimmung zum Bekenntnis ausweisenden und mit ihrem Wandel diesen Bekenntnis nicht widersprechenden Gläubigen, und 2. das kirchliche Amt, das hier wohl unterschieden wird von den zum Dienst darin ernannten Amtsträgern, dies Amt


1) Vgl. dazu Calvin, Institutio, Buch IV, Kap. 1; ferner Rutgers, Verklaring van de Kerkorde, S. 77, 155; Kleyn, Feiten of Verzinsels, S. 43; vgl. auch das folgende Kapitel.
2) Als Quellen zu diesem Abschnitt seien genannt: Rutgers-Lohman, De rechtsbevoegdheid onzer plaatselijke kerken, 1887; C.E. Segers, De verhouding van de locale gemeenten tot de Nederl. Herv. Kerk in haar geheel, 1885; ders., De rechtsbevoegdheid der bijzondere gemeenten; H.G. Kleyn, Feiten of Verzinsels, 1886; ders., Algemeene Kerk en Plaatsel. Gemeente, 1888.

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ist “evenzeer van goddelijke inzetting” wie “naar Roomsch geloof, het pauselijk ambt”.1)

Dass die Gemeinde kraft des “ambtes der geloovigen” ein Mitwirkungsrecht und eine Mitwirkungspflicht an der Regierung der Kirche hat, ist nicht umstritten. Dagegen ist die Position des Presbyteriums der Gemeinde einerseits und den synodal verbundenen Kirchen gegenüber andererseits Gegenstand der Kontroverse geworden. Für Rutgers ist der “kerkeraad” mehr als nur gewählte Gemeindevertretung. Er ist “ecclesia repraesentativa”, ja nach aussen hin im Grunde mit der Gemeinde identisch.2) Die von der Gemeinde durch Wahl angewiesenen und dem Herrn präsentierten Personen empfangen von diesem “gezag” und Vollmacht.3) Sie treten damit — man denke an Kuypers Wort von der “streng monarchalen” Regierung — auf die Seite des Souveräns und werden für die Gemeinde zum Gegenüber. Zwar ist auch der “kerkeraad” als Kollegium aller Träger der besonderen Ämter wie die Gemeinde als ganze an das Wort Gottes, d.h. die Heilige Schrift als “eenige wet op kerkelijk terrein”4) gebunden und soll sein Regieren Dienen sein. De facto aber, soweit kirchliches Recht dies zu erfassen imstande ist, ist er als Statthalter Christi mit fast unbeschränkter Hoheit ausgestattet. Er ist letztlich kompetent für die Auslegung der Ordnung, des Bekenntnisses und der


1) Vgl. Rutgers, Rechtsbevoegdheid, S. 177 ff., auch 88.
2) Vgl. dazu Rieker, Grundsätze reformierter Kirchenverfassung, S. 127, besonders Anm. 3; Rieker hält dies für die gemein-reformierte Auffassung, was allerdings nur mit einigen Einschränkungen gelten dürfte. Eine solche ist der a Lascosche Typ der Fremdengemeinden. Auf die ganz eigenartige Kombination a Lasscoscher und französischer Gedanken in der niederländischen Kirchenverfassung der Frühzeit, die eine gewisse Polarität von Gemeinde (im Sinne der Glieder) und Presbyterium mit sich brachte, hat besonders Von Hoffmann (Das Kirchenverfassungsrecht . . .) hingewiesen.
3) Übrigens haben auch für Kleyn die Gewählten ihren Auftrag zwar von der Gemeinde, ihr “gezag” aber von Christus als dem Schöpfer des Amtes. F.o.V., S. 43.
4) Rutgers, Rechtsbevoegdheid, S. 178.

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Schrift1), und er entscheidet auch über die Annahme und Zugehörigkeit zur Gemeinde.2)

Kleyn hat so weitgehende Vollmachten entschieden bestritten und betont, dass diese der Gemeinde in ihrer Gesamtheit nicht nur ursprünglich zuständen, sondern auch verbleiben müssten.3) Dieser der landeskirchlichen Konzeption so unbedingt treu bleibende Theologe ist, wie wir nachher noch einmal sehen werden, in seinem Gemeindebegriff wesentlich kongregationalistischer als Rutgers.

Immerhin ist bei einer so kräftigen Hervorhebung des Amtes durch Rutgers deutlich, dass er und mit ihm die Bewegung der Doleanz sich — jedenfalls hinsichtlich der Ordnung in der Ortsgemeinde — vom Independentismus fundamental unterscheiden. Rutgers machte die Stellung des Presbyteriums so stark, dass Kleyn geradezu von einer “Autonomie der Kerkeraden” und einer “Tyrannie der Presbyterien” sprach.4) Man wird dies Urteil noch besser verstehen, wenn man erfährt, dass auf Grund der ihm auferlegten Verantwortung für die Reinheit der Lehre und


1) Vgl. Rutgers, Rechtsbevoegdheid, S. 35; vgl. auch S. 37, wo es — historisch nachzeichnend, aber zugleich programmatisch — heisst: “De Kerk werd vertegenwoordigd door den kerkeraad. Alzoo moest . . . de beslissing van den kerkeraad, zoowel tegenover de leden als tegenover de gezamenlijke kerken, in juridischen zin gelden als hoogste wet”. Vgl. ferner a.a.O. S. 147 und 164.
2) Rutgers, a.a.O., S. 22. Von Hoffmann hat in seiner Studie über “Das Kirchenverfassungsrecht der niederländischen Reformierten” (S. 69 bis 85) gezeigt, dass eine solche gewichtige Stellung des kerkeraads als des Trägers der Kirchengewalt tatsächlich in der Frühzeit der reformierten Kirchen in den Niederlanden bestanden hat, und dass die Mitgliedschaft in einer Gemeinde zunächst nur durch einen Vertrag mit dem kerkeraad zustande kam, dessen Existenz also vorausgesetzt wurde. Er hat denn aber auch gezeigt — und dies verschweigt Rutgers mehr oder minder —, dass diese absolute Vormachtstellung seit der Begründung des Verbandes der Kirchen in Wesel bzw. Emden doch wesentlich eingeschränkt worden ist (vgl. a.a.O., S. 94 f., 129 ff.).
3) Kleyn, Algemeene kerk, S. 47 ff.
4) Vgl. Feiten of Verzinsels, S. 14; Algemeene Kerk, S. 141, auch S. 47 ff.

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die Aufrechterhaltung der kirchlichen Zucht ein kerkeraad äusserstenfalls sich gegen alle Glieder der Gemeinde zu stellen berechtigt und verpflichtet sein kann, ja sogar ohne Überschreitung seiner Amtsbefugnisse und — so muss man jedenfalls schliessen — ohne damit die Kirche zugrunde zu richten, alle Glieder exkommunizieren kann, wo der Glaubensgehorsam dies von ihm zu fordern scheint.1) Damit rückt — jedenfalls nach der Interpretation von Rutgers — der “kerkeraad”, das heisst aber doch das Amt, in eine schon bedenkliche Nähe der Position, die in der römischen Kirche der priesterliche Klerus einnimmt. Die Gemeinde — das ist der kerkeraad, könnte man sagen. Das Presbyterium allein entscheidet für die Gemeinde denn auch über ihr Verhältnis zum Verband, d.h. zur Gesamtkirche. Es kann aus eigener Entscheidung, wenn es dies für gefordert hält, für die gesamte Gemeinde “het kerkverband verbreken”. “Ook al stemt een deel der gemeente met die uittreding niet in, zoo blijft toch de bevoegdheid des Kerkeraads onverkort”.2) Während Segers die “kerkgenootschap” sich über das ganze Land erstrecken lässt und deshalb zu der Folgerung kommen muss, dass der einzelne zunächst Glied dieser (Gesamt-)Kirche sei und kraft dieser Zugehörigkeit dann auch seiner Gemeinde3), kennt Rutgers eine Gliedschaft nur in der örtlichen Gemeinde. Denn diese allein ist ja im eigentlichen Sinne und wesentlich Kirche.4)


1) Vgl. Rutgers, a.a.O., S. 177 f.; vgl. auch S. 158: “. . . de kerkeraad, . . . die, al moest hij om des geloofs wil alleen tegenover allen staan, toch bevoegd zou blijven tot de uitoefening van zijn ambt om toe te zien op leer en leven, en dus alle leden zou mogen afsnijden”.
2) Rutgers, Rechtsbevoegdheid, S. 147; vgl. auch S. 164: “in geestelijke zaken zijn de gemeenten altijd vertegenwoordigd geweest door hare kerkeraden, weshalve deze steeds voor haar behoren op te treden”.
3) C. Segers, Rechtsgevoegdheid . . ., S. 40.
4) Das wird in der gesamten Argumentation der “Rechtsbevoegdheid” deutlich. Vgl. dazu besonders S. 178. Eine direkte Beziehung zum “kerkverband” besteht nach ihm nur für die Gemeinden. a.a.O., S. 142.

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Schon bei Kuyper lernten wir die Sicht der instituierten Kirche als einer Congregatio kennen, welche durch die Willensentscheidung der Gläubigen oder Bekenner entsteht; wir sahen auch, dass sie eine Frucht der strengen Unterscheidung zwischen Organismus und Institut war. In der primär kirchenrechtlichen Argumentation von Rutgers ist nun diese Willensentscheidung und individuelle Freiheit des Gläubigen — durchaus konsequent — nicht nur für die “stichting” (Gründung) der Kirche und den Beitritt des einzelnen zu ihr von Bedeutung, sondern auch für ihren Bestand und die Zugehörigkeit des einzelnen.

Mit dieser Freiheit des einzelnen der Kirche als Institution gegenüber tritt nun also das Pendant zur fast uneingeschränkten Hoheit und Vollmacht des Amtes, des “kerkeraads”, in unser Blickfeld. Diese Polarität ist mehr als nur eine Frucht der Kombination des a Lascoschen und des calvinisch-französichen Gemeindebegriffes. Sie ergibt sich vielmehr daraus, dass man theologisch jene wesensmässige Unterscheidung von Organismus und Institution vollzogen hatte, durch welche die Institution für den Gläubigen sekundär wurde. Die Gläubigen haben die Pflicht, wenn der “kerkeraad” einer Deformation der Gemeinde — sei es hinsichtlich ihres Bekenntnisstandes oder ihrer Ordnung — nicht wehrt, sich von ihm abzuscheiden.1) Denn das “extra ecclesiam nulla salus” bezieht sich nur auf den Organismus. Man hört nicht auf, Christ und “lid van de Kerk” zu sein, auch wenn man einmal ausserhalb des “plaatselijken kerkverbandes” (sic!) steht; und eine Gemeinde verliert ihren Charakter als solche nicht, wenn sie nicht mit den anderen Gemeinden im Verbande lebt.2) In der Gemeinde als Institution kann man also eigentlich nicht von Gliedern — die ja organisch


1) Rutgers begründet das damit (a.a.O., S. 44), dass hinsichtlich der Zugehörigkeit zur Kirche Gottes Wort “boven het verband . . . gaat”.
2) Eine Synode kann zwar vom “kerkverband” eine Gemeinde ausschliessen, niemals jedoch ihr “bestaan als wezenlijke en volledige kerk . . . vernietigen”. Und auch der kerkeraad kann ein Glied höchstens “van het plaatselijke kerkverband” ausschliessen. Rutgers, a.a.O., S. 44.

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verwachsen sind un ihr Leben dem Stamm danken —, sondern nur von Mitgliedern sprechen, die sich aus eigenem freiem Entschluss durch “belijdenis en stipulatien” zur Zusammengehörigkeit auf Widerruf verbinden.1) Insofern ist die Kirche in ihrer institutionellen Erscheinung also ein Verband, ein Zusammenschluss, in dem “ieders recht en ieders vrijheid onverkort blijft”, und zwar örtlich wie überörtlich.2)

Nachdem man einmal erklärt hatte, dass es dem einzelnen zustehe, darüber zu entscheiden, ob ein kirchlicher Beschluss der Schrift widerspreche, und er dies nicht mehr erst vor einer “kerkelijken vergadering” beweisen musste3), war jeder sein eigener Richter, wurden die “gezagsverhoudingen” “wisselend” zwischen dem Amt und den einzelnen.4) Kromsigt, Wortführer der Hervormden “Confessionelen vereeniging”, sah darin die Anwendung der liberalen Theorie der Volkssouveränität auf kirchlichem Gebiet, die “kerkontbindend” wirken müsse.5)


1) Vgl. Rutgers, a.a.O., S. 46. R. vergleicht hier die Gemeinde mit einer Reisegesellschaft, in der zwar auch in der Regel die Mehrheit entscheide, jedem Beteiligten aber freistehe, sich von der Gemeinschaft zu trennen, wenn er der Ansicht sei, dass man einen verkehrten Weg einschlage.
2) Vgl. Rutgers, a.a.O., S. 179, 203, auch 44 s.o.
3) Art. 31 der Dordrechter KO enthält einen Vorbehaltsatz hinsichtlich der Bindung von Synodalbeschlüssen, welcher lautet: “Tenzij dat het bewezen worde te strijden tegen het Woord Gods ofte tegen de artijkelen in desen Generalen Synode besloten”, (d.h.: gegen die Kirchenordnung). Rutgers nun erklärt (Rechtsbevoegdheid, S. 35, Anm. 1): “Ons dunkt, dat de uitdrukking niets anders kan betekenen dan dit: men is gebonden, tenzij men voor zich zelven bewezen achte, dat Gods Woord de naleving van hetgeen goedgevonden is, verbiedt”.
4) Kuyper schreibt in Tractaat, S. 44: “Daarom is de verhouding van dit gezag dan ook wisselend. Zuiver is het alleen daar verdeeld, waar én de geloovigen én de Dienaren stipt bij het Woord blijven en alleen krachtens dat Woord optreden. Maar ontzinkt de gemeente aan het Woord, dan klimt over haar het goddelijk gezag der dienaren, en evenzoo verlaten de dienaren het Woord, dan klimt over hen het goddelijk gezag der gemeente”.
5) P.J. Kromsigt, De zichtbare kerk en de Ambten, S. 208, in der Fussnote. Er meint, dass dies am deutlichsten zum Ausdruck komme in Kuypers nicht schriftgemässer Lehre vom “Amt aller geloovigen”, das er als gleichberechtigt neben die normalen Ämter stelle und wodurch “het eigenlijke ambtsbegrip verzwakt en . . . de kerkelijke revolutie van 1886 voorbereid (werd)", a.a.O., S. 211, Fussnote.

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Und in der Tat wird durch diese Auffassung die institutionelle Kirche, nachdem man sie einmal von der wesentlichen, dem Organismus, unterschieden — wenn schon nicht getrennt — hatte, vom gläubigen Individuum her gedacht und gebaut. Dies ist die Auswirkung des theologischen Ansatzes in der Wiedergeburt und des Vorranges des Geistes vor dem Wort.

Noch ungleich lockerer als die Bindung des einzelnen in der Ortsgemeinde ist nun der “kerkverband” der Gemeinden untereinander. Auch hier wieder geht Rutgers in seiner kirchenrechtlichen Argumentation über Kuyper hinaus. Weil die einzelne Gemeinde sich ihn lediglich zur Förderung ihrer eigenen Entwicklung auferlegt1), ist der Zusammenschluss völlig freiwillig und kann das Band auch ohne wesentlichen Schaden für die Gemeinde wieder gelöst werden.2) Der “kerkverband” ist ein “met andere corporaties aangegaan contract of accoord”,3) aus dem das Ausscheiden einer Gemeinde für die anderen “volmaakt onverschillig” ist.4) Er besteht sozusagen auf Widerruf.5)

Der Bestand der synodalen Gemeinschaft setzt die jedesmalige, nicht bloss die grundsätzliche Zustimmung der Gemeinde zu den Beschlüssen der Synode voraus.6) Es wird immer wieder betont, dass eine Gemeinde nur so lange an die Beschlüsse der Synode gebunden ist, wie sie “zich verplicht acht in het verband te blijven”.7) Die Gemeinde,


1) Vgl. Rutgers, Rechtsbevoegdheid, S. 161.
2) Vgl. Rutgers, a.a.O., S. 147, 189.
3) a.a.O., S. 147. Haitjema hat in “De Richtingen in de Hervormde Kerk”, S. 168 mit Recht auf die Ähnlichkeit dieser Vorstellung von kirchlicher Gemeinschaft mit dem Gedanken des “contrat social” hingewiesen.
4) Rutgers, a.a.O., S. 161.
5) “Rechtskundig gesproken kan natuurlijk iedere kerk zich ten allen tijde weer aan dat verband onttrekken”. Rutgers, a.a.O., S. 192. — Vgl. dazu auch ders., In hoeverre . . ., S. 7 und 26: “De toetreding der Kerk (zum Verband) verbindt zich niet voor de toekomst; (zij) is steeds herroepbaar”.
6) Rutgers, Rechtsbevoegdheid, S. 32 f., 179, 192.
7) Rutgers, Rechtsbevoegdheid, S. 178. Fast noch schärfer Fabius, a.a.O., S. 240, der es als “het Gereformeerde kerkrecht” bezeichnet, dass “de beslissingen dier in meerdere vergadering saamgekomen kerken voor de enkele kerk slechts verbindend zijn, voorzoover zij in het kerkverband blijven”.

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d.h. also ihr Presbyterium, kann die Ausführung eines Beschlusses verweigern; sie bricht damit allerdings die Grundlage des Kontraktes und stellt sich ausserhalb der Gemeinschaft. Da aber kein Recht und Mittel besteht, um eine Gemeinde zur Zusammenarbeit mit den anderen zu zwingen1), bleibt den Classen und Synoden, wenn sie eine gütliche Befolgung ihrer Beschlüsse nicht erreichen können, “geen ander verweermiddel dan om deze kerk van het verband te te snijden”, d.h. als Ganze zu exkommunizieren.2) Das “Synodale Gezag” kann demnach nur wirksam werden, wenn die Presbyterien die Synodalbeschlüsse ratifizieren.3) Praktisch machen sich also die Presbyterien einen ihnen unterbreiteten Vorschlag zu eigen. Das zeigt sich am deutlichsten, wo es um die Absetzung von Amtsträgern geht: sie findet stets “door het gezonde deel der gemeente” statt. Die Classis spricht zwar ihr Urteil aus, aber “wel verre van daarbij te denken aan een op eigen hand ingrijpen van de Classis (gelijk Dr. Kleyn het doet voorkomen) . . . Alleen de kerk (of de gemeente) . . . heeft de bevoegdheid, om in zoodanig geval de bestuursmacht aan de dienaars en ouderlingen voor goed en tijdelijk te ontzeggen”, weil sie auch durch ihre Wahl die Macht “toegekend” hat.4)

Bei einer solchen Monopolstellung des Presbyteriums musste jede Art “permanenten bestuurs” — auch ein durch die Synoden gewähltes — abgelehnt werden. Es gibt nur die ständigen “Kerkeraden” und die gelegentlich zusammentretenden Versammlungen abgeordneter Amtsträger, die über die ihnen von den Gemeinden vorgelegten Fragen zu befinden haben.

Man wird bedenken müssen, dass in der Auseinandersetzung mit der Hervormden Kerk das kirchliche Gut — und hierbei vor allem die Baulichkeiten — eine entscheidenden Rolle gespielt hat. Da die Kirche nun einmal eine


1) Rutgers, Rechtsbevoegdheid, S. 56, 142.
2) Ebenda, S. 179.
3) Vgl. dazu: Rutgers, De geldigheid van de oude kerkenordening, S. 24 f.
4) Rutgers, Rechtsbevoegdheid, S. 32.

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öffentliche Einrichtung war, glaubten die Gereformeerden, nicht darauf verzichten zu können, gerade an dieser Stelle, die nach Lage der Dinge einen Ausweis für die rechtmässige Nachfolge der legitimen Kirche liefern konnte, ihre Ansprüche zu erheben. Die Schrift “De rechtsbevoegdheid onzer plaatselijke kerken” zielt zum überwiegenden Teil darauf ab, den Nachweis des Eigentumsrechtes der Gemeinden, oder genauer gesagt: der Presbyterien über Gebäude und Barmittel zu erbringen und jedes Bestimmungs- oder Mitbestimmungsrecht der Synode oder überhaupt einer ortsfremden oder überörtlichen kirchlichen Gemeinschaft, bzw. eines Organs einer solchen, zu bestreiten. Rutgers sieht diesen Anspruch bereits in der Frühzeit der Kirche darin begründet, dass nachweislich alle Stiftungen usw. immer den örtlichen Gemeinden zugute kamen und von diesen allein verwaltet wurden. Es stehe fest, dass die Gemeinden, “hoe ook (im übrigen) verbonden, in rechtskundigen zin, bepaaldelijk ten aanzien van alles, wat haar vermogen aanging, een afzonderlijk bestaan hadden”.1) Daran habe sich auch seit der Reformationszeit nichts geändert, meint Rutgers.2)

Vielleicht ist von diesem zugrundegelegten Prinzip aus auch die historische Darstellung, die dem aktuellen Erwägungen und Entscheidungen in allen seinen Schriften voranzugehen pflegt, verglichen mit der Fülle der Quellen und gemessen an den Gegenargumenten der anderen Seite (u.a. Kleyn) ziemlich tendenziös ausgefallen. Zum Beispiel werden die zahlreichen politischen Einflüsse, die schon durch Wilhelm von Oranien, Prinz Maurits und Marnix van St. Aldegonde in der “Blütezeit der niederländischen Kirchen”, also im Umkreis der ersten Synoden, viel mehr aber noch in der Zeit der Republik wirksam waren, teils abgeschwächt, teils überhaupt nicht berücksichtigt.3) Aber gerade in dem Willen und dem Eingreifen


1) Rutgers, Rechtsbevoegdheid, S. 9.
2) a.a.O., S. 14 f.
3) Vgl. a.a.O., S. 59.

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politischer Personen und Mächte liegt für die Bestimmung der “rein innerkirchlichen” Verhältnisse ein Unsicherheitsfaktor, der sich ständig bemerkbar macht. Die Reformierte Kirche war nun einmal in jener Zeit ein nationaler Faktor von höchstem Gewicht.

Es muss dem allerdings hinzugefügt werden, dass — wie schon bei A. Kuyper — auch bei Rutgers sich der Akzent seiner Argumentation etwas verschob, nachdem die in Lehre und Zucht “reine” Kirche konstituiert war. Schon nach wenigen Jahren macht sich auch bei ihm eine stärkere Betonung des “synodalen Gezags” bemerkbar. So heisst es in der — erst posthum herausgegebenen — “Verklaring van de Kerkorde”: “De plaatselijke kerken hebben, bij hare toetreding tot het kerkverband, bij al hare vrijheid zich verbonden, de uitspraken der meerdere vergaderingen te eerbiedigen. En zij hebben krachtens hunne verbindingen zich er aan te houden . . . .”1) Bemerkenswert ist, dass auch hier allerdings die Gehorsamspflicht gegenüber synodalen Beschlüssen ihren Grund in einem rechtlich erfassbaren Akt, in der Beitrittserklärung der Gemeinden, findet. Das entspricht ganz der Tendenz, greifbare Anhaltspunkte auch da aufzuweisen, wo es sich im Grunde um zutiefst geistliche Entscheidungen handelt.

Immerhin scheint Rutgers sogar mit der Möglichkeit gerechnet zu haben, dass eine Synode ein Presbyterium, welches sich etwa einem aus Lehrgründen verhängten Exkommunikationsverfahren widersetzt, insgesamt des Amtes enthebt: “Wanneer de kerkeraad zich verzetten ging, dan zou hij later zelf een schismatieke kerkeraad worden en in kerkelijke behandeling komen. Gaf hij niet toe, dan zou dit leiden tot conflict, tot zijne afzetting en tot aanstelling van een nieuwe kerkeraad”.2) Aber das bleibt ein Grenz- und Einzelfall. Grundsätzlich bleibt in allem die Zustimmung und Beteiligung der einzelnen Gemeinde der entscheidende Punkt.


1) Rutgers-De Jong, Verklaring van de K.O., S. 157.
2) a.a.O., S. 87.

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Die kirchenrechtliche Auseinandersetzung mit den an der Hervormden Kerk festhaltenden Theologen überliess Kuyper im wesentlichen seinen Kampfgefährten Rutgers und Lohman; sie hat in ihren Hauptlinien ihren Niederschlag gefunden in den vielen kritischen Fussnoten der zweiten Auflage des von ihnen herausgebrachten Buches über die “Rechtsbevoegdheid onzer plaatselijke kerken” und entbehrt bedauerlicherweise oftmals nicht einer geradezu gehässigen, auch persönlichen Schärfe. Sollte man ihre dann wirklich beklagenswerte Ursache darin suchen müssen, dass die Entscheidung des Glaubens sich hier — auf dem mehr rechtlichen Feld — in einen Streit um Besitztitel verwandelte? Wie dem auch sei, diese Heftigkeit trübt das Bild der Doleanz, und sie muss eigentlich überraschen, wenn man bedenkt, dass Kuyper noch wenige Jahre zuvor von dem “weeldrig kerkbezit” gesprochen hatte, der die grosse Versuchung und der “Krebsschaden” der Volkskirche sei.1)

Fassen wir noch kurz die Auffassungen der anderen, den “Doleerenden” gegenüberstehenden Seite, vor allem vertreten durch Kleyn und Segers, ins Auge. Über den unreformierten Charakter des Algemeen Reglements in seiner ersten Fassung von 1816 bestand Einmütigkeit.2)


1) A. Kuyper, Wat moeten wij doen, S. 24.
2) Kleyn, Algemeene Kerk . . ., S. 131: “De inrigting van het bestuur der Hervormde Kerk, volgens het A.R. van 1816 is geheel in strijd met de van ouds geldende beginselen van kerkrecht”.
Segers, De verhouding van . . ., S. 35: “Formeel en materieel, het kan niet ontkend worden, druischt dat reglement in tegen alle beginselen van gereformeerd kerkrecht”.
In seiner Schrift “De rechtsbevoegdheid . . .”, S. 28 f. bemerkt er allerdings mit Recht, eine rein kirchliche Kirchenordnung habe in den Niederlanden überhaupt nie bestanden. “Uit het historisch onderzoek . . . is . . . gebleken, dat wat de kerkenordening en de verhouding tot de kerkegoederen aangaat, meer de handelingen der Burgerlijke Overheid dan wel de zoo schoone beginselen van het Gereformeerde Kerkrecht onze Vaderlandsche kerken hebben beheerscht” (S. 40).

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Aber während von der Kuyperschen Gruppe auch die Ordnung von 1852, um die es faktisch ging, als auf dieser Basis entstanden abgelehnt wird, hält Kleyn diese für ein “volkomen kerkelijk” Produkt.1) Segers, der 1885 noch kräftig für die Selbständigkeit der Ortsgemeinden plädierte2), legte ein Jahr später unter dem Eindruck der drohenden und schon beginnenden Spaltung wie Kleyn den Nachdruck mehr auf den Verband der Kirchen.

Die Einzelgemeinde ist für Kleyn und Segers eingebettet in die Gemeinschaft der Kirchen, mit denen sie historisch gewachsen und verwachsen ist. Darum will Segers auch lieber den — eine gewisse Autonomieanschauung unterstellenden — Ausdruck “plaatselijke kerk” durch “kerk van de plaats” ersetzen.3) Man argumentierte auch hier vom juristischen Standpunkt her; die Besitzfrage sollte die kirchenrechtliche Frage im eigentlichen Sinne lösen. Denn die Gemeinden seien mit ihren — zunächst von der Obrigkeit verwalteten — Gütern nach der Reformation nur kraft ihrer Zugehörigkeit zum Gesamtverbande bedacht worden und könnten auch heute darum nur kraft ihrer Zugehörigkeit zur Hervormden Kerk, so, wie der Staat sie anerkenne — also unter dem A.R. verfasst — Anspruch auf ihren Güterbesitz erheben.4) Die Ortsgemeinde ist also zunächst Teil des Ganzen, wenn auch in diesem Rahmen selbständig.


1) Vgl. Kleyn, Algemeene Kerk . . ., S. 134.
2) E.C. Segers, De verhouding van de locale gemeenten tot de Nederlandsche Hervormde Kerk in haar geheel.
3) Segers, De rechtsbevoegdheid, S. 11.
4) Vgl. Segers, De rechtsbevoegdheid, S. 25 ff. Misslich war dabei allerdings, dass er sich zur Begründung dieser Abhängigkeit der Ortsgemeinden von der Gesamtheit der Kirchen ausgerechnet auf Schultes “Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts” berief und hier lediglich statt des Römischen Stuhls die Hervormde Synode einsetzte. Rutgers erblickte darin, dass dies möglich wäre, einen Beweis für die Verwandtschaft der kirchlichen Ordnung der “synodalen hierarchie” mit der römischen Hierarchie (Rechtsbevoegdheid, S. 89).

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Weil sie in diesem Rahmen existiert, muss auch das Verhältnis Gemeinde-Synode sich von ihm her bestimmen. Besonders bei Kleyn taucht die Vorstellung einer Kompensierung der Befugnisse von Synodalorganen und Presbyterien auf. Denn aller Ordnung Ziel und Aufgabe ist, meint er, die Sorge für die Freiheit der (versammelten) Gemeinde, wenn man will: der Gemeinde im Unterschied von ihrer “Regierung”, vom Amt. Und diese Freiheit hält Kleyn nur bei einer solchen Kompensierung für gegeben, die allein die tyrannische Herrschaft einzelner — sei es in Kerkeraad oder Synode — verhindern könne.1)

Aber diese Freiheit der Gemeinde entscheidet sich für Kleyn gar nicht — wie für Kuyper und Rutgers — innerkirchlich an ihrem Verhältnis zur Leitung der Gesamtkirche, weil er ja die sogenannte “synodale organisatie” als kirchliche Einrichtung betrachten kann. Die Freiheit der Gemeinde ist gleichbedeutend mit der Freiheit der Kirche, verstanden als ihrer Unabhängigkeit von den Entscheidungen, dem Druck oder Zwang ausserkirchlicher Stellen. Darum darf auch die Selbständigkeit der Ortsgemeinde nicht auf Autonomie und Independentismus hinauslaufen, kann sie nicht gleichbedeutend sein mit einer völligen Ungebundenheit der Ortsgemeinde hinsichtlich der Beschlüsse anderer kirchlicher Organe, sondern kann sie nur darin erblickt werden, dass die Gemeinde “geen wetten ontvangt van een lichaam dat geheel vreemd aan haar is, maar van een college, dat de gezamenlijke macht der kerkeraden in zich vereenigt”.2) Ein solches “college” aber ist doch die Synode, welche durch Abordnung der Amtsträger aus der Gemeinden zustande


1) Vgl. Kleyn, Algemeene Kerk en Plaatsel. Gemeente §§ 10 bis 18 über die Classis. Ferner auch “Feiten of Verzinsels?”, S. 15, 27. In dieser Schrift drückt er seine Auffassung so aus: “. . . opdat er geen heerschappij gevoerd worde in de Kerke Christi is het juist noodzakelijk dat én de gemeenten zelfstandig zijn, én de meerdere vergaderingen een behoorlijk gezag hebben tegen mogelijk inbrekende dwingelandij der kerkeraden” (S. 14).
2) Kleyn, Feiten of Verzinsels, S. 14.

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kommt, in einer “vrijwilligen, maar niet willekeurigen”1), also irgendwie (historisch) vorgegebenen kirchlichen Gemeinschaft.

Der Absolutheitsanspruch der Ortsgemeinde ist es, an dem sich die Geister scheiden. Einen völlig unabhängigen örtlichen “kerkeraad”, wie ihn sich mindestens zunächst Rutgers und Fabius — und bis zu einem hohen Grade auch Kuyper — vorstellten, hält Kleyn für ebenso gefährlich wie die päpstliche Jurisdiktion über die römische Weltkirche. Eben diese beiden Extreme, Hierarchie und Independentismus, habe die Reformation jedenfalls in den reformierten Kirchen des Westens zu verhindern gesucht. Und Kleyn konnte sich wohl mit Recht darauf berufen, dass, wie in Frankreich, so auch in den Niederlanden die Kirchen sehr bald die Tendenz entwickelt hätten, die anfänglich fast unbeschränkte Macht der Presbyterien zu begrenzen und ihr in den Synoden ein Korrektiv zu schaffen2), weil das Urteil mehrerer höheres Gewicht haben müsse als das einzelner.3)

So sind es für Kleyn nicht Auffassung und Wille der Einzelgemeinden, welche den Beschlüssen der Synoden ihre Grenzen ziehen, sondern allein das Wort Gottes in der Heiligen Schrift. Das bedeutet aber, dass er jenen von Rutgers und Kuyper so betonten qualitativen Unterschied von “kerkeraad” und Synode abweist. Die verpflichtende Kraft jeder kirchlichen Entscheidung, jedes Beschlusses, gleich von welcher “vergadering” er ausgeht, kann einzig und allein begründet sein im Worte Gottes. Und insofern hat sich jede Synode dadurch auszuweisen, dass die Gemeinden in ihren Beschlüssen den Ausdruck und die Kundmachung des Willens ihres Herrn erkennen können. So hatte es aber schon Calvin in seiner Abhandlung des Synodalproblems in der Institutio angedeutet.4)


1) Kleyn, Feiten of Verzinsels, S. 45.
2) Dass diese Tendenz tatsächlich seit dem Weseler Convent bestanden hat, haben Lechler und besonders Von Hoffmann gezeigt (vgl. hierzu “Das Kirchenverfassungsrecht . . .”, S. 91 ff. und 129 ff.).
3) Vgl. Kleyn, Feiten of Verzinsels, S. 19.
4) Vgl. Institutio IV, Kap. 8.

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Die Möglichkeit, sich in freier Gewissensentscheidung vom Kirchenverbande zu lösen, lassen auch Kleyn und Segers offen. Aber weil eine Gewissensentscheidung eine ganz persönliche Angelegenheit ist, muss auch ein solcher Austritt Mann für Mann geschehen und kann darin niemals ein Presbyterium repräsentativ für eine ganze Gemeinde auftreten, wie dies in der Doleanz geschah. Denn die Zugehörigkeit des einzelnen zu seiner Ortsgemeinde ist untrennbar verbunden mit der Gliedschaft im “kerkverband”, in der Gesamtkirche. Das Recht, die Gemeinden aus dem Verbande der Hervormden Kerk zu lösen, bestreitet Kleyn den Presbyterien auch deshalb, weil die “kerkeraden” 1886 ebenso wie alle anderen mit dem “bestuur” der Kirche betrauten Kollegien auf Grund des A.R. in ihr Amt gekommen seien und für die Ausübung ihres Amtes daran gebunden blieben.1)

Formal ist dieser Einwand zweifellos berechtigt, denn das A.R. war die einzige zur Zeit gültige KO. Ob er einem materialen Urteil standhalten kann, erscheint uns nicht so sicher; denn ein solches wird nicht nur nach juristischen, sondern nach theologischen Kriterien zu fällen sein. Wenn es zutrifft, dass die Kirche in einem ihrem Wesen fremden Reglement eingeschnürt und die Lauterkeit ihrer Christus-Verkündigung, ihres Bekenntnisses dadurch gefährdet wurde, wäre ihr nicht nur das Recht zugefallen, sondern sogar die Pflicht auferlegt gewesen, die Bande zu sprengen, d.h. aber dem von den “Doleerenden” ausgehenden Ruf zu folgen. Und warum sollte sie dies dann nicht auch in geschlossener


1) Vgl. Kleyn, Feiten of Verzinsels?, S. 36: “Voor wien de synodale organisatie onwettig is, voor dien bestaat er geen kerkeraad. En wat geen kerkeraad is, kan het kerkverband niet verbreken.” Vgl. auch ders., Algemeene Kerk, S. 138.
Es ist allerdings der Beachtung wert, dass sich in den Handelingen der Generale Synode der Nederlands Hervormde Kerk von 1950, S. 16 unter der Overgangsbepaling IV zur neuen KO die Feststellung findet, die “kerkeraden” seien — im Gegensatz zu allen anderen Kollegien — auch nach 1816 “vergadering” im alten Sinne geblieben und nicht “bestuur” geworden. Diese Feststellung ist geeignet, den Ansatz der Doleanz an dieser Stelle wenigstens teilweise zu rechtfertigen.

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Gemeinschaft tun können, sofern diese Gemeinschaft dabei wirklich im Gehorsam gegen Gottes Gebot handelte, ihre Entscheidung also eine solche des gebundenen Gewissens, nicht der Zweckmässigkeit und des ungebundenen Eigenwillens war? Ob eine solche Entscheidung vorliegt, entzieht sich letzten Endes vielleicht überhaupt menschlicher Beurteilung; gewiss aber dann auch dem Urteil des bürgerlichen Richters, den Kleyn im Hinblick auf die Besitzrechte am kirchlichen Gut praktisch auch die Entscheidung darüber fällen lassen wollte, welcher Teil bei einer Separation von so beträchtlichen Ausmaß legitimer Nachfolger des alten Verbandes sei.1) Denn der bürgerliche Richter wird nur in formaler Hinsicht Recht sprechen können.2)

Wenn man aber bedenkt, dass für Kleyn eben — im Gegensatz zu Rutgers — die landeskirchliche Gemeinschaft das Primäre und die Gemeinde von ihr her zu sehen ist, und dass die Gemeinde bei aller auch von Kleyn eingeräumten Selbständigkeit in Bezug auf die Erkennung ihrer Amtsträger über deren Absetzung und über Exkommunizierung nur mit Hilfe der synodalen Organe entscheiden kann3), so ist von dort her auch sein Urteil über die Separation deutlich: Rechtsansprüche als Kirche kann im Falle einer Spaltung immer nur der Teil einer Gemeinde erheben, der den alten Gesamtverband auf seiner Seite hat. Der andere bleibt zwar in seinem Gewissen völlig frei, muss aber auf alle mit der Zugehörigkeit zum alten Verbande


1) Vgl. Kleyn, Feiten of Verzinsels, S. 40.
2) An dieser Frage taucht im Grunde übrigens die ganze Problematik des kirchlichen Besitzes oder — anders ausgedrückt — der rechtlichen Stellung der Kirche in der bürgerlichen Gesellschaft auf. Sie muss hier unerörtert bleiben, weil wir das interne Verhältnis von Gemeinde und Synode theologisch darzustellen haben und erst vom Ergebnis der theologischen Untersuchung den rechtlichen Bereich im eigentlichen Sinne betreten können. Das Problem, welches sich hier stellt, ist im Grunde das, ob und inwieweit die wahre Kirche auch noch anders als “ek pisteos” erkennt und wahrgenommen werden kann.
3) Vgl. Kleyn, Feiten of Verzinsels, S. 44.

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gegebenen Rechtsansprüche verzichten.1) Denn allein die Synode, nicht jede einzelne Gemeinde hat Vollmacht, “kerkelijk te verklaren, welke de zin van Gods Woord is”. Wer nicht ihrer Auffassung ist, hat nur die Wahl, “te zwijgen of de kerk te verlaten”.2) Die Synode als Repräsentantin der vereinigten Gemeinden ist nicht nur geistlich, sondern von da aus auch rechtlich das ausschlaggebende Organ der Kirche.

 

Es stellt sich die Frage, ob sie Separation die einzige noch gegebene Möglichkeit für die Gläubigen der reformierten Kirche in den Niederlanden war. Aber wer will diese Frage letztgültig beantworten? Was geschah, war zweifellos nach der subjektiven Überzeugung der Kuypersch-Gereformeerden ein Schritt im “Eifer für das Haus des Herrn”, um die Schar der Gläubigen vor der Christusverleugnung zu bewahren. Aber ist nicht andererseits jene reine Kirche, die Kuyper erstrebte, ein menschliches Ideal, das den biblischen Aussagen nicht immer standhalten kann? Jedenfalls wird man so viel sagen dürfen, dass die Separation theologisch ihre Ausgangsbasis im Kirchenbegriff Kuypers und in der sich aus ihm ergebenden Ablehnung der Volkskirche hatte. Darum trennten sich an dieser Stelle mit Hoedemaker auch viele andere von Kuyper, die von einer anderen und mehr zentralen Bundeslehre her unbedingt an der Volkskirche festhalten zu müssen glaubten, und kämpften weiter um die Reformierung der alten Kirche. Dass ihr Bemühen nun auf Jahrzehnte hinaus ohne sichtbaren Erfolg blieb, brauch nach dem gewaltigen Aderlass nicht zu verwundern.

Noch ein anderes ist zu bemerken: Die Doleanz hat das im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich wieder entdeckte Kirchenrecht zu neuer Blüte erhoben. Das ist gewiss ein Verdienst. Aber dies Verdienst rückt dadurch


1) a.a.O., S. 45.
2) a.a.O., S. 49.

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in ein Zwielicht, dass die kirchenrechtliche Frage mehr und mehr zur Zentralfrage der Doleanz wurde und dadurch die eigentliche geistliche Auseinandersetzung gar nicht voll ausreifen konnte. Man mag ein Symptom dafür in der Tatsache erkennen, dass die Doleerenden — von den vorhin zitierten Resolutionen des “Gereformeerd kerkelijk congres” abgesehen — nicht den Weg zu einem neuen, klaren Bekenntnis fanden. Typisch für diese Überbewertung kirchenrechtlicher Gesichtspunkte ist aber vor allen Dingen auch, dass in ihrer Argumentation die Reformation des 16. Jahrhunderts als eine fast ausschliesslich kirchenrechtliche Angelegenheit erscheint. Sie ist die Verwerfung der päpstlichen Hierarchie; erst viel später — in unserem Jahrhundert — traten auch im Gereformeerden Lager die theologischen Kernfragen der Reformation wieder mehr in den Vordergrund.

Man wird bemerken, dass die Ereignisse der Doleanz, wie sie sich besonders in den Beschlüssen des “Gereformeerd kerkelijk congres” und des “Synodalen Convents” widerspiegeln, eine gelegentlich geradezu verblüffende Ähnlichkeit mit dem Kampf der Bekennenden Kirche in Deutschland aufweisen und darum einen Vergleich mit diesem nahelegen. So reizvoll ein solcher wäre, muss er doch an dieser Stelle unterbleiben. Es würde angesichts der Fülle des Materials auf beiden Seiten praktisch einen besonderen Abschnitt erfordern und übrigens auch schon rein sachlich den durch unser Thema gesteckten Rahmen sprengen.1) Immerhin, es gibt unter den Beschlüssen der Barmer und Dahlemer Bekenntnissynoden von 1934 nicht wenige, die auf den ersten Blick fast wie Kopien jener niederländischen


1) Für die Dokumente zum Deutschen Kirchenkampf sei auf die im Literaturverzeichnis genannten Sammlungen von Beckmann, Gauger, Hermelink, K.D. Schmidt und daneben auf die Broschüre von R. Grob, Der Kirchenkampf in Deutschland, verwiesen. Hinsichtlich der Rechts- und Ordnungsfragen sei auch hingewiesen auf die Aufsätze von H. Wehrhahn, Die kirchenrechtlichen Ergebnisse des Kirchenkampfes (Ev. Theologie, Jg. 1947/48, S. 313 ff.) und von J. Beckmann, Der Kampf der Bekennenden Kirche im Rheinland um die presbyterial-synodale Ordnung (ZevKR 1951, Heft 2 und 3).

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Dokumente anmuten, und zwar besonders jene, die sich auf die Stellung der Bekennenden Gemeinde zum offiziellen Kirchenregiment der Deutschen Christen beziehen. Beide Male findet sich die Inanspruchnahme der eigenen Legitimität für die Regierung der Kirche auf Grund des Gehorsams gegenüber dem Wort Gottes, die Einsetzung eigener Leitungsorgane und dementsprechend die Gehorsamsaufsagung an das bestehende Kirchenregiment. Dass im übrigen nicht nur die äussere, sondern auch die geistliche Situation dieser beiden Bewegungen Differenzen aufweist, indem z.B. die Bekennende Kirche den Weg zu dem in ihrer Situation geforderten Bekenntnis fand und die kirchenrechtliche Frage in dem ihr gemässen Rahmen stellte, dürfte bekannt sein.

 

Was im vorstehenden Kapitel entfaltet wurde, ist im Grund die kirchliche Realisierung der Theologie Abraham Kuypers. Indem er formell die Erwählung, materiell und in der Praxis die Wiedergeburt zum Cor Ecclesiae machte, durch die eine geradezu physische Umsetzung des menschlichen Lebenszentrum stattfindet1), und indem er systematisch die Unterscheidung der Kirche als Organismus und Institut vollzog, gewann die Aktivität des gläubigen Menschen entscheidendes Gewicht. Die Kirche als Einrichtung der versammelten Gemeinde2) zur amtlichen Predigt des Wortes, zur Bedienung der Sakramente und zur Ausübung der christlichen Zucht ist Produkt des gereinigten und im Gehorsam gegen “Gods ordinantiën” fungierenden Willens der Wiedergeborenen. Kuypers ekklesiologische Konzeption ist damit grundverschieden von


1) Vgl. dazu E Voto Dordraceno II, S. 133; vgl. auch den Aufsatz von Th.L. Haitjema, A. Kuyper . . .
2) Diese Sicht der instituierten Kirche findet sich übrigens auch bei Kleyn: “De gemeente is de vergadering, waaruit de kerk in gewone omstandigheden voortkomt. De gemeente constitueert zich als kerk”. Algemeene Kerk, S. 45.

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der lutherischer deutscher Kirchenmänner der gleichen Zeit, etwa Vilmars, für den die Gemeinde selbst inaktiv ist.1) Auch Kuyper erkennt das Gewicht des “Amtes” als Gegenüber der Gemeinde an, jedoch ist die Beziehung nicht einseitig, sondern wechselseitig. Er musste notwendig seinen Ausgang von der Souveränität der Ortsgemeinde nehmen, theologisch in der richtigen Erkenntnis, dass sie der eigentliche Ort allen kirchlichen Lebens sei, praktisch zunächst aus der Erwägung, dass nur durch einen breiten Ansturm von dort her die staatskirchliche, bloss reglementäre Ordnung sich durch eine der reformierten Auffassung entsprechende geistliche ersetzen liesse. Weil er aber die Grenze der Gesinnungseinheit immer enger zog und sich nacheinander von den “Modernen” um Oosterzee und Scholten, von den “Ethischen” um Chantepie de la Saussaye und schliesslich auch von den “Irenisch-Konfessionellen” um Gunning, die er der Halbheit bezichtigte2), absetzte, musste sein Weg in die Freikirche führen. Mit dem Augenblick der Neuformation nimmt die zentrifugale Kraft ab und wird das Gewicht der Gesamtheit der Kirchen verstärkt.3) Dass die grundsätzliche Selbständigkeit der Gemeinde als Trägerin des geistlichen Lebens bewahrt bleibt, zeigt sich auch heute noch darin, dass es keine ständige Kirchenleitung, sondern nur die periodischen Classen und Synoden der “Gereformeerde Kerken” gibt.


1) Vgl. Vilmar, Theologie der Tatsachen . . ., S. 49 ff., besonders 66 f.; näheres bei B. Schlunk, Amt und Gemeinde im theologischen Denken Vilmars.
2) Vgl. Kuyper, Bedoeld noch gezegd, S. 12; es ist bezeichnend, dass dieser kirchliche Bruch erfolgte nicht wegen des eigentlich kirchlichen Dienstes, sondern weil man im Weitervordringen der “christelijken volksbeweging auf die Gebiete der Politik, des Rechtes und der Wissenschaft nicht mehr eines Sinnes war. “Dan toch roepen de Halven: ‘Nu gaat ge te ver!’ en getuigen de Heelen: ‘Met uw welnemen, we beginnen pas’.”
3) Vgl. dazu Rutgers, De geldigheid van de oude Kerkenordening, 1889: “De waardeering van de meerdere vergaderingen . . . was volstrekt niet iets bijkomstigs, . . . maar een diepgewortelde overtuiging”. Der Satz bezieht sich auf die Kirche der Reformation, stützt aber R.s Auffassungen.