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VII. Kapitel.

Der Einzelne und die Gemeinde als die Organe.

 

Welches sind die Organe, die für die Ausübung der kirchenrechtlichen Funktionen in Frage kommen? Wir haben schon betont, dass die Kirche sichtbare Gestalt gewinnt innerhalb der Formen der natürlichen Schöpfung und innerhalb der Ordnungen dieser natürlichen Schöpfung. Wir finden in der Naturordnung ein Doppeltes, das auch für das Kirchenrecht bedeutsam wird: Auf der einen Seite steht der Mensch als individuelle Einzelpersönlichkeit und ist als solcher voll verantwortlich. Auf der andern Seite aber steht die Menschheit als Ganzes zu einer solidarischen Einheit verbunden. Wir meinen damit nicht jene kosmopolitische Idee, die das Heil in einer weltumspannenden Verbundenheit sucht, sondern wir verstehen unter dieser Einheit der Menschheit im tiefsten Sinne das, was Paulus ausdrückt, wenn er sagt, dass durch Einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und durch die Sünde der Tod, der auf alle Menschen übergegangen ist, indem sie alle gesündigt haben,1) oder das, was gemeint ist, wenn die reformierte Theologie von der Erbsünde redet.2) Es ist die


1) Inst. 4, 11, 1.
2) Inst. 2, 1, 5 und 8; 4, 15, 10; CG 10, CH 8. Weitere Stellen in den Bekenntnisschriften siehe bei Müller im Register.

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absolute Solidarität der Menschheit vor Gott, die in der Naturordnung der Ehe, Fortpflanzung und Familie organisch verwirklicht ist. Durch die Sünde ist aber diese Einheit der Menschheit unter das Gesetz des Todes, der Vergänglichkeit, des Leidens und des Kampfes gestellt. So tritt die Einheit auch nur gebrochen in Erscheinung und nur in räumlichen und zeitlichen Grenzen, da, wo die Menschen durch äussere Zwangsordnungen zusammengehalten werden. Neben die Familie, als die organische Gemeinschaftsform, tritt die unorganische Gemeinschaft, die bloss im territorialen Beisammenwohnen unter einer Obrigkeit besteht. Innerhalb dieser Naturordnung nun versichtbart sich die Kirche. Die Normen des geistlichen Rechts aus der Rechtfertigung treten mit dieser Schöpfungsordnung in Berührung. Daraus ergeben sich die beiden Prinzipien des reformierten Kirchenrechts: das allgemeine Priestertum und das Gemeindeprinzip, die Ausübung der Funktionen durch den Einzelnen und durch die Gemeinde.

 

I. Das allgemeine Priestertum.

Durch die Rechtfertigung ist allen Gläubigen zugleich das Gebot, die Norm des Bekennens gestellt. Das ist das Amt, die Funktion aller Gläubigen. Sie üben dieses Amt aus in den natürlichen Verhältnissen, in die sie eben gestellt sind und innerhalb der Ordnungen des sozialen Lebens. Durch das allgemeine Priestertum ist aber an sich noch keine Kirche konstituiert, sondern die Botschaft von Christus ist durch das Leben jedes einzelnen Christen in seine Umgebung getragen. Auch dieses Amt der Gläubigen ist eine Ausübung der

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Schlüsselgewalt. Beim einzelnen Gläubigen ist das Bekenntnis stets eng verbunden mit seiner Selbsthingabe, seinem Glaubensgehorsam. Das Bekenntnis geht in starkem Masse auf in seinen sittlichen Funktionen.

Das allgemeine Priestertum ist eine Pflicht für jeden Gläubigen; es ist aber zugleich ein Recht. Er besitzt dieses Recht unmittelbar aus seiner Rechtfertigung durch Christus. Wir stehen beim allgemeinen Priestertum vor einer Norm geistlichen Rechts, das durch keine andere Gewalt eingeschränkt werden darf. Trotz allfälligen gegenteiligen Vorschriften steht dem Gläubigen das Recht des allgemeinen Priestertums zu.

Dieses wirkt sich aus innerhalb der natürlichen Lebensordnungen. Vor allem kommt ihm eine grosse Bedeutung zu in der Familie. Der Hausvater hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht des Bekenntnisses, der Wortverkündigung und der Ausübung der Schlüsselgewalt gegenüber seinem Hause. Er öffnet allen Familienangehörigen das Himmelreich durch sein Bekenntnis. Solange die Kinder noch nicht selbständig bekennen, gehören sie durch die gläubigen Eltern zur Kirche. Das ist kirchenrechtlich von grosser Bedeutung, indem die Kinder so schon durch ihre Geburt zur Familie gehören, welcher das Himmelreich geöffnet ist durch den Hausvater. Deshalb gehören die Kinder der Gläubigen schon durch die Geburt zur Gemeinde und haben ein Recht auf die Taufe.

Kirchenrechtlich bedeutsam wird das allgemeine Priestertum in seiner Verbindung mit dem Gemeindeprinzip, indem jeder Gläubige teilhat an den Funktionen der Gemeinde. Im

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allgemeinen Priestertum liegt auch die Pflicht, zur sichtbaren Gemeinde zu gehören. Der Ausdruck „Amt der Gläubigen” stammt aus diesem Zusammenhang. Die Confessio Belgica sagt in Art 28: „Deshalb ist es aller Gläubigen Amt (officium), sich nach dem Worte Gottes von allen denen zu trennen, welche ausser der Kirche stehen, und dieser Versammlung anzugehören, wo auch immer Gott sie konstituieren wird.” Freilich wird nicht die Gemeinde konstituiert durch das allgemeine Priestertum; sie ist eine selbständige Grösse. Aber im allgemeinen Priestertum ist jedem Gläubigen direkt geboten, zur Gemeinde zu gehören. Es ist auch sein Recht, zur Gemeinde zu gehören. Er hat durch diese Pflicht, zur Gemeinde zu gehören, auch Teil an der Verantwortung für die Gemeinde. Er ist immer zugleich Glied der Gemeinde und übt sein allgemeines Priestertum aus als solches Glied, als Organ der sichtbaren Gemeinde. Umgekehrt hat aber auch die Gemeinde die Verantwortung für jeden einzelnen Gläubigen und für sein Bekenntnis. Erst durch die Gemeinde kommt das allgemeine Priestertum wirklich zu seiner Ausgestaltung, indem es eben gleichzeitig eine Gemeindefunktion ist. So können wir sagen: ohne die Gemeinde gibt es auch kein allgemeines Priestertum. Umgekehrt aber gibt es ohne das Amt der Gläubigen keine Gemeinde.

 

II. Das Gemeindeprinzip.

1. Die Gemeinde.

In Christus ist eine neue Einheit der Menschen geschaffen. An Stelle der ersten Schöpfungseinheit tritt die neue Einheit im Pneuma. Wenn es vorher geheissen hat: Durch des Einen Sünde sind alle

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verdammt, so heisst es jetzt: durch Einen alle gerechtfertigt. Diese Einheit ruht ausschliesslich in der Verbundenheit durch das Pneuma mit Christus. Mit der Einheit ist so auch die Ausschliesslichkeit verbunden. Nur durch Christus ist die Einheit hergestellt. Durch Einen Alle gerecht, das heisst auch: ohne diesen Einen keine Rechtfertigung.

Diese Einheit im Leibe Christi soll in der Bekanntmachung Christi, im Bekenntnis zur Versichtbarung kommen und zwar innerhalb dieser Naturordnung sichtbare Gestalt gewinnen. Vor allem ist es die organische Gemeinschaftsform der Familie, in der die neue Einheit durchbricht, indem auch die Familiengenossen mit hineinbezogen werden in die Einheit der Kirche. Aber hier ist es erst das allgemeine Priestertum, das zu seiner Auswirkung kommt. Durch die Erneuerung der Familie ist noch nicht die Kirche konstituiert. Diese gewinnt Gestalt im Bekenntnis, aber innerhalb der Gebrochenheit der unorganischen Gemeinschaftsform. Die Billigkeit im reformierten Kirchenrecht verlangt, dass die Kirche innerhalb der Gesellschaftsordnungen gestaltet wird, innerhalb der Grenzen, die Raum und Zeit der Einheit setzen. Das heisst nun, dass die Einheit des Leibes Christi nicht dadurch sichtbar wird, dass alle Bekennenden zusammen Eine Einheitsorganisation bilden, Eine Gemeinde darstellen, sondern dass grundsätzlich die Einheit nur innerhalb eines örtlich begrenzten Raumes dargestellt werden soll. Diese Versichtbarung der Kirche, im gemeinsamen Bekenntnis an einem bestimmten'Orte nennen wir die Gemeinde. Die Gemeinde ist durch territoriale Grenzen bestimmt; Aber innerhalb dieser Grenzen soll eben die Einheit

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im Bekenntnis sichtbar werden. An Einem Ort gibt es nur Eine Gemeinde. An ein und demselben Ort können nicht mehrere Gemeinden sein.3) So lässt sich das Gemeindeprinzip durch den Satz ausdrücken: „Ein Ort — Eine Gemeinde”. Nicht jede Zusammenkunft von Bekennern ist eine Gemeinde, sondern nur die Gesamtzahl der Bekenner innerhalb eines örtlich abgegrenzten Gebietes machen zusammen die Gemeinde aus.4) Durch eine


3) Das reformierte Kirchenrecht hat stets besondere Fremdengemeinden an einem Orte zugelassen. Die Einheit wird im Bekenntnis des Wortes versichtbart. Grundlage dafür ist nicht nur die Wohngemeinschaft, sondern vor allem die Sprachgemeinschaft. Da, wo die Bevölkerung in mehrere Sprachen gemischt ist, ist deshalb die Bildung von mehreren Gemeinden statthaft, doch innerhalb der Sprachgemeinschaft nur eine einzige Gemeinde.
Eine besondere Regelung erfordern die Grosstadtverhältnisse, wo die Wohngemeinschaft oft nicht mehr deutlich zum Ausdruck kommt. Aber auch hier muss das Wohnortprinzip die Grundlage für die Zugehörigkeit zur Gemeinde bilden. Eine ,Neigungskirche’, in der jeder Gläubige zu der Gemeinde oder zu dem Pfarrer läuft, der ihm gerade zusagt oder zu dem er eine besondere Neigung verspürt, ist ausgeschlossen für das reformierte Kirchenrecht. Eine grosse Stadt muss in mehrere Gemeinden aufgeteilt sein. Notwendig ist auch hier wieder die Möglichkeit der Versammlung der Gläubigen. So wird wohl die Gemeinde sich um ein gottesdienstliches Lokal gruppieren. Natürlich muss auf diesem engen Boden der Stadt die gegenseitige Anerkennung der Gemeinden auch zu einem besonders engen Verhältnis führen und zu weitgehender Uebereinstimmung in den Gemeindeordnungen.
Vergl. zum Gemeindeprinzip auch Inst. 4, 3, 7.
4) Nicht überall, wo „Zwei oder Drei in Christi Namen versammelt sind” (Matth. 18, 20), ist eine Gemeinde, obschon Christus verheisst, dass er mitten unter ihnen sei. Wohl gilt diese Verheissung auch für die Gemeinde und schliesst die Pflicht der Zugehörigkeit zur Gemeinde in sich ein. Aber eine Gemeinde ist erst da, wo wirklich die Gemeindefunktionen ausgeübt werden und wo der Anspruch erhoben wird, die Eine Kirche Christi am Orte darzustellen. (Vergl. GK 146, 12.) Auf der andern Seite aber ist in dieser Verheissung auch der kleinsten Gemeinde das Recht zugesprochen, die ungeteilte Kirche zu versichtbaren. Vergl. Calvin zu dieser Stelle, auch Inst. 4, 1, 9. Innerhalb des allgemeinen Priestertums aber können sich manche Glieder vereinigen in Christi Namen, ohne dass sie dadurch eine Gemeinde bilden.

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freie Uebereinkunft kann keine Gemeinde gebildet werden, sondern die Gemeinde ist immer direkt von Gott konstituiert eben dadurch, dass er an einem Ort eine bestimmte Anzahl von Erwählten zum Bekenntnis beruft.5) Es gibt keine Bestimmung über die Grösse, die ein Gebiet haben kann, um noch eine Gemeinde zu bilden. Nur dadurch ist das Gemeindegebiet bestimmt, dass nicht mehr als eine Gemeinde auf demselben Gebiete sein kann; denn nur da, wo Eine Gemeinde ist, wird die Einheit sichtbar; jede Trennung von der Gemeinde bedeutet ein Zerreissen des Leibes Christi. So hat auch die reformierte Kirche jenen Satz bekannt: extra ecclesiam Dei nulla salus.6) Sie will damit sagen: es ist Norm, zur Gemeinde zu gehören. Nicht aber bedeutet das, dass die Zugehörigkeit zur Kirche notwendig wäre, weil sie das Heil vermittelt, wie in der römischen Kirche. Dieser Satz gilt nicht etwa nur von der unsichtbaren Kirche, sondern von der sichtbaren Kirche, von der Gemeinde. So sagt auch Calvin: „Es ist nicht erlaubt, zu trennen, was Gott vereinigt hat, nämlich, dass die Kirche Mutter sei aller derer, denen Gott Vater ist.7) Ausser ihrem Schoss ist nicht zu hoffen auf Vergebung der Sünden noch auf irgend welches Heil”.8)

Jede Gemeinde ist eine Versichtbarung der Kirche, in jeder Gemeinde wird die Einheit im Gemeindebekenntnis voll verwirklicht. Die Gemeinde


5) Vergleiche auch HK 54. Sichtbare und unsichtbare Kirche sind hier zusammengefasst.
6) CH 17, CB 28.
7) Inst. 4, 1, 1.
8) Inst. 4, 1, 4.

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ist die sichtbare Kirche. In jeder Gemeinde ist die Kirche da als die eine und ungeteilte Kirche. Das ist der Sinn der reformierten Katholizität. Die reformierte Kirche ist katholisch dadurch, dass allgemein, überall wo eine Gemeinde ist, die Kirche ungeteilt vorhanden ist. Im reformierten Sprachgebrauch wird deshalb gewöhnlich die Gemeinde als die Kirche bezeichnet und die Verbindung mehrerer Gemeinden als der Kirch- oder Synodalverband. Dieser Verband ist nicht die Kirche, sondern er ist zusammengesetzt aus vielen Kirchen. Die Kirche als alle Gläubigen umfassend, ist die unsichtbare, streitende Kirche. Die Gemeinde kann nie eine Einteilungseinheit sein, um einen grössern Kirchverband zu organisieren, sondern die Gemeinde ist immer das Erste. Jede Gemeinde ist autonom. Es gibt keine Unterordnung von Gemeinden untereinander. Jede ist in genau gleicher Weise wie die andere eine Kirche, und jede Gemeinde hat für sich selbst das Recht und die Pflicht der Ausübung der kirchlichen Funktionen, ohne dazu irgendwelche Bewilligung bei andern Gemeinden oder bei einer Landeskirchenbehörde einholen zu müssen und ohne sich irgendwelche Einschränkung gefallen lassen zu müssen.

Die Gemeinde ist verfasst im Bekenntnis. Ihre Funktion besteht im Bekennen. Das Bekenntnis der Gemeinde ruht auf der Voraussetzung des Bekenntnisses des einzelnen Gläubigen. Das allgemeine Priestertum ist Voraussetzung für die Gemeinde. Es ist nun auch notwendig, dass der Einzelne teilhabe am Bekenntnis der Gemeinde. Die Versammlung der Bekenner ist notwendig; denn das Gemeindebekenntnis kann nur Zustandekommen durch

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die Mitwirkung der einzelnen Bekenner. (So ist z.B. keine Gemeinde vorhanden, wenn eine Wortverkündigung durch Flugschriften oder durch Radiopredigt stattfindet.) Die gemeinsame räumliche Anwesenheit und Sichtbarkeit der Bekenner ist notwendig, damit von einer Gemeinde geredet werden kann.

2. Das Amt.

a) So, wie das allgemeine Priestertum als das Amt der Gläubigen in Erscheinung tritt, so tritt auch zugleich mit der Gemeinde das Gemeindeamt in Erscheinung. Wenn wir sagen, die Gemeinde sei im Bekenntnis verfasst, so bedeutet das zweierlei: Einmal, dass die Gemeinde aus bekennenden Gläubigen besteht und zweitens, dass ein besonderes Amt da ist, durch das die Gemeinde in ihren Funktionen, im Bekennen, zusammengefasst ist. Die Konstituierung der Gemeinde geschieht nicht anders als durch das Gemeindeamt, einmal dadurch, dass die Verwalter des Amtes gegenüber der Gemeinde und zugleich im Namen der Gemeinde das Wort Gottes, die Schlüsselgewalt verwalten und ferner dadurch, dass die Verwalter des Amtes das Gemeinde- oder Kirchenregiment führen, d.h. durch besonderes Kirchenrecht die Gemeinde zur Ausübung ihrer Funktionen organisieren. Einleuchtend scheint vielleicht ohne weiteres, wenn wir sagen, dass die Bekanntmachung des Wortes Gottes durch das Amt zu geschehen habe. Dagegen bedarf die zweite Behauptung, dass ein Kirchenregiment durch das Amt geführt werden solle, zuerst der Erläuterung. Erst nachdem wir den Zusammenhang aufgewiesen haben, werden wir die ganze Tragweite des Satzes verstehen, dass Amt

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und Gemeinde gleichzeitig gegeben sind. Insbesondere muss die Verbindung des Kirchenregiments mit dem Amt der Schlüsselverwaltung klargelegt und die Frage beantwortet werden, ob wir es hier wirklich mit geistlichem Recht zu tun haben. Wir müssen also von der Verbindung des besondern Kirchenrechts mit dem Amte reden. Erinnern wir uns an das, was wir im Abschnitt über die Billigkeit betont haben und an das, wovon wir auch in diesem Kapitel ausgegangen sind: die Kirche gewinnt sichtbare Gestalt innerhalb der Schöpfungsordnungen, auch wenn diese durch den Fall gebrochen sind. Zu diesen Ordnungen gehört die Notwendigkeit einer ordnenden Regierung, als patria potestas in der organischen Familiengemeinschaft, als weltliche Gewalt in der anorganischen Territorialgemeinschaft. Aber auch die weltliche Gewalt hat ihr Vorbild und ihren Ursprung in der patria potestas.9) Wenn nun die Kirche in dieser Naturordnung Gestalt gewinnen soll als Gemeinde, so müssen wir nach der natürlichen Obrigkeitsordnung für diese Gemeinde fragen. Stände eine Gemeinde zugleich unter der Naturordnung der Familie, z.B. in patriarchalischen Verhältnissen, so wären naturgemäss das Familienoberhaupt oder die Aeltesten der Familie zugleich die Träger des Gemeinderegimentes. Doch wird ein solcher Fall einer patriarchalischen Gemeinde nur ausnahmsweise vorkommen. Das Normale ist das, dass die Gemeinde Gestalt gewinnt in Form einer anorganischen Gemeinschaft, die rein territorial abgegrenzt


9) Vergleiche z.B. die reformierten Auslegungen des Dekaloges, wo die Pflicht des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit immer eingeschlossen ist in das Gebot, Vater und Mutter zu ehren.

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ist. Die Gemeinde wird deshalb auch regiert in der Form des weltlichen Rechts, aber nicht mit weltlicher Gewalt. So greift Calvin oft zur Analogie der weltlichen Obrigkeit, um das Kirchenregiment zu erklären.10) Dass es sich um geistliches und nicht um weltliches Recht handelt, dass das Kirchenregiment ein geistliches und nicht ein weltliches Amt ist, geht daraus hervor, dass die Normen des besonderen Kirchenrechts durch keinerlei äussere Gewalt sanktioniert sind, sondern nur durch die Gewalt des Wortes. Es besteht so ein Unterschied zwischen den Normen des allgemeinen Kirchenrechtes und denjenigen des besonderen Kirchenrechtes, die nur durch ihre Bezogenheit auf das allgemeine Kirchenrecht ius divinum sind. Es ist allgemein geistliche Rechtsnorm, dass besonderes Kirchenrecht erlassen werde, dass in der Gemeinde ein Regierungsamt bestehe. Demzufolge ist auch die Unterordnung der Gemeindeglieder unter das Gemeinderegiment durch ius divinum verlangt. Sobald aber die Bezogenheit des besondern Kirchenrechts auf das allgemeine Kirchenrecht fehlt, indem sich z.B. das Kirchenregiment auf weltliche Gewalt stützt statt allein auf die Gewalt des Wortes, besteht das besondere Kirchenrecht nicht mehr kraft geistlichen Rechtes. Durch die Notwendigkeit des geistlichen Regierungsamtes ist so die sichtbare Kirche hineinbezogen in die Spannung, der die ganze Schöpfung unterliegt, in die Spannung, die zwischen Sittlichkeit und Recht besteht. Doch während im weltlichen Recht diese Spannung in einer unüberbrückbaren Antinomie besteht, sodass das Recht immer zugleich sittlich und gewaltsame


10) So Inst. 4, 11, 1 und 6.

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Durchbrechung der Sittlichkeit ist,11) ist diese Spannung im Kirchenrecht rein formaler Natur, indem das besondere Kirchenregiment nur in geistlicher Gewalt besteht, die niemals die Sittlichkeit durchbricht, wie die weltliche Gewalt.

Das Amt des Kirchenregimentes erscheint nun nicht mehr als ein Anhängsel oder als Nebenerscheinung zum Amte der Wortverwaltung, sondern das Kirchenregiment macht überhaupt das Wesen des Amtes schlechthin aus. Indem das Gemeindeamt Regierungsamt ist, kommt ihm auch die Verwaltung der Schlüsselgewalt gegenüber der Gemeinde und im Namen der Gemeinde zu. Das Amt der Schlüssel lässt sich schlechterdings nicht trennen vom Kirchenregiment. Das ist eben der Sinn des Amtes im Gegensatz zum allgemeinen Priestertum, dass es Kirchenregiment ist. Aber Kirchenregiment kann es nur sein, indem es für die Gemeinde das Amt der Schlüssel verwaltet.

Amt und Gemeinde hangen untrennbar zusammen. Es gibt überhaupt kein geistliches Kirchenamt, das nicht zugleich eine Funktion der Gemeinde ist, deshalb, weil nur die Gemeinde die Versichtbarung der Kirche ist. Jede Loslösung des Amtes von der Gemeinde bedeutet einen Eingriff in das Gemeindeprinzip.

b) Wir müssen die Verbindung von Amt und Gemeinde noch näher untersuchen. Was heisst es, dass das Amt gleichzeitig mit der Gemeinde gegeben sei? Auf der einen Seite drücken wir damit die Tatsache aus,' dass das Amt nie lösgelöst von der Gemeinde für sich selbst besteht. Es hat nur einen Sinn in seiner Beziehung zur Gemeinde. Auf der


11) Vergl. den Abschnitt über weltliches Recht im I. Kapitel.

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andern Seite aber ist nun auch die Gemeinde nie ohne das Amt möglich. Wir wollen das an einem Gegensatz zu zeigen versuchen:

Jean Morely, der erste Vertreter des Independentismus, lehrt, dass der Gemeinde als Ganzem das Amt übertragen sei. Nur der versammelten Gemeinde steht die Ausübung des Amtes zu. Sie übt es aus, indem sie durch Gemeindewahl Amtsträger ernennt, die dann als die Beauftragten der Gemeinde das Kirchenregiment ausüben. Das Amt steht den Amtsträgern nicht unmittelbar zu, sondern nur durch den Auftrag der Gemeinde. Als die geeignetste Regierungsform bezeichnet er die aristokratische Regierung, wobei das Presbyterium die Aristokratie verkörpert. Aber das Wesentliche an seinen Ausführungen besteht darin, dass er das Amt nur der souveränen Gemeinde als Ganzem zuspricht. Die Gemeinde ist hier nicht ursprünglich eine regierte Gemeinde, sondern sie schafft die Regierung erst durch Vertrag, und zwar durch Vertrag zwischen den Gemeindegliedern. So ist hier Gemeinde und Amt nicht gleichzeitig gegeben, indem die Gemeinde schon besteht vor dem Amt und ganz unabhängig vom Amt. der spätere Independentismus hat denn auch die Konsequenz gezogen und das Kirchenregiment als geistliches Amt ganz fallen gelassen. Die Gemeinde wird nur durch die freie Uebereinkunft der Bekennenden geschaffen und regiert.12)

Es handelt sich im Prinzip hier um dieselbe Frage, die das ganze Naturrecht beherrscht hat: Wie entsteht Recht? Kommt es durch Vertrag zustande oder kann es wenigstens aus der Fiktion


12) Vergl. bei Müller Seite 902, 3.

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eines Vertrages abgeleitet werden? Es ist eine Frage, die nicht nur das Kirchenrecht berührt, sondern in der Geschichte auch von grosser Tragweite war für das Staatsrecht. Ist doch in starkem Masse unser modernes politisches Denken bestimmt worden von jenen Gedanken, die mit dem Independentismus Boden gewannen. Auch die reformierten Autoren Hooker und Althusius sind stark von jenem Gedanken des Vertrages bestimmt gewesen. Es ist uns nicht möglich, auf dieses Zentralproblem des Naturrechts einzugehen. Hier macht sich besonders der Mangel geltend, dass die eigentlich calvinistische Naturrechtslehre bis heute noch keine Bearbeitung gefunden hat. So ist die Grenzlinie zwischen Calvinismus und Independentismus, zwischen Reformation und Aufklärung nicht deutlich klargelegt, besonders in der Beurteilung der einzelnen Autoren jener Zeit. Man denke nur an die verschiedene Beurteilung des Althusius, Languet, Hooker oder Cartwright. Es sei hier nur die Frage und das Bedenken geäussert, ob nicht besonders die streng reformiert gerichteten Autoren unter den Monarchomachen und ihren Nachfolgern etwas grundsätzlich anderes gemeint haben als die eigentlichen Vertreter des Gesellschaftsvertrages der Aufklärung, wenn sie die Idee des Vertrages anwendeten zur Erklärung des Herrschaftsverhältnisses. Darauf scheinen mir manche Widersprüche speziell bei Althusius und Hooker hinzudeuten, die den Vertragsbegriff nur als ein formales Einteilungs- und Gestaltungsprinzip erscheinen lassen, Widersprüche, die es auf alle Fälle ausschliessen, dass die betreffenden Autoren leichthin zu denjenigen gezählt werden, die die Entstehung des Gesellschafts- und

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Herrschaftsverhältnisses und damit des Rechtes aus Vertrag und Uebereinkunft abzuleiten versuchen. Es könnte auch umgekehrt sein, dass der Vertrag vielmehr in jenem unableitbaren Herrschaftsverhältnis sein Urbild, seinen Prototyp findet. Darauf scheint mir z.B. bei Althusius die Tatsache hinzuweisen, dass bei ihm das formaljuristische Interesse mehr im Vordergrund steht, als dies aus der Darstellung Gierkes hervorgeht. Wir stehen hier vor der Auseinandersetzung des Calvinismus mit den rein formalen Begriffen des römischen Rechtes. Auf der andern Seite ist aber zweifellos auch von Anfang an z.B. bei Morely die Abwendung vom Calvinismus und die Zuwendung zum Naturrecht der Aufklärung ersichtlich.13)

Im Gegensatz zum Independentismus, der die Lehre von der Entstehung des Rechtes durch Uebereinkunft praktisch in der Kirche verwirklichen will, behauptet der Calvinismus die unbedingt gleichzeitige Gegebenheit von Regierung und Regierten, von Amt und Gemeinde.

Das gilt ebensosehr für das weltliche Recht als für das Kirchenrecht; denn in beiden handelt es sich ja formal um dasselbe. Im weltlichen Recht ist es


13) Von besonderem Interesse ist in dieser Beziehung die theologische Lehre vom Bunde. (Vergl. Schrenk: Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus, vornehmlich bei Joh. Coccejus. 1923.) Gerade hier, wo der Vertragsgedanken auch auf das Verhältnis des Menschen zu Gott angewendet wird (das ist auch bei Althusius der Fall), erscheint es als vollständig ausgeschlossen, dass das Rechtsverhältnis aus Vertrag erst abgeleitet wird. Besonders in der späteren streng reformiert orthodoxen Ausgestaltung der Lehre bei Heidegger und in der Formula consensus (siehe Müller, Bekenntnisschriften S. 861 ff) kann der Vertrag (foedus) nur als formaler Ausdruck eines dogmatischen Zusammenhanges gelten. Der Vertrag als juristisches Rechtsverhältnis findet in diesem Herrschaftsverhältnis vielmehr seinen Ursprung.

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nicht anders zu verstehen, als dass ursprünglich ein Herrschaftsverhältnis besteht, indem ein Souverän die reale Gewalt besitzt über Untergebene. Aus diesem unableitbaren Gewaltverhältnis, aus der Souveränität entsteht das Recht.14)


14) Hier kann nun freilich eine Vertragstheorie anknüpfen um aus dieser Gegebenheit das Wesen des Vertrages zu erklären, indem das Souveränitätsverhältnis als formales Vertragsverhältnis dargestellt wird. Das Primäre ist aber immer das Souveränitätsverhältnis; dieses wird nicht erst durch das Recht geschaffen. Es ist uns nicht möglich, hier diese Frage näher zu erörtern. Es genügt die Feststellung, dass das reformierte Kirchenrecht nicht Genossenschaftsrecht ist, d.h. nicht von einer Genossenschaft hervorgebracht wird.
Weil es sich hier prinzipiell um dieselbe Frage handelt, wie im Staate, war es nach dem reformierten Kirchenrecht durchaus konsequent, dass da, wo Kirche und Staat einen Kreis bildeten, die staatliche Obrigkeit in Verbindung mit den Pfarrern das Kirchenregiment handhabte. Gegenüber der Kirche aber hatte die Obrigkeit ein geistliches Amt inne. Auf diese Grundlage ist die Genfer Kirche Calvins aufgebaut in ihren Ordonnances ecclesiastiques. Es konnte gar keine andere Kirchenobrigkeit in Frage kommen; denn das Verhältnis der geistlichen Gewalt war von vorneherein zwischen Obrigkeit und Gemeinde gegeben, indem die Obrigkeit die Reformation durchgeführt hatte. Auch die Durchführung der Reformation war ein Akt des geistlichen Kirchenrechtes. (Vergl. den Abschnitt über die Ordnung der Reformation.) Da nun, wo die Reformation obrigkeitlich eingeführt wurde (man darf dabei die Durchdrungenheit des Volkes mit der reformierten Lehre nicht unterschätzen und nur von einer zwangsweisen Einführung von oben reden; der Reformation ging immer die Predigt voran), da war es ebenfalls dem reformierten Kirchenrecht ganz entsprechend, dass zuerst der Bestand der ganzen ehemaligen Gemeinde beibehalten blieb, d.h. dass Kirchenvolk und Staatsvolk identisch waren. So bedeutungsvoll die obrigkeitliche Durchführung der Reformation in der Schweiz war für die Erhaltung und Verbreitung der reformierten Lehre, so verhängnisvoll wurde nun aber in der Folge die Verbindung von weltlichem und geistlichem Amte in der Obrigkeit, indem das zum spätem Glaubenszwang führte. Die von der Kirche mit geistlicher Gewalt durch die Kirchenzucht Abgeschnittenen wurden von der Obrigkeit mit weltlicher Gewalt verbannt oder bestraft. Das weltliche Amt der Obrigkeit gewann die Herrschaft über das geistliche. Die Frage der staatlichen Glaubensfreiheit ist denn auch eine Frage, die durch das weltliche Recht gelöst werden muss, nicht durch das geistliche. (Vergl. Fleiner: Schweizerisches Bundesstaatsrecht S. 328.) Dagegen ist es eine Frage des geistlichen Rechtes, dass die Kirche nicht aus weltlicher Gewalt regiert werde, sondern aus geistlicher.

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In analoger Weise ist das Ursprüngliche im Kirchenrecht das Gewaltverhältnis, nur kommt hier geistliche Gewalt in Frage. Damit überhaupt eine Gemeinde entsteht, muss an einem Orte schon das Amt der Schlüssel ausgeübt werden, und zwar mit dem Sinne, eine Gemeinde zu sammeln. Das Amt ist immer vor der Gemeinde da. Das scheint im Widerspruch zu stehen mit der Behauptung, dass Amt und Gemeinde gleichzeitig gegeben sind. Das Amt besitzt eben keine Daseinsberechtigung für sich allein, ohne seine Bezogenheit auf die Gemeinde. Die Gemeinde ist das Ziel und der Sinn des Amtes. Durch das Amt aber wird erst die Gemeinde gesammelt und sichtbar gemacht. Es gibt keinen einzigen Fall, in dem nicht das Amt vor der Gemeinde stände. Nicht der Person des Amtsträgers ruht die geistliche Gewalt inne, sondern dem Wort, das er bekannt macht. Er ist nur Diener und Verwalter. Er schafft die Gemeinde nicht, sondern Gott beruft die Erwählten, indem er ihnen beim Hören des Wortes den Glauben schenkt und sie damit zum Bekenntnis aufruft.15) Christus hat die Kirche gegründet, indem er den Aposteln das Amt gab zur Proklamation der Rechtfertigung.16)


15) Röm 10, 11.
16) Das Apostelamt wird nicht nur als kirchenrechtliches Gemeindeamt aufgefasst, sondern es kommt ihm eine Sonderstellung zu. Wir sind aber der Auffassung, dass soweit es irgend möglich ist, auch bei den Aposteln die ordentliche kirchenrechtliche Stellung betont werden muss. Man ist sonst zu leicht versucht, viele Erscheinungen in der Wirksamkeit der Apostel auf ihre Sonderstellung zurückzuführen, die aber sehr wohl auch allgemeine Geltung besitzen für das Amt. Die Sonderstellung der Apostel scheint uns immer dann gegeben, wenn es sich um die Autorität der apostolischen Verkündigung handelt, auf der der ganze Kanon und die Kirche überhaupt ruht.

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Das Amt ist nun aber nicht in der Weise der Gemeinde vorgesetzt, dass es sein kann ohne das Mitbekenntnis der Gemeinde. Worin besteht es? In der Wortverkündigung. Es ist aber jedem Gläubigen im allgemeinen Priestertum unmittelbar auch dieselbe Schlüsselgewalt verliehen. Der Amtsträger bekennt nichts anderes, als was jeder Gläubige bekennt. Das Wesen seines Bekenntnisses ist genau dasselbe wie das des allgemeinen Priestertums. Das Amt besteht aber in einer Form der Handhabung der Schlüsselgewalt, die zugleich die Gemeinde sichtbar werden lässt. Diejenige Proklamation des Wortes, die eine Gemeinde als solche in Erscheinung treten lässt, ist eine amtliche. Die Gemeinde kann aber nur in Erscheinung treten in Anerkennung der Schlüsselverwaltung als einer amtlichen. Es ist unbedingt erforderlich, dass die Gemeinde ausdrücklich oder stillschweigend ihre Anerkennung kundgibt und dass sie ihre Anerkennung auch verweigern kann. Es muss nicht nur die Anerkennung des Amtes als Institution erfolgen, sondern die einzelnen Amtsträger müssen von der Gemeinde persönlich anerkannt sein als solche, die für die Gemeinde die Schlüsselgewalt handhaben. Nicht das ist für die Anerkennung als Amtsträger massgebend, dass einzelne Persönlichkeiten eine „führende Rolle” in der Gemeinde spielen, sondern einzig die Ueberzeugung, dass wirklich die Betreffenden das reine Wort entsprechend der Schrift bereits verkündigen oder verkündigen werden, dass sie das Amt der Schlüssel entsprechend der Schrift handhaben. Die Amtsträger sind vielmehr Lehrer als Führer.17) Die Anerkennung


17) „doctores quidem — non ductores”, sagt Bullinger in der ersten Predigt seiner fünften Dekade.

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beruht nicht auf einer Uebertragung der Regierungsgewalt, sondern sie ist eben auf die Tatsache dieser geistlichen Schlüsselverwaltung gegründet So stehen wir immer vor einer äusserlich sichtbaren Form der Anerkennung; ihr Wesen aber ist geistlicher Art. Sie ist im Wirken des heiligen Geistes begründet. Dem Kirchenrecht aber, das an die Grenze der Oeffentlichkeit gebunden ist, entzieht sich das geistliche Kriterium; nur das äussere Bekenntnis der Anerkennung kann von ihm erfasst werden. Der Amtsträger ist Diener Gottes an der Gemeinde, er ist aber auch Diener im Namen der Gemeinde, insofern als er für die Gemeinde bekennt.

Herr der Kirche ist Christus. Das soll auch darin zum Ausdruck kommen, dass das Kirchenregiment nicht einer einzelnen Person zukommt, sondern dass es in den Händen eines Kollegiums liegt. Christus hat nicht einen Nachfolger bestimmt, sondern ein Kollegium von Aposteln erwählt. Aber das heisst nun wiederum nicht, dass diesem Kollegium als Ganzem das Amt übertragen worden wäre, sondern jeder Einzelne verwaltet die Amtsgewalt. Jedem einzelnen Aeltesten (Presbyter) steht die Regimentsgewalt zu. Aber um eben zum Ausdruck zu bringen, dass nur Christus die Regierungsgewalt der Kirche allein zukommt, ist es notwendig, dass es in einer Gemeinde mehrere Aelteste gibt, gleichwie Christus mehrere Apostel eingesetzt hat. Ueber die Zahl der Aeltesten ist im allgemeinen Kirchenrecht nichts festgelegt. Es ist nun notwendig, dass in der Amtsausübung zwischen den verschiedenen Aeltesten Uebereinstimmung herrscht; denn nur so kann die Einheit der Kirche in Christus zum Ausdruck kommen. Die Notwendigkeit einer Mehrzahl von Aeltesten ist

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gegeben durch den Zustand der Schwachheit, in dem sich die Kirche noch befindet. Ist auf der einen Seite die Kirche darauf gegründet, dass alle Erwählten in den Gegensatz Christi zur Welt hineinbezogen sind, so kommt hier anderseits die einzigartige Stellung von Christus als dem Haupte gegenüber der ganzen Kirche zum Ausdruck. Auch der Verwalter des Predigtamtes ist kirchenrechtlich ein Presbyter. 18) Nur dann, wenn alle Presbyter einer Gemeinde in Uebereinstimmung wirken, wird das Gemeinderegiment ausgeübt, auch dann, wenn nur ein einzelner in Funktion tritt. Alle Aeltesten zusammen bilden (mit Einschluss des Pfarrers) den Kirchgemeinderat, die Kirchenpflege, das Presbyterium oder wie der Ausdruck sonst lauten möge, Stillstand usw.

Mit der Anerkennung der Amtsträger als Verwalter des göttlichen Wortes ist zugleich auch ihre Anerkennung als Verwalter des Kirchenregimentes ausgesprochen; denn Amt und Gemeinderegiment sind untrennbar miteinander verbunden.19) Die Anerkennung sagt eben aus, dass der Diener das Wort in einer solchen Weise verwaltet, dass dadurch die Gemeinde Gestalt gewinnt, verfasst wird. Das besondere Kirchenrecht, durch das die Gemeinde geordnet wird, wird vom Amte erlassen, nicht von der Gemeinde. Das reformierte Kirchenrecht kennt keine Gemeindesouveränität (wohl aber die Gemeindeautonomie), niemals steht nur einer Gemeinde als Ganzem die volle Kirchengewalt zu. Freilich ist


18) 1. Tim. 5, 17 und die dazugehörenden Bemerkungen Calvins. Ueber die besondere Stellung vergl. den Abschnitt über die Teilung des Amtes.
19) Vergl. zur Verbundenheit von Amt und Regiment (gubernatio) CB 30, CH 18 und CG 29.

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notwendig, dass immer die Gemeinde durch ihre Anerkennung mitwirke, sowohl in der Bestellung der Amtsträger als auch in der Aufstellung von besonderem Kirchenrecht. Das Presbyterium regiert nicht als Gemeindevertretung20) und aus der Gewalt, die ihm die Gemeinde verliehen hat, sondern es übt das Regiment direkt aus geistlicher Gewalt aus. Alle Amtsträger handeln als Mandatare Gottes.

3. Die Aufgaben des besondern Kirchenrechtes.

Durch die Bezeichnung des Kirchenregimentes als geistliches Amt ist auch eine genaue Abgrenzung gegeben. Die Kirchenpflege darf nur solches besonderes Kirchenrecht erlassen, durch das die Gemeinde als bekennende Gemeinde verfasst und geordnet wird. Das heisst: das besondere Kirchenrecht darf einzig und allein die Normen des allgemeinen Kirchenrechts zur Vollziehung bringen. Es ist völlig gebunden an die Schrift. Sobald es sich loslöst von der Schrift und andere Normen zur Vollziehung bringt, so besitzt es keine Geltung mehr als geistliches Recht. Das Erlassen von besonderem Kirchenrecht, also das Gemeinderegiment ist nicht eine Funktion neben der Wortverkündigung, eine besondere Art der Schlüsselverwaltung, sondern durch das Kirchenregiment wird eben die Funktion geordnet, wird das allgemeine Kirchenrecht zur Vollziehung gebracht. Wir haben also hier, und nicht im Abschnitt über die Funktionen, von den einzelnen Aufgaben des besonderen Kirchenrechtes zu reden. Es sind vor allem die folgenden Dinge, die durch das besondere Kirchenrecht geordnet werden müssen:


20) Vergl. Rieker S. 134 ff.

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a) Das Verhältnis zwischen Amt und Gemeinde, die Bestellung des Amtes;
b) die Zugehörigkeit zur Gemeinde und ihre Abgrenzung durch das Bekenntnis;
c) die Amtsführung;
d) das Verhältnis zu andern Gemeinden;
e) das kirchliche Güterrecht;
f) die Beziehungen zum Staat;
g) die Reformation.

a) Die Ordnung des Verhältnisses zwischen Amt und Gemeinde.

In allererster Linie wird nun durch besonderes Kirchenrecht das Verhältnis der Aeltesten untereinander geordnet. Für alle Angelegenheiten, die die ganze Gemeinde betreffen, ist die Uebereinstimmung aller Aeltesten notwendig; denn es kann nicht zweierlei geistliche Gewalt geübt werden und jedem Aeltesten steht dieselbe Gewalt zu. Keiner ist dem andern übergeordnet. Wohl aber wird eine Ordnung geschaffen werden für die Beratungen; es wird ein Präsidium notwendig sein, das aber keine höhere Gewalt besitzt als die andern und den andern nicht überstellt ist.

Weiter ist es notwendig, durch besonderes Kirchenrecht den Weg festzustellen, auf dem die Gemeinde ihre Anerkennung oder Nichtanerkennung ausdrücken soll. Die Anerkennung des Amtsträgers ist ein Teilhaben am Amte durch das allgemeine Priestertum. Alle diejenigen, die deshalb als selbständig bekennende Gemeindeglieder anerkannt sind, können bei dieser Anerkennung mitwirken. Sie kann in Form einer Wahl vor sich gehen, sie kann aber auch stillschweigend erfolgen. Es stellt sich

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hier die Frage, ob im Wahlrecht der Gemeinde ein Akt des Kirchenregimentes liegt oder nicht. Wenn nämlich im aktiven Wahlrecht ein kirchenregimentlicher Akt liegt, so kommt es nur den Männern zu; denn alles Kirchenregiment und alles Regieren überhaupt ist durch die Natur in die patria potestas eingeschlossen. Handelt es sich aber um eine blosse Meinungsäusserung, Anerkennung, so kommt jedem selbständig bekennenden Gemeindeglied, auch den weiblichen Gliedern rein auf Grund des allgemeinen Priestertums das aktive Wahlrecht zu.

Wir haben oben betont, dass nur dem Amte als solchem das Kirchenregiment zukommt, dass darin das Wesen des Amtes besteht. Nicht der Gemeinde als einer souveränen Körperschaft kommt das Regiment zu. Wir entscheiden uns deshalb in dieser Frage für das Wahlrecht auch der Frauen.21)

Auch dann, wenn die Anerkennung der Aeltesten durch direkte Wahl geschieht, in der ein allgemeines Vorschlagsrecht geübt wird, handelt es sich dennoch nur um Anerkennung, nicht um Amtsübertragung. Die eigentliche Amtsübertragung geht immer vom Gemeindeamt selber aus. Es muss jeder Aelteste auch durch besonderes Kirchenrecht in sein Amt berufen werden. Wohl ist seine innere Berufung durch


21) Vergl. darüber Jansen, S. 98. Wir verkennen trotzdem nicht, dass von manchen Seiten auch von denselben Grundsätzen aus eine Ablehnung des aktiven Frauenwahlrechtes verlangt wird, indem darauf hingewiesen wird, dass es sich in der Anerkennung durch Wahl um die Form eines kirchenregimentlichen Aktes handelt. Wir möchten deshalb unsere Entscheidung noch nicht als endgültig aufgefasst wissen. Auch in Holland ist eine endgültige Entscheidung darüber noch nicht getroffen worden, doch leiten die niederländischen Dogmatiker das Amt und seine verschiedenen Ausgestaltungen in anderer Weise ab. (Vergl. darüber den Abschnitt über die Teilung des Amtes.)

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Gott notwendig, aber erst eine äussere Bestellung auf einem durch besonderes Kirchenrecht geordneten Wege überträgt dem Diener sein Amt. Zur Bestellung gehört zuerst die Berufung durch die Kirchenpflege, der eine Prüfung des Kandidaten über seine Eignung zum Amte vorauszugehen hat. Die Kirchenpflege kann diese Prüfung auch durch besondere Experten oder Kommissionen vornehmen lassen. Trotzdem die innere geistliche Berufung notwendig und Voraussetzung ist, kann sie nicht geprüft werden, sondern nur die äussere Befähigung.22) Die Wirksamkeit in der Ausübung des Amtes hängt nicht davon ab. Auch wenn ein Mensch vielleicht aus geheimer Ruhmsucht oder andern Motiven ein Amt anstrebt und erlangt, so ist es dennoch ein geistliches Amt; denn die Wirksamkeit des Amtes hängt an der Gewalt des Wortes. Sofern nur das proklamiert wird, was Gottes Wort sagt, wird die Funktion der Gemeinde ausgeübt.23)

Auch hier ist das Kirchenrecht an die Grenze der Oeffentlichkeit gebunden. Sobald es aber an den Tag tritt, dass ein Amtsträger gar nicht aus innerer Berufung handelt, sondern andere Zwecke verfolgt als die treue Amtserfüllung, so muss die Kirchenzucht eingreifen. Im Falle einer direkten Wahl mit allgemeinem Vorschlagsrecht hat die Kirchenpflege trotzdem darüber zu wachen, dass keiner vorgeschlagen wird, für den die Voraussetzungen für die Amtserfüllung fehlen. Es steht ihr zum mindesten ein Vetorecht zu. Nach der Berufung oder nach dem Vorschlag folgt die Anerkennung oder gegebenen


22) Inst. 4, 3, 11 ff.
23) CH 1.

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Falles auch die Nichtanerkennung durch die Gemeinde und nachher die Amtseinsetzung oder die Installation.

Zur Amtseinsetzung gehört die öffentliche Erklärung des Gewählten, dass er das Amt annehme und treu verwalten wolle und die Verkündigung durch die Kirchenpflege, dass der Betreffende nun das Amt innehabe. Die ganze Feier muss mit Gebet verbunden sein.24) Das Amt haftet nun aber dem Aeltesten nicht persönlich für immer an, sondern es bleibt an die Gemeinde gebunden. Durch einen Wegzug aus der Gemeinde ist auch das Amt abgegeben. Aber auch innerhalb der Gemeinde selber ist das Amt dem Aeltesten nicht lebenslänglich übertragen, sondern kann wieder einem andern übertragen werden. Auch über die Amtsdauer und die Entlassung aus dem Amt hat das besondere Kirchenrecht die nötigen Bestimmungen aufzustellen.

Wenn wir sagen, dass das Amt übertragen wird durch die Verwalter des Amtes selbst, so hat das nicht den Sinn einer Amtssukzession. Nicht der geistliche Charakter des Amtes wird so übertragen, sondern lediglich das äussere Kirchenregiment. Die Gemeinde selber kann dieses nicht übertragen, da es ihr nicht zusteht. Aber die Uebertragung durch die Kirchenpflege, der bereits das Kirchenregiment zusteht, kann auch nicht erfolgen ohne die Mitwirkung und Anerkennung der Gemeinde.


24) Vergl. den Abschnitt über die Gottesverehrung.

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b) Die Ordnung der Zugehörigkeit zur Gemeinde und ihre Abgrenzung durch das Bekenntnis25)

Die sichtbare Kirche ist verfasst im Bekenntnis. Ueberhaupt nur da, wo eine Gemeinde im Bekenntnis sichtbar wird, reden wir von einer Kirche. Ohne Bekenntnis gibt es auch keine Kirche. Sowohl das allgemeine Priestertum als auch das Gemeindeamt kommt im Bekennen zur Versichtbarung. Es gibt nur ein Bekenntnis, und zwar das persönliche Bekenntnis. Es gibt nicht ein besonderes Bekenntnis für das Amt. Dieses unterscheidet sich nicht vom allgemeinen Priestertum im Inhalt des Bekenntnisses; sondern nur dann, wenn es dasselbe bekennt, was im allgemeinen Priestertum bekannt wird, kann es Amt sein. Die Norm des Bekenntnisses ist der Kirche gegeben durch den Gegensatz zur Welt, in den sie durch Christus hineinbezogen ist. Dieser Gegensatz gibt sich nun aber nicht nur von der Gemeinde nach aussen kund, sondern auch dadurch, dass die Kirche noch den Gesetzen dieser Schöpfung unterworfen ist und die Sünde in ihr Eingang findet. Darum ist das Bekenntnis auch das Band, das die Gemeinde nach innen sichtbar zusammenhält. Die Welt, gegenüber der bekannt wird, ist nicht nur ausserhalb der sichtbaren Kirche zu suchen, sondern auch in ihr selber, ja, in jedem einzelnen Gläubigen.

Damit nun eine Gemeinde sichtbar werden kann, ist notwendig die gegenseitige Anerkennung des persönlichen Bekenntnisses aller Glieder. Vor


25) Vergl. über die Bekenntnisfrage Rud. Grob: „Wert und Schranke der konfessionellen Kirche”, in „Reformierte Schriften”, Heft 1. Karl Barth: Wünschbarkeit und Möglichkeit eines allg. ref. Glaubensbekenntnisses.

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allem ist dabei zu beachten, dass nicht die äussere Anerkennung des Bekenntnisses das Wesen der sichtbaren Gemeinde ausmacht, sondern dass mit dem Bekenntnis der Glaube anerkannt wird. Die Glieder anerkennen und erkennen sich im Bekenntnis gegenseitig als Gläubige, als im Pneuma miteinander Verbundene. Der Akt der Anerkennung ist deshalb im Glauben begründet, ja, es handelt sich um eine Anerkennung im Glauben, um einen Akt des Glaubens.

Die Aufgabe des besonderen Kirchenrechtes ist es, den Weg dieser Anerkennung zu ordnen und so die Gemeinde zusammenzufassen und abzugrenzen. Das Bekenntnis muss gegründet sein auf das Wort Gottes, es muss nichts anderes ausdrücken, als was das Wort Gottes sagt. Es ist nun nicht unbedingt nötig, dass die Anerkennung des Bekenntnisses durch die Aufstellung einer gemeinsamen Bekenntnisschrift geschieht, sondern es kann genügen, dass das Bekenntnis jedes einzelnen Christen zum Worte Gottes anerkannt wird. Aber das wird doch die Ausnahme bilden, da überall da, wo eine Gemeinde Gestalt gewinnt, die Gegensätze zur Welt in und ausser der Gemeinde ebenfalls sichtbar werden. In dieser Notlage gegenüber mancherlei Irrlehren, in der sich normalerweise eine Gemeinde befindet, wird die Abfassung eines gemeinsamen Bekenntnisses notwendig, die Aufstellung einer Bekenntnisschrift. Diese Bekenntnisschrift tritt aber in keiner Weise an die Stelle der Bibel und besitzt auch keine Autorität ohne die Bibel. Jedem Gläubigen muss die Möglichkeit offen stehen, von der Bibel aus die Bekenntnisschrift zu prüfen und Vorbehalte zu machen oder Aenderungen zu verlangen. Die

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Bekenntnisschriften der reformierten Kirche sind abänderbar, jedoch nur vom Boden des Wortes Gottes aus. Es ist auch möglich, dass die Auslegung einer Bekenntnisschrift sich wandelt.26) Es ist möglich, dass die Kirche in ihrer Aufstellung des Bekenntnisses auch irrt; es ist deshalb auch möglich, dass die Kirche in ihrem Bekenntnis fortschreitet und in der Erkenntnis des Wortes Gottes wächst.

Aber trotzdem besitzt die Bekenntnisschrift Autorität, nämlich die Autorität des besonderen Kirchenrechtes. Wenn einmal ein Bekenntnis von einer Kirche anerkannt ist, so ist es gültig, solange es nicht durch besonderes Kirchenrecht wieder aufgehoben oder abgeändert ist. Der Sinn des Bekenntnisses aber ist der, dass dadurch die Gemeinde verfasst ist, dass es das persönliche Bekenntnis jedes einzelnen Gliedes ist. Nie darf eine Mehrheit einer Minderheit ein Bekenntnis aufdrängen. Eben nur darin wird die Gemeinde sichtbar, dass alle Glieder einander ihr Bekenntnis anerkennen. Ohne diese Anerkennung ist die Versichtbarung der Einheit der Kirche in der Gemeinde unmöglich. Aber auch das allgemeine Priestertum kommt nicht zur Auswirkung ohne das Gemeindebekenntnis. Die Voraussetzung für die Gemeinde ist das persönliche Bekenntnis jedes einzelnen Gliedes im allgemeinen Priestertum. Dieses kommt aber immer als Funktion der Gemeinde zum Ausdruck. Wenn nun einzelne Glieder etwas anderes als das Wort Gottes bekennen würden, so würden


26) Vergl. z.B. den Unterschied zwischen der reformierten Lehre vom Abstieg Christi in die Hölle und der Lehre von der Predigt Christi im Hades.

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nicht nur sie selber das allgemeine Priestertum nicht mehr üben, sondern sie würden damit auch die Einheit der Gemeinde zerreissen und das Bekenntnis der andern nicht mehr als Gemeindebekenntnis erscheinen lassen. Es wäre nicht mehr allgemeines Priestertum. In der Anerkennung des persönlichen Bekenntnisses jedes einzelnen Gliedes liegt darum zugleich ein kirchenrechtlicher Schutz und eine Garantierung sowohl des Gemeindeprinzips als auch des allgemeinen Priestertums.

Nach reformiertem Kirchenrecht ist das Bekenntnis nicht nur eine Lehrverpflichtung für die Amtsträger, sondern es ist in erster Linie das persönliche Bekenntnis jedes einzelnen Gemeindegliedes. Die Verpflichtung auf das Bekenntnis ist für die Amtsträger nicht erst durch das Amt gegeben, sondern schon darin, dass sie Glieder der Gemeinde sind. Nicht im Bekenntnis unterscheidet sich das Amt vom allgemeinen Priestertum, sondern nur im regimentlichen Charakter. Aufgabe des Amtes ist es aber, darauf zu achten, dass wirklich alle Glieder das Bekenntnis anerkennen. Die Bekenntnisschrift wird durch besonderes Kirchenrecht aufgestellt und muss von jedem Glied anerkannt werden. Sie kann aber eine sehr verschiedene Form haben. Der Tatsache entsprechend, dass sie aus einer Notlage heraus geboren wird, wird sie je nachdem die einen oder die andern Punkte der schriftgemässen Lehre des Dogmas hervorheben. Sie will nicht eine lückenlose und vollständige Darlegung der Lehre sein, sondern nur einzelne Punkte, um die sich die Entscheidung zur gegebenen Zeit eben dreht, vom Standpunkte der Schrift aus erklären. So wohnt der Wahrheit, die das

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Bekenntnis ausdrückt, immer die Autorität inne, die die heilige Schrift besitzt, aber der Form des Bekenntnisses wohnt die Autorität inne, die das besondere Kirchenrecht besitzt, das heisst: sie ist nur insofern Autorität, als sie das ausdrückt und das meint und als das verstanden wird, was die Schrift sagt. Das Bekenntnis will also nicht ein Kompromiss sein, der eine möglichst allgemeine Formel darstellt, unter der jeder verstehen kann, was ei will, sondern das Bekenntnis will das aussagen, was allgemein für jeden Christen gültig ist auf Grund der Autorität der Schrift. Aber nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort entscheidet sich die Zugehörigkeit zur Gemeinde gerade an derselben Frage. Es ist auch nicht notwendig, dass jedem Glied der Gemeinde jede Aussage der Bekenntnisschrift zur persönlichen Erfahrung geworden ist. Nicht das Erlebnis und die Erfahrung soll bekannt werden, sondern das, was Gottes Wort sagt. Es ist darum auch das stellvertretende Bekenntnis des Vaters für die unmündigen Familiengenossen möglich.

Damit jemand ein volles Glied der Gemeinde sei, ist die selbständige und bewusste Anerkennung des Bekenntnisses notwendig. Durch besonderes Kirchenrecht ist deshalb ferner zu bestimmen, von welchem Alter an jemand als selbständig Bekennender anerkannt werden kann, ferner welcher Unterricht und welche Prüfungen der Aufnahme in die Gemeinde der Erwachsenen vorangehen sollen. Wenn wirklich eine selbständige Anerkennung des Gemeindebekenntnisses verlangt wird, so muss eine gründliche Unterweisung vorangehen. Doch darf kein Zwang bestehen, dass in

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einem bestimmten Alter das selbständige Bekenntnis beginnen muss; dies ist jedem Gliede freizustellen. Nur eine untere Altersgrenze, die durch die Natur bedingt ist, darf aufgestellt werden.

Wenn wir hier von der Abgrenzung der Gemeinde durch das Bekenntnis sprechen, so müssen wir immer im Auge behalten, dass das durch besonderes Kirchenrecht aufgestellte Bekenntnis nicht die Gemeinde schafft. Die Bekenntnisschrift ist vielmehr ein blosses Hilfsmittel, das notwendig ist für die geistliche Abgrenzung der Gemeinde durch die Funktionen, die im allgemeinen Kirchenrecht vorgeschrieben sind. Die Bekenntnisschrift wird erst notwendig dadurch, dass Teile der Kirche sich einem andern Bekenntnis zuwenden, das nicht mehr anerkannt werden kann von der reformierten Kirche, weil es nicht das Wort Gottes bekennt. So sind die Zeiten der grossen Kirchentrennungen und Umgruppierungen zugleich die Zeiten, die Bekenntnisschriften verlangen. Diese Zeiten sind aber immer Notlagen. Sie aber wirken als geschichtliche Ereignisse auf die nachfolgende Kirche weiter und machen stetsfort die Aufrechterhaltung und das neue Anerkennen der alten Bekenntnisschriften notwendig.27) Die Bekenntnisschriften sind historische Notwendigkeiten. Durch die Billigkeit im reformierten Kirchenrecht wird immer der Zusammenhang mit der Geschichte einer Kirche zur Notwendigkeit. Nie kann sich eine Kirche von ihr emanzipieren, sondern sie ist immerfort gezwungen, auch die Gemeinschaft mit ihrer Vergangenheit


27) Ueber die Gesetzmässigkeit im Auftreten solcher Zeiten für die Kirche vergl. Kuyper: „Die moderne Theologie eine Fata Morgana auf christlichem Gebiet”, 1872, S. 15 ff.

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durch die Anerkennung oder Nichtanerkennung der Bekenntnisschriften kundzugeben. Der Versuch, sich loszulösen von der Geschichte und einmal neu anzufangen ohne Stellungnahme zu ihren früheren Bekenntnisschriften muss immer auch zu einer Loslösung von der Schrift führen; denn es gehört zum Wesen der sichtbaren Kirche, dass sie stets mit ihrer Vergangenheit belastet ist. Sie wird nur innerhalb der Gesetze dieser Schöpfung sichtbar. Damit stellen wir aber nicht die Tradition als Autorität auf; denn die Kirche ist immer frei in der Anerkennung oder Nichtanerkennung der alten Bekenntnisse. Aber immer ist sie durch die Vergangenheit gezwungen, eine „orthodoxe Linie” weiterzuführen. So knüpfte die Reformation an die alten Bekenntnisschriften der Kirche an, und so knüpften auch die neueren reformierten Kirchen an die reformierten Bekenntnisse ihres Landes an.28)

c) Die Ordnung der Amtsführung.

Nachdem wir von der Bestellung des Amtes und von der Ordnung der Gemeindeabgrenzung gesprochen haben, ist weiter die eigentliche Amtsführung zu behandeln. Wir werden zwar erst das


28) Die gereformeerde Kerk der Niederlande anerkennt die Confessio Belgica, hat aber einige Aenderungen daran vorgenommen. Gegenwärtig ist dort wieder eine umfassende Abänderung und Erweiterung dieser Bekenntnisschrift in Vorbereitung, die besonders das Verhältnis von Kirche und Staat berühren soll. Auch die Eglise libre des Waadtlandes machte bei ihrer Entstehung den Versuch, an die Confessio Helvetica posterior anzuknüpfen. Doch hat sie sich später davon ganz emanzipiert und ein Bekenntnis aufgestellt, das keine klare Stellungnahme mehr ausdrückt. Nur noch ganz allgemein spricht sie von der Verwandtschaft mit der Reformation, ohne ausdrücklich eine Anerkennung oder Nichtanerkennung der Lehren der Reformation auszusprechen. Sie hat aber damit auch verzichtet auf eine klare Weiterführung der reformiert-orthodoxen Linie.

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nächste Kapitel den Funktionen und der Ausgestaltung des Amtes widmen, aber hier ist zu erwähnen, dass durch besonderes Kirchenrecht eben die Amtsführung im einzelnen zu ordnen ist. Es genügt nicht, dass in einer Kirche allgemein die Lehre von den Funktionen bekannt ist, sondern es muss eine bestimmte Gemeindeordnung aufgestellt werden. Diese Gemeindeordnung ist wiederum ein blosses Hilfsmittel für die Ausübung der Funktionen, wie auch die Bekenntnisschrift.

Wir müssen hier einige Punkte, die erst im nächsten Kapitel in ihrer allgemein kirchenrechtlichen Bedeutung behandelt werden, vorwegnehmen. Durch besonderes Kirchenrecht sind hier vor allem eine bestimmte Ordnung für den Gemeindegottesdienst und die liturgischen Regeln aufzustellen, ferner die Tauf- und Abendmahlsordnungen. Weiter ist eine bestimmte Kirchenzuchtsordnung aufzustellen und endlich eine Ordnung für die Verwaltung des Diakonenamtes. Es liessen sich über jeden dieser Punkte eine Menge von allgemeinen Prinzipien aussagen, die wir zum Teil noch im nächsten Kapitel behandeln werden. Im übrigen erlaubt uns aber der Rahmen dieser Arbeit nicht, näher auf alle diese Fragen einzugehen.

d) Die Ordnung des Verhältnisses zu andern Gemeinden.

Aus dem Gemeindeprinzip Ein Ort — Eine Gemeinde ergibt sich die Notwendigkeit eines geordneten Verhältnisses von Gemeinde zu Gemeinde. Die Nachbargemeinden müssen sich über ihre territoriale Abgrenzung verständigen, auch eine ganze Reihe kirchenrechtlicher Fragen

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berühren nicht nur eine einzelne Gemeinde für sich, sondern mehrere Gemeinden zusammen. Das Recht des Kirchenverbandes besteht aber nur als besonderes Kirchenrecht.

Hier ist vor allem zu beachten, dass wir eine dogmatische und nicht eine historische Studie machen. Der dogmatische Zusammenhang fällt nicht zusammen mit der historischen Entwicklung, ja, in unserem Falle des reformierten Kirchenrechtes geht die historische Entwicklung vielfach genau den gegenteiligen Weg, weil die reformierte Kirche von der römischen herkommt, die kirchenrechtlich ihr direkter Antipode ist.

Wie entsteht überhaupt eine Gemeinde? Nur dadurch, dass an einem Orte das Wort verkündigt wird. Derjenige, der aber dort das Wort verkündigt, kommt schon von einer andern Gemeinde her. Solange am neuen Ort noch nicht eine selbständige Gemeinde besteht, solange vielleicht erst einzelne Gläubige dort sind oder solange sie kein Gemeindeamt besitzen, gehört der Ort zur Muttergemeinde, von der aus sie die Verkündigung des Wortes empfängt. Sobald aber am neuen Ort die tatsächlichen Verhältnisse so sind, dass wir von zwei Gemeinden reden können, hat die Mutetr gemeinde ihre Tochtergemeinde zu entlassen. Es hat eine Gemeindeteilung stattzufinden. Diese Teilung geht aus von der Muttergemeinde. Die Aeltesten der Muttergemeinde übertragen das Gemeinderegiment neuen oder bisher zur Muttergemeinde gehörenden Aeltesten für die neue Gemeinde. Wir begegnen nun in den wirklichen Verhältnissen stets Uebergangsstadien. Es ist die Funktion der Gemeinde, dass sie sich ausbreitet.

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So werden wir gerade da, wo die Funktionen wirksam ausgeübt werden, vielfach Gemeinden antreffen, die schon eine gewisse Selbständigkeit erlangt haben, aber noch nicht als mündige Gemeinden anerkannt worden sind.29) Wichtig ist hier auch, darauf hinzuweisen, dass der Missionar immer von einer Gemeinde ausgesandt sein soll. Er übt ein Gemeindeamt aus. Niemand kann sich selbst ein Missionsamt übertragen. Eine Ausnahme machen nur die Apostel, die direkt durch Christus in ihr Amt berufen worden sind.

Eine Gemeinde darf sich nun nicht dahin ausbreiten, wo schon eine Gemeinde besteht; denn das bedeutete ein Eingriff in das Gemeindeprinzip. Wenn aber ein Amtsträger, ein Missionar oder Apostel dennoch an einem Orte arbeiten will, wo bereits eine Gemeinde besteht, da muss er sich in den Dienst der bestehenden Gemeinde stellen.30)


29) Wir finden z.B. in der Zeit der ersten Missionsreisen des Apostels Paulus die beiden wichtigsten Muttergemeinden Jerusalem und Antiochia. Antiochia ist die Gemeinde, von der aus Paulus seine Missionsarbeit unternimmt. Die Apostelversammlung in Jerusalem (Apg. 15) betrachten wir kirchenrechtlich unter dem Gesichtspunkt der Synode. Antiochia ist als die Muttergemeinde der Heidengemeinden vertreten und Jerusalem als die Muttergemeinde der judenchristlichen Gemeinden. Paulus und seine Begleiter sind abgeordnet von Antiochia; in Jerusalem verhandeln sie mit den Aposteln und Aeltesten der dortigen Gemeinde, aber auch die ganze Gemeinde nimmt Anteil an der Anerkennung der Beschlüsse. Anders Kuyper (Antirevolutionaire Staatkunde Bd. I, S. 687 f.), der die Apostelversammlung auf das ausserordentliche Apostelamt gründen will. Es lässt sich eben bei den Aposteln das ausserordentliche und das ordentliche Gemeindeamt nicht voneinander trennen. Kuypers Begründung seines Standpunktes scheint mir nicht stichhaltig. Er vermisst an der Apostelversammlung hauptsächlich einige Formen, die wohl für eine niederländische Synode, aber nicht allgemein kirchenrechtlich erforderlich sind.
30) Paulus geht von Antiochia aus, missioniert aber nach Möglichkeit an noch unberührten Orten (Rom. 15, 20; Inst. 4, 3, 4.), arbeitet ➝

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Damit das Gemeindeprinzip gewahrt wird, ist die Anerkennung der Gemeinden untereinander notwendig.

Es gilt auch hier, was wir von der gegenseitigen Anerkennung des Bekenntnisses gesagt haben: es handelt sich nicht nur um die äussere Anerkennung, sondern um eine Anerkennung im Glauben. Ihr innerstes Wesen ist pneumatischer Art.

Wenn an einem Orte die Gemeinde aus irgend einem Grunde nicht anerkannt wird, so ist der betreffende Ort Missionsgebiet, so muss an jenem Orte nach der Ausbreitung und Gründung einer Gemeinde getrachtet werden. Es ist aber nicht nur die Anerkennung des Gemeindegebietes erforderlich, sondern auch die Verständigung über das Gebiet, wo noch keine Gemeinden bestehen, damit nicht von vielen Gemeinden aus dort gearbeitet wird.31) Aber immer muss es eine Verständigung unter Gemeinden sein, die das Ortsprinzip anerkennen.

Vor allem müssen die Gemeinden ihre Bekenntnisse gegenseitig anerkennen; denn nur in der Verbundenheit im Bekenntnis des Wortes Gottes ist überhaupt eine Anerkennung der Gemeinden möglich. Gewöhnlich wird das dazu führen, dass alle Gemeinden eines Landes ein gemeinsames Bekenntnis aufstellen. Doch ist das nicht unbedingt erforderlich. Notwendig ist nur die Anerkennung der verschiedenen Bekenntnisse. Auch


➝ aber immer im Dienste der bereits bestehenden Gemeinden. Ja, er beginnt an einem neuen Orte grundsätzlich seine Arbeit immer zuerst in der bestehenden Judengemeinde und erst nach der Verfolgung durch diese gründet er eine neue Gemeinde.
31) Vergl. Gal. 2, 9.

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ist es wohl möglich, dass verschiedene Bekenntnisse Differenzen in der Auffassung aufweisen. Darin liegt noch kein Grund für die Nichtanerkennung, sofern nur diese Differenzen in einem verschiedenen Verständnis des Wortes Gottes beruhen und nicht in einer Ablehnung des Wortes Gottes oder Autorität neben der Schrift. Ganz gleich verhält es sich auch mit der Anerkennung des Bekenntnisses innerhalb der Gemeinden. Es ist auch hier möglich, dass von einzelnen Gläubigen von der Schrift aus Vorbehalte gemacht werden gegen einzelne Punkte des Bekenntnisses oder dass dem Bekenntnis eine etwas verschiedene Auslegung gegeben wird. Wenn in einer Gemeinde solche Differenzen bestehen, die die Einheit nicht stören, so darf das kein Grund sein für eine Nichtanerkennung der Gemeinde durch die andern Gemeinden.

Es ist aber nicht nur die Anerkennung des Bekenntnisses notwendig, sondern auch die Anerkennung des Gemeindeamtes und damit des gesamten besonderen Kirchenrechtes einer Gemeinde; denn die Gemeinde kann nur als durch das Amt verfasste Gemeinde anerkannt werden. Ohne Anerkennung des Amtes und des besonderen Kirchenrechts kann eine Gemeinde nicht als selbständig anerkannt werden. Wenn wir hier sagen, dass Bekenntnis und Amt anerkannt werden müssen, so bedeutet das, dass die Gemeindeautonomie und Unabhängigkeit gewährleistet wird.

Mehrere Gemeinden zusammen bilden nun den Kirchverband. Dabei bildet die natürliche und geschichtliche Gebietsverteilung die Grundlage. Einige benachbarte Gemeinden, die besonders in Fühlung leben miteinander, sind vereinigt unter der Klassis,

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dem Kapitel oder der Bezirkskirchenpflege, alle Gemeinden eines Landes unter der Synode. Aber auch über die nationalen Grenzen hinaus soll eine Anerkennung erfolgen. Die Kirchen aller Länder sind zusammengeschlossen im Konzil. Ein allgemeines Konzil liegt also durchaus nicht ausserhalb der Möglichkeiten des reformierten Kirchenrechtes.32)

Welches ist nun die Natur aller dieser Verbände. Der Independentismus geht hier wieder einen andern Wege als der Calvinismus. Er liess ursprünglich überhaupt keine Behörde bestehen über die Gemeinde hinaus. Anders das reformierte Kirchenrecht. Hier wiederum wird grundsätzlich das Bestehen von Kirchenrecht, das einen Verband von Gemeinden umfasst, anerkannt. Das Kapitel ist den Gemeinden im Kapitelbezirk, die Synode den Kapiteln im Synodalverband und das Konzil den Synoden im ganzen Weltverband übergeordnet. Aber in der Unterordnung unter diese Behörden besteht ein wesentlich anderes Verhältnis als zwischen Gemeindeamt und Gemeinde.

Die Kirchenpflege ist der Gemeinde als Regierungsamt vorgestellt, sie erlässt und handhabt besonderes Kirchenrecht. Jede Gemeinde aber ist autonom. Das Gemeindeamt beruht darauf, dass durch die Amtsträger gegenüber der Gemeinde die Schlüsselgewalt geübt wird. Die Schlüsselgewalt aber kann nur einzelnen Menschen gegenüber geübt werden und nie einer Gemeinde gegenüber. Es ist deshalb völlig ausgeschlossen, dass es nach reformiertem Kirchenrecht noch ein geistliches


32) Inst. 4, 8, 1 ff.

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Amt über der Gemeinde gibt. Die Funktionen der Kirche können nur in der Gemeinde und als Gemeindeamt ausgeübt werden, aber nicht durch irgendwelche Exekutive oder dergleichen, die über mehreren Gemeinden stände. Die Verbandsbehörde besitzt also einen ganz anderen Charakter als das geistliche Gemeindeamt. Sie besitzt keine ursprüngliche Gewalt, es besteht hier kein von vornherein gegebenes Herrschaftsverhältnis, sondern wenn überhaupt Kirchenregiment zur Anwendung kommen soll, so muss dieses ausgehen vom Gemeinderegiment. Verbandskirchenrecht kommt nur zustande durch das Zusammenwirken der verschiedenen Gemeinden. Jede Kirchenpflege ordnet einzelne Amtsträger in das Kapitel ab, unter Anerkennung durch die Gemeinde, und sie überträgt ihnen die Vertretung der Gemeinde und des Gemeindeamtes. Wichtig ist, zu beachten, dass diese Abgeordneten als Amtsträger des Gemeinderegimentes fungieren. Wenn dies nicht der Fall ist, kann auch kein Verbandskirchenrecht zustande kommen. Das Kapitel wird also nicht bestellt durch allgemeine Wahl im ganzen Bezirk, sondern durch die einzelnen Gemeinden. Die kirchenrechtliche Gewalt des Kapitels besteht nun in der Anerkennung, die die einzelnen Gemeinden kraft ihres Gemeinderegimentes einander zollen. Keine Gemeinde ist den andern übergeordnet, alle besitzen dieselbe geistliche Gewalt in ihrem Amte. Jede Gemeinde ist darum auch gleicherweise im Kapitel vertreten. Wenn schon die Grundlage der Rechtsgewalt im Kapitel die allseitige Anerkennung der Gemeinden ist, so brauchen trotzdem die Beschlüsse des Kapitels nicht mit Einstimmigkeit gefasst zu werden.

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Die Anerkennung kommt eben darin zum Ausdruck, dass sich freiwillig jede Gemeinde der Kapitel- und weiter der Synodalordnung unterstellt, allein um der Einheit der Kirche willen. Das Kapitel und die Synode besitzen von sich aus keine Macht, um eine Gemeinde zum Anschluss zu zwingen. Wenn wir aber sagen, dass die Anerkennung und damit die Unterordnung freiwillig geschieht, so heisst das nicht, dass eine Gemeinde nach Gutdünken sich dem Verband anschliessen kann oder auch nicht. Nein, der Zusammenschluss mit allen Gemeinden, deren Bekenntnis und Amt überhaupt anerkannt werden kann als mit dem Worte Gottes übereinstimmend, ist durch das Gemeindeprinzip geboten. Es ist allgemein kirchenrechtliche Pflicht, dass auch das Verhältnis der Gemeinde zu den andern Gemeinden durch besonderes Kirchenrecht geregelt wird. Die Betonung der Freiwilligkeit bedeutet nur, dass das reformierte Kirchenrecht keine Gewaltshierarchie kennt, die der einzelnen Gemeinde übergeordnet ist. Alle kirchenrechtliche Gewalt fliesst einzig und allein durch das Gemeindeamt.

Damit ist auch alles weitere gegeben über die Befugnisse der Kapitel und Synoden. Weder das Kapitel noch die Synode besitzen ein geistliches Amt. Die Ordnungen, die sie aufstellen, kommen nur in den Gemeinden zur Vollziehung durch das Gemeindeamt. Nur solange das Kapitel oder die Synode tagt, ist sie selber eine kirchliche Behörde. Mit dem Schluss der Versammlung ist ihre Gewalt wieder an alle Gemeindeämter verteilt. Das reformierte Kirchenrecht kennt deshalb nicht neben einer Legislative eine Exekutive oder einen

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ständigen Kirchenrat, der über dem Verband auch nur als Exekutive steht. Einzig im Blick auf die Versammlung der Synode oder des Kapitels besteht eine Geschäftsführung, das Moderamen oder Dekanat. Dieses hat aber keine direkte Beziehung zu den Gemeinden, sondern führt und ordnet nur die Geschäfte des Kapitels oder der Synode. Kapitel und Synode werden prinzipiell durch das Gemeindeamt einberufen. Das kann aber auch in der Weise geschehen, dass an jeder Tagung gleich die nächstfolgende oder eine bestimmte Regel für das Zusammenkommen' festgestellt wird. So kann dem Moderamen der Auftrag für die Vorbereitung und Einberufung der nächsten Versammlung gegeben werden. Es ist dann Moderamen im Hinblick auf die Geschäftsführung der nächsten Versammlung. Sonst aber erlöscht das Moderamen auch mit dem Auseinandergehen des Kapitels oder der Synode. Es kann aber auch einer Gemeinde der Auftrag gegeben werden, die nächste Versammlung einzuberufen. Grundsätzlich aber steht das Recht zur Einberufung der Gemeinde zu.

Auf Grund der Notwendigkeit der Anerkennung der Gemeinden untereinander steht dem Kapitel oder der Synode nicht nur das Recht und die Pflicht zu, gemeinsame Ordnungen des besonderen Kirchenrechtes aufzustellen, sondern auch die einzelnen Gemeinden zu visitieren. Es darf aber nicht eine allgemeine Visitationskommission bestellt werden, der dann diese Aufgabe Überbunden wird, sondern es sind für einzelne Visitation bestimmte Amtsträger zu ernennen.

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Es besteht noch die Frage, ob die Gemeinde direkt der höchsten Synode angeschlossen ist oder nur durch die Vermittlung des Kapitels. Wenn kein Zusammenschluss zu Kapiteln besteht, so ist natürlich die Gemeinde direkt in der Synode vertreten. Es kann kein allgemein gültiger Satz aufgestellt werden, wie viele Gemeinden zusammen ein Kapitel oder eine Synode bilden sollen. Das hängt von den örtlichen Gegebenheiten ab. Aber doch gilt der Grundsatz, dass auf jeden Fall für den untersten Zusammenschluss noch nachbarliche Beziehungen bestehen müssen. Das ist durch den örtlichen Charakter des Gemeindeprinzipes gegeben. Wenn nun eine Stufenfolge von Verbänden besteht, so ist die Gemeinde nur durch den kleineren Verband mit dem grösseren verbunden. Die Grundlage für den Synodalverband ist die Anerkennung innerhalb des Kapitels. Der Sinn des Synodalverbandes liegt darin, dass das Gemeindeprinzip verwirklicht werde, dass die Einheit der Kirche an jedem Orte zum Ausdruck komme. Dazu ist die unbedingte Gegenseitigkeit in der Anerkennung notwendig. Die sich gegenseitig anerkennenden Gemeinden müssen einen geschlossenen Ring bilden. Wird eine Gemeinde eines Kapitels anerkannt, so ist damit auch das ganze Kapitel anerkannt oder wird umgekehrt eine Gemeinde eines Kapitels nicht anerkannt, so kann auch der ganze Kapitelbezirk nicht anerkannt werden. Es ist darum die Geschlossenheit auch in der Stufenfolge vom kleineren zum grösseren Verband notwendig. Aber gleichwohl ist auch der umfassendste Verband nur auf die Gemeinde gegründet. Die vom Kapitel zur Synode abgeordneten

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Vertreter amten auch in der Synode als Träger des Gemeindeamtes. Sogar ein allgemeines Konzil kann nur aufgebaut sein auf das Gemeindeamt.33)

e) Die Ordnung des kirchlichen Güterrechtes.

Durch die Tatsache, dass sich die Kirche innerhalb der irdischen Schöpfungsordnungen versichtbart, ist es gegeben, dass sie auch Sachen und Güter in Besitz und Gebrauch nimmt zur Ausübung ihrer Funktionen. Das Prinzip, nach welchem die Güter der Kirche eingebracht und


33) Zu diesem ganzen Abschnitt ist hinzuzufügen, dass natürlich die gegebenen Verhältnisse die verschiedensten Formen aufweisen können. Durch die weitgehende Nichtbeachtung des Gemeindeprinzips, vor allem von Seiten des Independentismus und aller seiner Folgeerscheinungen, zeigt heute die ganze reformierte Kirchenwelt ein äusserst zerrissenes Bild, weniger in ihrem geistigen weltumspannenden Zusammenhange als vielmehr an den einzelnen Orten, wo von einer klaren Abgrenzung in Gemeinden nicht mehr die Rede ist. Doch sind z.B. die Verhältnisse in der Schweiz grundsätzlich andere als in Amerika. Hier erhebt die Landeskirche immer den Anspruch, an jedem Orte die Kirche zu sein. Dort sind schon durch die geschichtliche Entwicklung der Einwanderung zahlreiche Kirchen neben- und durcheinander gegeben, die zum grossen Teile ursprünglich Fremdengemeinden waren. Die gegenwärtigen Einigungsbestrebungen, die zunächst noch nicht über die Form von Allianzen hinausgegangen sind, dürfen deshalb wohl als ein Anfang einer Rückkehr zum Gemeindeprinzip Ein Ort — Eine Gemeinde gewertet werden. Dagegen käme in der Schweiz eine Allianz zwischen den verschiedenen Gemeinden, Gemeinschaften und Freikirchen mehr einer Konsolidierung der bestehenden Verhältnisse gleich, wenn damit die Landeskirche ihren Anspruch auf Verwirklichung des Ortsprinzipes aufgeben würde. In den amerikanischen Verhältnissen dagegen ist die Verwirklichung des Gemeindeprinzipes nur über den Weg der Allianz möglich. Die Form der Einigungsbestrebungen muss deshalb je nach den örtlichen Verhältnissen sich wandeln. (Vergl. über das amerikanische Kirchenwesen: Adolf Keller, Dynamis, 1922.) Diese, mehr besondere Verhältnisse betreffenden Bemerkungen schienen uns wünschenswert zum besseren Verständnis und zur Vermeidung von Missverständnissen über die Lehre vom Gemeindeprinzip.

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verwendet werden, können wir erst im Anschluss an die Lehre von den Funktionen behandeln.

Das reformierte Kirchenrecht kennt keine „religiösen Gegenstände”, die an sich oder durch eine besondere Weihe einen religiösen Charakter besitzen. Ebenso, wie für den einzelnen Christen grundsätzlich alles, was er besitzt, Gott gehört und ihm nur zur Verwaltung und zum Gebrauch übergeben ist, so gehört alles Kirchengut allein dem Herrn der Kirche, Christus. Die Kirche ist nur Verwalterin der ihr anvertrauten Güter.

Wenn eine Gemeinde Verpflichtungen eingeht gegenüber Drittpersonen, z.B. Kaufverträge oder Arbeitsverträge abschliesst, so ist es für die Kirche nicht nur Pflicht aus weltlichem Recht, ihre Schulden zu tilgen und ihre Verpflichtungen zu erfüllen, sondern es ist auch kirchenrechtlich geboten, dass solche Verträge eingehalten werden müssen; denn die sittlichen Normen sind auch kirchenrechtlich verbindlich, indem sie einbezogen sind in die Rechtsordnung des sekundären geistlichen Rechtes. So kann z.B. eine Gemeinde Personal anstellen zum Unterhalt und zur Besorgung der Kirchgebäude usw. Solches Personal übt aber kein kirchenrechtliches Amt aus, sondern lediglich Hilfsdienste.

Die Kirche ist zum Unterhalt der von ihr berufsmässig angestellten Amtsträger verpflichtet. Diese Verpflichtung besteht aber im Gegensatz zum vorigen Vertragsverhältnis auch unabhängig von den weltlichen Gesetzen. Jene Verträge sind verpflichtend, weil sie nach weltlichem Recht gültig sind, diese sind verpflichtend, selbst wenn sie nach weltlichem Recht nicht gültig wären. Die

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Verwaltung des Wortes soll grundsätzlich als Arbeit gewertet werden und es soll deshalb ein billiger Lohn gezahlt werden. „Der Arbeiter ist seines Lohnes wert.” Doch darf dieser Lohn nicht zur Bereicherung des Amtsträgers dienen. Die Gemeinden besitzen so weitgehende finanzielle Verpflichtungen ihren angestellten Amtsträgern gegenüber, die auch unter Umständen über die Zeit ihrer Amtsausübung hinausgehen können (z.B. Altersversorgungen). Im einzelnen ist es Sache des besonderen Kirchenrechtes, wie diese Verpflichtungen alle geregelt werden. Hier soll nur das Prinzip festgehalten werden, dass aller berufliche Amtsdienst die Gemeinde zum Unterhalt verpflichtet. Der, Amtsträger, der sein ganzes Leben in den Dienst der Gemeinde stellt, soll nicht nur auf freiwillige Gaben, die ihm von da oder dort zufliessen, angewiesen sein. Der Unterhalt durch Bettel kommt schon deshalb nicht in Frage, weil er unsittlich ist. Dagegen wird von verschiedenen Seiten als dem wahren Glauben angemessen bezeichnet, wenn ein Verkündiger des Evangeliums nur eben auf das angewiesen sei, was ihm Gott durch Gaben und Wunder ohne Bettel zuhalte. Man stützt sich dabei auf die Aussendung der Jünger durch Jesus, der ihnen befohlen hatte, kein Geld und keinen Beutel mitzunehmen. Auch vom reformierten Gesichtspunkte aus muss das die Stellung des kirchlichen Amtsträgers in seinem Glauben sein. Er soll z.B. die Gemeinde nur als kirchenrechtlich ihm gegenüber für verpflichtet halten, nicht auf Grund weltlichen Rechtes. Er muss wissen, dass er alles, was er zum Lebensunterhalt braucht, nur von Gott zu erwarten hat. Aber

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gerade diese Tatsache schafft für die Gemeinden die Pflicht, für ihre Diener zu sorgen, ganz besonders für den Diener am Wort. Ihr Unterhalt ist nicht eine Liebesgabe, sondern eine Besoldung (Vergl. Gal. 6, 6; 1. Tim. 5, 17-18.)

Auch das kirchliche Sachen- und Schuldrecht steht unter dem Gemeindeprinzip. Besitz und Verwaltung kommen der einzelnen Gemeinde zu im Gemeindeamt. Insbesondere ist nicht der Synodalverband Eigentümer des Kirchengutes. Der Synodalverband besitzt ebensowenig als ein Amt auch keine eigenen Kirchengüter, Alles, was er verwaltet, gehört den Gemeinden. Er übt ja keine Funktionen als solcher aus, sondern nur durch die Gemeinden. Dagegen ist es Pflicht der einzelnen Gemeinden, die Lasten, die aus ihrer Anerkennung erwachsen, angemessen zu verteilen. Es können auch die Gemeinden gemeinsam eine Verwendung ihres Kirchengutes bestimmen (z.B. für die Anstellung von Hochschullehrern). Aber immer wird sich eine gemeinsame Verpflichtung des Kirchverbandes solidarisch auf die einzelnen Gemeinden verteilen. Mit der Anerkennung anderer Gemeinden haben die einzelnen Gemeinden auch die Pflicht, bedrängten anderen Gemeinden zu Hilfe zu kommen. Es ist auch wohl möglich, dass durch gemeinsames besonderes iKirchenrecht bestimmte für alle Gemeinden verbindliche Höhen der Besoldungen usw. festgesetzt werden. Wenn eine Gemeinde aus ihren Mitteln ihren Verpflichtungen nicht genügen kann, so hat sie das Recht und die Pflicht, die andern Gemeinden um Hilfe anzugehen. Grundsätzlich wird aber der Gemeindebeamte von der Gemeinde angestellt und besoldet.

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Darf eine Gemeinde Steuern erheben? Wir wollen diese Frage zunächst stellen, ohne das Verhältnis von Kirche und Staat zu berühren, rein vom Gemeindeprinzip aus. Aller Kirchendienst, wie überhaupt alle Erfüllung der Normen des geistlichen Rechtes verlangt Selbstverleugnung. Diese kann nur freiwillig geübt werden, sonst ist sie keine Selbsthingabe mehr. Aber der Freiwilligkeit ist völlig Genüge geleistet dadurch, dass kein weltlicher Zwang geübt wird, weder auf die Zugehörigkeit zur Kirche, noch auf eine Steuerpflicht gegenüber der Kirche. Wenn nun innerhalb der Kirche die Glieder einer bestimmten Ordnung einer Disziplin sich unterziehen müssen, indem sie an das besondere Kirchenrecht gebunden sind, so ist damit das Prinzip der Freiwilligkeit nicht angetastet. Wenn nur durch eine bestimmte Ordnung die Funktionen zur Durchführung gelangen, so hat sich das Gemeindeglied dieser Ordnung zu unterstellen. Wenn dagegen die Funktionen nicht ausgeübt werden, dann hat es auf Grund der Schrift das Recht und die Pflicht, Abhilfe zu verlangen.34) Zur Aufbringung der Mittel für diejenigen Schuldverpflichtungen, für die die Gemeinde kirchenrechtlich haftbar ist, darf sie auch eine bestimmte Ordnung festsetzen für den Anteil der einzelnen Glieder. Sie darf Steuern erheben. Die Art dieser Steuererhebung, die Höhe, die Kontrolle des Einganges und alle Einzelheiten müssen durch das besondere Kirchenrecht bestimmt werden. Doch sei hier darauf hingewiesen, dass es sowohl möglich ist, dass eine feste Steuerordnung besteht als auch


34) Vergl den Abschnitt über das Reformationsrecht.

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eine mehr freiwillige Beitragsleistung. In beiden Fällen aber handelt es sich nicht um eine „Liebessteuer”, sondern um eine kirchenrechtliche Steuerpflicht. Im allgemeinen Priestertum liegt auch die Pflicht, an den Lasten der Gemeinde teilzunehmen. Im Gegensatz zu den Mitteln, die für Erfüllung der Schuldverpflichtungen der Gemeinde, für Anstellung von Dienern, für den Gottesdienst usw. aufgewendet werden, sind aber die Gelder, die zur Unterstützung der Armen und Kranken dienen, nicht durch steuerrechtliche Forderungen zu erheben, sondern als Liebesgaben einzusammeln. Denn das ist der Sinn der Liebestätigkeit durch die Gemeinde, dass sie das Opfer zum Ausdruck bringen soll.

Aus welcher Gewalt sollen aber die Steuern erhoben werden? Wenn wir das reformierte Kirchenrecht als geistliches Recht bejahen, dann unterliegt es gar keinem Zweifel, dass keinerlei weltliche Gewalt dafür in Anwendung kommen darf. Dagegen könnte das Mittel der Kirchenzucht im Falle groben öffentlichen Aergernisses in Frage kommen. Die Gemeinde besitzt aber auch die Pflicht und Möglichkeit, ganz unabhängig von staatlichen Gesetzen sich den besonderen Fällen anzupassen und Ausnahmen zu gewähren.

Damit die Kirchenpflege nicht durch rein geschäftliche Aufgaben von ihren geistlichen Funktionen abgehalten wird, ist es statthaft, dass sie die rein geschäftliche Verwaltung besonderen Kommissionen oder Verwaltern überträgt. Diese haben aber kein geistliches Amt inne.

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f) Die Ordnung der Beziehungen zum Staat.

Trotzdem wir in unserer Arbeit das Verhältnis von Kirche und Staat gar nicht behandeln, möchten wir hier wenigstens darauf hinweisen, dass es auch Aufgabe des besonderen Kirchenrechts ist, mitzuwirken in der Ordnung der beiderseitigen Beziehungen, Es lag uns daran, die Stelle aufzuweisen, wo diese Frage ihren Platz im System findet. Wenn wir das Verhältnis von Kirche und Staat jedoch am Schlüsse in einem besonderen Kapitel wenigstens in seinen Problemen andeuten, so hat das seinen Grund darin, dass sich hier nicht nur kirchenrechtliche, sondern auch staatsrechtliche Fragen stellen.

g) Die Ordnung der Reformation.

Die Gewalt des reformierten Kirchenrechts ist eine geistliche und gebunden an das Wort Gottes. Nur da ist die Kirche und nur da gilt das Kirchenrecht als geistliches Recht, wo Gottes Wort proklamiert wird, nur da, wo die Funktionen des Leibes Christi sichtbar ausgeübt werden. Das besondere Kirchenrecht, das diese Funktionen zur Vollziehung bringt, kann sehr verschiedene Formen annehmen. Es ist aber auch ein Irrtum der Kirche möglich. Es ist Aufgabe der Kirche, immer reiner und besser zur Darstellung zu gelangen nach dem Worte Gottes. Der bestehende Zustand der Kirche muss der beständigen Kritik vom Worte Gottes aus unterliegen. Wenn eine Kirche einen Irrweg gegangen ist, so ist die Reformation der Kirche nötig. Reformation in diesem Sinne ist nicht nur ein einmaliges geschichtliches Ereignis, sondern sie

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ist eine allgemeine kirchenrechtliche Norm von immerwährender Gültigkeit.

Die Reformation betrifft immer die einzelne Gemeinde und hat die reine Darstellung der Gemeinde zum Ziel. Um durchgeführt zu werden, muss aber die Erkenntnis der Reformationsbedürftigkeit vorangehen. Diese Erkenntnis wird gewirkt durch den heiligen Geist und äussert sich in der besseren Einsicht in das, was Gottes Wort sagt. Die Reformation geht darum vom Worte Gottes aus und ist gewirkt durch den heiligen Geist. Der erste Schritt der Reformation besteht in der Bekanntmachung dessen, was Gottes Wort sagt. Das Wort Gottes ist allen Gläubigen gleicherweise gegeben. Niemand hat ein kirchenrechtliches Vorrecht zur Auslegung des Wortes Gottes. Es kann jedem Gläubigen die neue Einsicht geschenkt werden. Es ist im allgemeinen Priestertum — durch die Pflicht der Zugehörigkeit zur Gemeinde — jedem Gläubigen zum Rechte und zur Aufgabe gemacht, der Gemeinde bekannt zu geben, wenn Gottes Wort die Reformation der Kirche verlangt.

Unter Reformation verstehen wir nicht die kleinen Aenderungen, die eine zweckmässigere Ausübung der Funktionen zum Ziele haben. Von Reformation reden wir nur dann, wenn konstitutive Normen des allgemeinen Kirchenrechtes nicht zur Vollziehung gelangt sind oder nur so, dass ihr Sinn entstellt wurde, wenn z. B. nicht die Lehre der Schrift verkündigt und bekannt wird oder wenn die Sakramente nicht oder so verwaltet werden, dass sie ihres Sakramentscharakters entkleidet sind. Wenn eine Aenderung eintritt rein im

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Hinblick auf die bessere Ausübung der sittlichen Funktionen oder auf die äussere Zweckmässigkeit und ästhetische Form, so reden wir nicht von Reformation, d.h. Rückkehr zur Schrift, sondern von blosser Umwandlung. Die Pflicht zur Bekanntmachung dessen, was das Wort Gottes gebietet, steht jedem Gemeindeglied zu, aber die Durchführung der Reformation, die in besonderem Kirchenrecht besteht, hat durch das Kirchenregiment zu geschehen.

Durch die Bekanntmachung, dass Gottes Wort die Reformation der Kirche verlangt, ist jede Gemeinde, der das bekannt wird, in den Anklagezustand versetzt, auch wenn als Kläger nur ein einzelnes Gemeindeglied auftritt. Nur dann besteht aber diese Anklage aus geistlichem Recht, wenn sie vom Worte Gottes selber ausgeht. Keine menschliche Instanz ist Richter in diesem Prozess, sondern allein das Wort Gottes, in ihm liegt alle Kirchenhoheit. Um der menschlichen Schwäche willen, der auch noch die Kirche unterliegt, ist es möglich, dass Kläger oder Angeklagte irren und im Irrtum beharren. Allein Gott kommt es zu, seine Kirche zu erkennen, und allein durch das Zeugnis des heiligen Geistes wird im Worte Gottes jedem einzelnen Gläubigen offenbart, welches die Gemeinde Gottes ist, welches die Gemeinde ist, die Gottes Wort bekennt und der er anzugehören hat. Die Anklage aus dem Worte Gottes kann dazu führen, dass Gott ganzen Gemeinden, ganzen Kirchverbänden die Augen öffnet und ihnen die Notwendigkeit der Reformation offenbart.

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Die Reformation hat immer in geordnetem Wege vor sich zu gehen. Wird es einer Gemeinde und ihrer Kirchenpflege offenbart, dass in ihr eine Reformation notwendig ist, so hat sie die Pflicht, die Reformation durchzuführen, durch besonderes Kirchenrecht zu vollziehen. Sie hat die Funktionen, die ihr im allgemeinen Kirchenrecht vorgeschrieben sind, auszuüben. Sie ist dabei an keine Bewilligung irgendwelcher über ihr stehenden Instanz gebunden. In der Regel wird aber schon vorher eine Auseinandersetzung mit den andern Gemeinden und mit den Verbandsbehörden stattgefunden haben. Diese „reformierte” Gemeinde hat aber auch gleichzeitig die Pflicht, den andern Gemeinden und dem kirchlichen Verband von ihrer Reformation Kenntnis zu geben und die Reformation auch der andern Gemeinden zu verlangen. Diese ist notwendig, weil sonst das Anerkennungsverhältnis aufgehoben wird. Eine Reformation wird immer einen Punkt der Glaubenslehre betreffen, etwas, was von Gottes Wort gelehrt wird. Die Reformation betrifft deshalb immer das Bekenntnis der Gemeinden. Sich in entscheidenden Fragen widersprechende Bekenntnisse können aber nicht anerkannt werden. Schenkt Gott nun auch dem ganzen Kirchenverband die Einsicht in die Notwendigkeit der Reformation, so hat der Verband ein neues Bekenntnis aufzustellen und die Anerkennung der Gemeinden auf dieses Bekenntnis zu gründen. Gemeinden, die das Bekenntnis nicht anerkennen, sind von der Anerkennung auszuschliessen und es ist der Ort als Missionsgebiet zu erklären oder es sind die das Bekenntnis annehmenden Glieder an jenem Orte zu einer neuen Gemeinde zu sammeln.

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Dadurch wird die bestehende Gemeinde in den Anklagezustand versetzt. So ist es möglich, dass an einem Orte eine zweite Gemeinde entsteht. Aber solange mehr als eine Gemeinde an einem Orte ist, bleiben diejenigen, die reformationsbedürftig sind, im kirchenrechtlichen Anklagezustand und die „reformierte” Gemeinde bleibt „klagende Gemeinde”.35) Es kann auch innerhalb einer bestehenden Gemeinde sich eine klagende Gemeinde bilden. Die Trennung von einer bestehenden Gemeinde soll auch dann nicht erfolgen, wenn diese in den Anklagezustand versetzt wird. Nur wenn die klagende Gemeinde aus der andern ausgeschlossen wird durch weltliches Recht und weltlichen Zwang, nur dann darf und muss eine völlig getrennte Gemeinde gebildet werden. Aber auch bei völliger zwangsweiser Trennung bleibt sie eine klagende Gemeinde.

Wenn eine Kirchenpflege die Reformation durchführen will und ein Teil der Gemeinde sich widersetzt, so sind diese Glieder unter Kirchenzucht zu stellen, es sind ihnen im äussersten Falle die Sakramente zu verweigern. Doch kann es nur soweit kommen, wenn es sich um beharrliche Unbussfertigkeit und grobes öffentliches Aergernis handelt. Wenn dieser Teil die weltliche Obrigkeit anruft, so steht der weltliche Richter vor der Frage, ob er aHein nach weltlichem Rechte oder


35) Der Ausdruck „klagende Kirche” stammt aus der niederländischen Doleanz. Die 1886 ausgeschlossenen Reformierten von Amsterdam bildeten unter der Führung Kuypers die „doleerende” Kirche (gereformeerde Kerk); doleeren soviel wie: sich beschweren, Recht suchen. Wir geben hier dem Ausdruck eine umfassende Bedeutung, indem wir der klagenden die angeklagte Gemeinde gegenüberstellen.

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unter Berücksichtigung der kirchenrechtlichen Normen entscheiden soll. Da dies eine Frage ist, die das Verhältnis von Kirche und Staat betrifft, erörtern wir sie hier nicht. Nur das sei festgestellt, dass es völlig gleich bleibt für den geistlichen Charakter und die Geltung des Kirchenrechts, wie der Richter entscheiden mag. Sogar wenn der Richter die Gemeinde auflöst oder eine kleine Minorität als rechtmässige Gemeinde bezeichnet, sogar, wenn er dieser Minorität alle Kirchengüter zuspricht oder sie der Kirchenpflege sonst entzieht, so wird sich die Kirchenpflege diesem weltlichen Zwang fügen und mit den treuen Gliedern eine neue klagende Gemeinde bilden. Sie ist nicht „klagend” in bezug auf das weltliche Recht, wohl aber ist sie kirchenrechtlich klagend und versetzt die andere Gemeinde in den Anklagezustand. Nicht darauf kommt es der klagenden Gemeinde an, dass sie die Kirchengüter besitze oder dass sie als die „rechtmässige” Gemeinde bezeichnet werde. Ihr Reichtum liegt nicht in den Gütern, sondern im Geiste, ihre Rechtmässigkeit gründet sich nicht auf weltliche Gewalt, sondern auf das Wort Gottes. Die Entscheidung des weltlichen Gerichts ist für die geistliche Geltung des Kirchenrechts völlig irrelevant.

Etwas anders liegt der Fall, wenn die Kirchenpflege der Reformation widerstrebt und nur eine Minderheit der Gemeinde sie durchführen will. In diesem Falle muss die Minderheit eine klagende Gemeinde bilden und es muss auch ein klagendes Gemeindeamt bestellt werden. Die Minderheit wird aber aus der angeklagten Gemeinde nicht ausscheiden, sondern solange im klagenden Zustande

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verharren, bis Gott durch seinen Geist die Reformation der ganzen Gemeinde wirkt und möglich macht. Wir sehen also: für die Geltung des reformierten Kirchenrechts ist nicht ein Mehrheitsbeschluss) massgebend, sondern allein Geist und Wort. Wir haben an diesen Beispielen zu zeigen versucht, dass auch bis in die letzte Konsequenz hinein das reformierte Kirchenrecht geistliches Recht ist und bleibt.

Das ist der Weg der Reformation, wie er durch die Grundsätze des reformierten Kirchenrechts vorgeschrieben ist. So wurde seit dem 16. Jahrhundert nach reformiertem Kirchenrecht die römische Kirche in Anklagezustand versetzt, und zwar an jedem einzelnen Orte, an dem sich Reformierte befanden, aber auch die römische Kirche als Ganzes, indem an ihre oberste Behörde das Verlangen nach Reformation gerichtet wurde. Durch die Bezeichnung „reformierte” Kirche wird zugleich kundgegeben, dass sie eine klagende Kirche ist, dass die Einheit gebrochen ist. Eine Kirche darf niemals vergessen, dass sie klagende Kirche ist. Eben darin kommt der Anspruch auf die Einheit zum Ausdruck. Auch der Verwirklichung des Ortsprinzips für die Gemeinde wird immer wieder die menschliche Schwachheit entgegenstehen und die Tatsache, dass es Irrlehren und häretische Kirchen gibt. Es gehört mit zur streitenden Kirche, dass sie auch zugleich eine leidende Kirche und sehr oft eine klagende Kirche ist.36)


36) Vergl. CH 17. (197, 47).

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4. Die besondere Kirchenrechtswissenschaft.

Es sollen gleich an dieses Kapitel einige Gedanken über die wissenschaftliche Behandlung des besonderen reformierten Kirchenrechts geäussert werden. Das Verhältnis des besonderen zum allgemeinen Kirchenrecht haben wir schon festgestellt. Es sei hier noch einmal zusammengefasst: Das besondere Kirchenrecht steht zum allgemeinen etwa im Verhältnis einer Vollziehungsverordnung zu einem Gesetz, wobei im Gesetz schon vorgeschrieben ist, dass es einer Vollziehungsverordnung bedarf und dass diese von bestimmten Organen zu erlassen ist. Im besonderen Kirchenrecht kommt das allgemeine in einer örtlichen Kirche zur Anwendung. Es ist prinzipiell Gemeinderecht. Durch den Zusammenschluss mehrerer Gemeinden und die gemeinsame Aufstellung von besonderem Kirchenrecht gibt es auch solches, das über die Gemeindegrenzen hinausgeht und z.B. alle Gemeinden eines ganzen Landes umfasst. Ja, es könnte auch besonderes Kirchenrecht geben, das für alle reformierten Kirchen auf der ganzen Erde gültig wäre, wenn sie es alle durch ein gemeinsames Konzil aufstellen würden. Jedoch könnte dies nur ganz spezielle Fragen betreffen, niemals das nationale und lokale Kirchenrecht überflüssig machen. Auch wenn durch ein allgemeines Konzil Kirchenrecht aufgestellt wird, so bleibt es besonderes Kirchenrecht im Gegensatz zum allgemeinen Kirchenrecht, dessen Geltung sich rein dogmatisch über alle Kirchen aller Zeiten erstreckt. Es muss zur Bezeichnung „besonderes Kirchenrecht” immer

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noch die weitere Erklärung kommen, für welchen Kreis dieses besondere Kirchenrecht gilt, z.B. zürcherisches oder schweizerisches besonderes reformiertes Kirchenrecht.

Die wissenschaftliche Behandlung des besonderen Kirchenrechtes kann also immer nur von einem örtlich bestimmten Kreis ausgehen. Sie muss aufbauen auf die Behandlung des Gemeindekirchenrechtes. Ihre Aufgabe ist nun eine doppelte: In erster Linie müssen die Quellen des besondern Kirchenrechts festgestellt werden. Hilfswissenschaft ist dabei die Kirchengeschichte. Bei Kirchen mit komplizierter historischer Entwicklung, mit grossen Schwankungen in ihrer Orientierung wird dies eine ziemlich schwierige Aufgabe sein. Es ist nicht gesagt, dass die Quellen schon selber einen systematischen Aufbau zeigen. Es ist möglich, dass aus zahlreichen Verordnungen, Gesetzen, Gemeindeordnungen, liturgischen Bestimmungen, einzelnen Synodalentscheiden usw. erst die geltenden Quellen herausgesucht werden müssen. Ohne eine genaue Kenntnis der betreffenden Kirchengeschichte wird man da schwerlich vordringen können. Ganz besonders wird hier auch das Gewohnheitsrecht eine grosse Rolle spielen.

Es genügt nun aber nicht, dass die Kirchenrechtswissenschaft eben die oben angedeuteten Quellen sammelt und ihren Inhalt nach irgend einem Gesichtspunkt ordnet. Sie muss nun das System des besonderen Kirchenrechts aufbauen, indem sie zeigt, wie durch dieses besondere Kirchenrecht die allgemeinen Normen zur Vollziehung kommen. Die Ordnungen können ja sehr verschieden sein. Sie können aus einer Zeit stammen, die nicht das

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allgemeine Kirchenrecht zur Vollziehung gebracht hat. Hand in Hand mit der Aufstellung des Systems des besonderen Kirchenrechtes geht darum die Interpretation der Quellen. Nach welchen Regeln soll die Auslegung stattfinden? Kommt es darauf an, was seinerzeit bei der Aufstellung gemeint war? Kommt es auf den Wortlaut an? Die Antwort auf die Frage nach der Interpretation finden wir, indem wir uns besinnen auf das Wesen des besonderen Kirchenrechtes. Es soll das allgemeine zur Vollziehung bringen. Es muss also darauf geachtet werden, wie in den bestehenden Ordnungen die allgemeinen Normen zur Durchführung kommen. Dabei sind folgende Fälle möglich:

1. Die Konstruktion des besonderen Kirchenrechtes deckt eindeutig die Prinzipien und Funktionen des allgemeinen Kirchenrechtes. Hier hat einfach eine Darstellung stattzufinden.

2. Die bestehende Ordnung deckt sich nicht eindeutig mit dem allgemeinen Kirchenrecht. Hier hat eine Interpretation Platz zu greifen, durch welche diejenigen Linien des besonderen Kirchenrechts, die das allgemeine Kirchenrecht decken, deutlich hervorgehoben werden im Gegensatz zu den andern. Wie bei einem Vexierbilde durch die Betrachtung von einem bestimmten Gesichtspunkte aus die Linien des ursprünglichen Bildes umgedeutet werden zu einem neuen Bilde, so muss die Konstruktion der bestehenden Kirchenordnung umgedeutet werden, so dass sie in einer Vollziehung der allgemeinen Normen besteht. Der Kirchenrechtswissenschaft kommt hier eine überaus verantwortungsvolle Aufgabe zu, indem allein schon durch die Interpretation der Wissenschaft die

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Kirche in eine bestimmte Bahn gelenkt werden kann. Das „Wort” ist Richter im Kirchenrecht. Indem nun in bezug auf ein ganz bestimmtes Verhältnis das kundgemacht wird, was das Wort sagt, wird ein Urteilsspruch, der kirchenrechtlich gültig ist, verkündigt.

3. Die bestehende Ordnung lässt sich in keiner Weise so umdeuten, dass die allgemeinen Normen zur Vollziehung kommen. Hier nun hat die Kirchenrechtswissenschaft diese Tatsache festzustellen. Das ist aber auch schon wieder eine Bekanntmachung, die selber kirchenrechtlichen Charakter trägt. Die Kirche wird dadurch in den Anklagezustand versetzt; es muss der Weg der Reformation beschritten werden.