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I. Kapitel.

Weltliches und geistliches Recht.

 

„Das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch. — Das Wesen der Kirche ist geistlich; das Wesen des Rechts ist weltlich. Die Kirche will durch das Walten des göttlichen Geistes geführt, regiert werden; das Recht vermag immer nur menschliche Herrschaft irdischer, fehlbarer der Zeitströmung unterworfenerNatur hervorzubringen.” Rudolf Sohm hat diese These an die Spitze seines Kirchenrechtes gestellt.

Wir können diesen Satz aber nur dann als richtig anerkennen, wenn wirklich das Wesen des Kirchenrechts weltlich ist. Wenn aber das Wesen des Kirchenrechtes selber geistlich ist, so kann es nicht im Widerspruch stehen zum geistlichen Wesen der Kirche. Es ist darum unsere erste Aufgabe, den Begriff des weltlichen und des geistlichen Rechtes festzustellen und das Wesen des reformierten Kirchenrechtes in Beziehung darauf zu untersuchen. Wir fragen zuerst nach allgemeinen formalen Kriterien des Rechts, um dann in der Folge das Wesen des geistlichen Rechtes, wie es uns in der reformierten Kirche entgegentritt, abzuheben vom weltlichen Recht. Auf die reformierte Kirche und das reformierte Kirchenrecht kann die These Sohms nicht angewendet werden; denn die Herrschaft und Gewalt des reformierten Kirchenrechtes ist geistlicher Natur.

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1. Die Kriterien des Rechts.

Alles Recht ist Norm. Norm ist Masstab, Richtmass, Regel für das Verhalten des Menschen. Wenn wir „Norm” sagen, so deuten wir damit nicht nur auf einen Inhalt der Regel hin, sondern die Betonung liegt vor allem darauf, dass sich der Mensch nach dieser Regel verhalten soll. Die Regel ist von einem Gebieter geboten. Statt Norm können wir auch sagen „Gebot”. Dieses fliesst aus der Normsetzung durch einen Souverän. Das Recht besitzt immer den Charakter der Selbstherrlichkeit. Als erstes Kriterium nennen wir deshalb die Souveränität. Wo diese fehlt, handelt es sich nicht mehr um Recht. Wir betrachten die Souveränität zunächst rein formal, ohne zu fragen, wer Souverän ist. Souveränität bezeichnet ein Herrschaftsverhältnis. Dieses Verhältnis ruht auf der höheren Gewalt des Souveräns. Souverän ist aber nur derjenige, der selber nicht einer höheren Gewalt untersteht. Souveränität ist immer höchste Gewalt, unabgeleitete Gewalt.1) Für abgeleitete Gewalt besteht immer irgendwie eine ausdrückliche oder stillschweigende Normsetzung des Souveräns, durch die die Gewalt übertragen und gleichzeitig abgegrenzt wird. Freilich ist es gebräuchlich, auch in Fällen von abgeleiteter Gewalt von Souveränität zu reden, doch immer mit einem ausdrücklichen oder stillschweigenden Vorbehalt.

Die Gewalt aber genügt allein nicht, um Souveränität zu begründen. Es ist notwendig, dass der


1) Ueber den Begriff der Souveränität und ihre Unableitbarkeit vergl. Fleiner: Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1923, S. 52 und die dort angegebene Literatur. Ferner Kuyper: Antirevolutionaire Staatkunde. Bd. I, S. 261 ff.

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Souverän normsetzend auftritt, d.h. dass er gegenüber einem Subjekt (mit freiem Willen den Anspruch erhebt, als Souverän zu gelten, dass den von ihm erlassenen Geboten gehorcht werde. Von Souveränität reden wir z.B. nicht gegenüber leblosen Körpern. Dieses Herrschaftsverhältnis drückt sich nicht normsetzend aus. Was geschieht nun aber, wenn die vom Souverän gesetzten Normen übertreten werden? Die Normübertretung ist immer zugleich eine Auflehnung gegen den Souverän, eine Nichtanerkennung der Souveränität. Notwendigerweise gehört nun zur Souveränität die vergeltende Gerechtigkeit, d.h. die der verletzten Norm entsprechende Vergeltung. Alles Recht ist Norm. Nur dann aber reden wir von Recht, wenn auf der Uebertretung des Rechtes eine „ge”-rechte Vergeltung ruht. Entweder muss Geltung der Norm eintreten oder Vergeltung. Diese normentsprechende Vergeltung bezeichnen wir als die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit in diesem Sinne ist auf das engste mit Souveränität verbunden. Gerechtigkeit bedeutet die wirkliche Durchsetzung der Souveränität, die Garantierung der Souveränität.

Wir fassen also die Gerechtigkeit hier nicht im aristotelischen und scholastischen Tugendsinne auf, sondern rein formal. Nur derjenige Souverän ist gerecht, der seinen Normen, seinem Rechte entsprechend seine Gewalt geltend macht. Der Souverän aber, der nicht gerecht ist, der die Uebertretung seiner Normen nicht vergilt, der hat damit schon seine Souveränität preisgegeben; denn ohne Vergeltung besitzen seine Normen auch keine Geltung. Wir verbinden damit zunächst noch gar keine

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ethische Wertung. Es ist auch denkbar, dass ein Souverän Gewalt anwendet, die nicht dazu dient, seinen Normen Nachachtung zu verschaffen. Insofern aber handelt es sich nicht mehr um Recht (Normen), auch nicht mehr um Souveränität, sondern lediglich um Gebrauch, um reine Gewalt, Willkür. Rein formal liegt aber auch darauf nicht eine Betonung des Unsittlichen. In dieser formalen Weise stellen wir Gerechtigkeit der Willkür gegenüber.

Souveränität und Gerechtigkeit bezeichnen wir als die Kriterien des Rechts. Sie bezeichnen ein Verhältnis und ein Verhalten. Souveränität das Verhältnis der statischen Kräfteverteilung der Gewalten. Gerechtigkeit das Verhalten der dynamischen Gewaltbetätigung zur gesetzten Norm. Beide aber sind rein formal; es ist damit noch gar nichts gesagt über die Person des Souveräns sowie über den materiellen Inhalt der Normen. Die Kriterien des Rechts sind aber mit dieser formalen Feststellung erschöpft. Es gibt kein anderes Kriterium für das Recht als Souveränität und Gerechtigkeit. Wenn diese fehlen, so handelt es sich nicht um Recht. Das Kriterium der Souveränität schliesst jedes weitere Kriterium aus.1a)

Souveränität und Gerechtigkeit in diesem formalen Sinne sind immer Gegebenheiten, die nicht weiterher abgeleitet werden können, die schlechthin vorausgesetzt werden müssen. Auf dem Wege einer „Kritik des Rechts” liesse sich zeigen, dass sie nicht deduziert werden können. Damit wäre


1a) Die Einführung eines dritten Kriteriums (z.B. Emil Brunner im Kirchenblatt für die reformierte Schweiz, 1926, Seite 33) macht das Kriterium der Souveränität illusorisch, hebt es auf oder reduziert es zu einem blossen à priori der Vernunft, zu einer blossen Denkform.

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aber nur ein rein Negatives gewonnen. Souveränität und Gerechtigkeit bleiben immer Behauptungen. Es liegt nicht im Rahmen unserer Arbeit, diese rechtsphilosophische Aufgabe zu lösen. Wir müssen uns mit der Behauptung begnügen. Sie genügt auch, da wir auf erkenntniskritischem Wege doch nur auf die reine Behauptung zurückgeworfen würden.

Wir bezeichnen Recht als durch einen Souverän sanktionierte Normen (Gebote) für menschliches Verhalten.

2. Weltliches Recht.2)

Weltliches Recht muss von einem weltlichen Souverän ausgehen. Von einem solchen können wir aussagen, dass er nie absolute Souveränität besitzt, sondern dass sie immer beschränkt ist durch die Begrenztheit seiner Gewalt. Der weltliche Souverän muss sich mit zahlreichen Souveränen, die neben ihm stehen, abfinden. Nur in einem umgrenzten Gebiet ist er Souverän und in diesem Gebiet selber wiederum besteht fortwährend die Möglichkeit, dass ihm seine Gewalt genommen werde, dass sich ein anderer an seine Stelle setze. Er ist an zahlreiche Rücksichten gebunden. Das heisst aber nicht, dass er deswegen nicht die höchste Gewalt innehabe, sondern nur, dass die höchste weltliche Gewalt nicht absolut ist. Dementsprechend ist auch die weltliche Gerechtigkeit nicht absolut, sondern stets begrenzt. Ein weltlicher Souverän ist schon wegen der Unzulänglichkeit seiner Gewalt immerfort gezwungen, manche


2) Vergl. zu diesem Abschnitt Calvin Institutio 4, 4, 20. Kuyper: Antirevolutionaire Staatkunde, Bd. I, speziell S. 290 ff. und Gemeene gratie, Bd. III.

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Uebertretungen seiner Normen unvergolten zu lassen, die Gerechtigkeit nicht zu üben. Es ist auch damit noch kein ethisches Urteil über diese Ungerechtigkeit gefällt, sondern lediglich eine formale Feststellung gemacht.

Von diesen formalen Rechtskriterien aus besitzen wir nun aber gar keine Brücke, über die wir auf logischem Wege zum materiellen Inhalt der Rechtsnormen vordringen könnten. Von dieser obersten Behauptung alles Rechts lassen sich die Rechtssätze selber nicht in logischer Weise ableiten. Kann deshalb der Souverän Normen erlassen mit einem beliebigen Inhalt? Formal kann er es, ohne den Rechtskriterien irgend welchen Abbruch zu tun. Es kommt nicht auf den Inhalt der Norm an, damit sie Recht sei oder nicht, sondern nur auf die formalen Kriterien. Nur in dem Fälle wäre der Souverän an einen bestimmten Inhalt gebunden, wenn dieser ihm von einem noch über ihm stehenden Souverän geboten wäre. Das müsste durch ein Naturrecht geschehen, an das der Souverän selber gebunden wäre. Souveränität im weltlichen Recht ist höchste, unabgeleitete weltliche Gewalt. Ein Naturrecht müsste von einem überweltlichen Souverän ausgehen.

Wenn Calvin sein berühmtes Schreiben an König Franz, das er allen Auflagen seiner Institutio vorangestellt hat, mit dem Wunsche schliesst, Gott möge seinen Thron festigen mit Gerechtigkeit und seinen Stuhl mit Billigkeit,3) so ist das nicht nur eine schöne Redensart, um zweimal dasselbe zu sagen, sondern er hat etwas ganz Bestimmtes im


3) „Dominus rex regnum, thronum tuum iustitia stabiliat, et solium tuum aequitate, illustrissime Rex.”

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Auge unter Gerechtigkeit und Billigkeit. Das erhellt aus dem Schlusskapitel der Institutio (das in dieser Beziehung schon mit der ersten Auflage übereinstimmt), wo er diese Begriffe auf das Staatswesen anwendet. Gerechtigkeit bezieht sich auf die Gewaltbetätigung des Souveräns. Billigkeit aber bezieht sich ausdrücklich auf den Inhalt der Gesetze.4)

Was versteht Calvin unter Billigkeit? „Die Billigkeit, auf deren ratio die Normsetzung selber gegründet ist, bleibt immer dieselbe bei allen Völkern, weil sie in der Natur gegeben ist. Alle Gesetze der Welt, was sie auch betreffen mögen, müssen auf dieselbe Billigkeit zurückgehen. Das Gesetz Gottes nun, das wir Sittengesetz nannten, ist nichts anderes, als was das natürliche Gesetz und das Gewissen bezeugen. Es ist dem Geiste aller Menschen von Gott eingegraben. Es steht fest, dass die Billigkeit, von der wir reden, eben darin vorgeschrieben ist. Diese Billigkeit allein soll aller Gesetze Ziel, Richtschnur und Grenze sein.”

Es kommt hier eben jene Möglichkeit zum Ausdruck, die wir oben angedeutet haben, nämlich dass ein überweltlicher Souverän Normen aufgestellt hat, an die der weltliche Souverän gebunden ist. Diese Normen aber sind nichts anderes als die sittlichen Normen.


4) Inst. 4, 20, 9 und 16. Korrelatbegriff zu iustitia ist immer Judicium bei Calvin. Wo iustitia zusammenfassend gebraucht ist, ist immer Judicium inbegriffen. Iudicium ist der Ausdruck für das, was wir hier als vergeltende Gerechtigkeit bezeichnen. Iustitia besitzt ausser der Bedeutung von iudicium bei Calvin noch einen weiteren Sinn, nämlich den der Gnade. Warum dieser Sinn notwendig dazukommt in der reformierten Auffassung, wird sich noch zeigen.

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Wir halten es für notwendig, dass das weltliche Recht inhaltlich gebunden sei an die sittlichen Gesetze. Freilich können wir das nicht logisch ableiten; es handelt sich um eine Existenzialaussage. Wir werden in der folgenden Darstellung nicht einen rechtsphilosophisch-kritischen Weg einschlagen, sondern uns mit der Darlegung der reformierten Rechtsauffassung begnügen. Das ist auch völlig gerechtfertigt durch unsere Aufgabe, die eben in der Selbstunterscheidung des geistlichen Rechts vom weltlichen Recht liegt.

Die Bezogenheit des weltlichen Rechts auf die Sittlichkeit nennen wir die Billigkeit. Die Billigkeit ist aber nicht ein formales Kriterium des Rechts wie Souveränität und Gerechtigkeit. Der Souverän ist sittlich verpflichtet, Recht sittlichen Inhalts zu erlassen. Der Begriff der Souveränität schliesst jedes andere Kriterium für das Recht aus. Er bezeugt eben die Unableitbarkeit des Rechts. Die reformierte Lehre über das weltliche Recht lässt sich auf die folgenden Grundlinien zurückführen:

Die Sittlichkeit selber trägt Rechtscharakter. Gott ist der Legislator des Moralgesetzes. Alle Normen der Sittlichkeit sind von Gott gesetzt und sanktioniert. Das weltliche Recht nun ist nichts anderes als selbst in seiner Unmittelbarkeit eine Sanktion des Moralgesetzes. Die ganze Institution des weltlichen Rechts ist unmittelbar von Gott. Gott sanktioniert durch die Einsetzung des weltlichen Rechts das Moralgesetz; er straft die Uebertretung seines Gesetzes durch die Einsetzung der Gewalt. Die Gewalt, die Tatsache, dass der Stärkere über den Schwachen herrscht, dass alles

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Leben nun auf Kampf aufgebaut ist, dass die Gewalt zur Natur gehört, diese Tatsache ist nichts anderes als das Leiden der gesamten Schöpfung. Das Leiden ist eine Folge der Sünde. Das weltliche Recht selber ist immer Leiden, es ist als solches eine Folge der Sünde.

Die volle Sanktion des Moralgesetzes durch Gott besteht aber in Verdammnis und ewigem Tod. Das Recht ist das nicht. Es ist keine restlose Sanktion. Weltliche Souveränität und Gerechtigkeit sind begrenzt. Zum Wesen des weltlichen Rechts gehört nach reformierter Lehre noch etwas anderes: es ist nicht nur Gericht Gottes, sondern es ist auch Gnade Gottes. Das Recht ist eben nicht ewige Verdammnis und ewiger Tod, sondern nur zeitliche Verdammnis und zeitlicher Tod. Gerade darin aber liegt die Gnade Gottes. Im weltlichen Recht kommt zum Ausdruck, dass die Schöpfung nicht der Vernichtung anheim fällt, sondern dass sie erhalten wird. Das weltliche Recht und mit ihm der weltliche Staat dienen der Welterhaltung.

Diese allgemeine Gnade ist die Voraussetzung des weltlichen Rechts. Es kommt in der Gewalt immer das Doppelte zum Ausdruck: Weltvernichtung und Welterhaltung, Gericht und Gnade. Durch weltliche Gewalt werden die Menschen zusammengehalten. Die Gewalt des Stärksten schützt die Schwachen vor der Gewalt des Starken. Dieses erhaltende Prinzip ist die sittliche Aufgabe des Souveräns. Er erfüllt sie, indem er durch seine Gewalt die Menschen zwingt, innerhalb der ihnen durch das Naturrecht (durch das Moralgesetz) vorgeschriebenen Grenzen zu bleiben. Der Souverän ist deshalb sittlich verpflichtet, die Normen des

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Sittengesetzes zu weltlichen Rechtsnormen zu erheben, das heisst, sie zu sanktionieren durch weltliche Gewalt. Doch ist das allein eine sittliche Pflicht, nicht eine im weltlichen Recht selbst verwurzelte. Der Souverän ist vor Gott verantwortlich, sittliches Recht zu erlassen. Aber trotz dieser welterhaltenden Aufgabe bleibt das weltliche Recht auch Gericht und Strafe Gottes. Nicht nur ganz allgemein tritt das durch den Gewaltcharakter des weltlichen Rechts in Erscheinung, der im mer ein Leiden in sich schliesst, sondern auch im einzelnen, indem durch das weltliche Recht wenigstens ein Teil der Sittengebote sanktioniert sind und ihrem Uebertreter eine Strafe zukommt.

Nur von dem Gesichtspunkte aus, dass das Recht und die Gewalt als solche von Gott stammen, dass durch alle Gewalt Gottes Gericht und Gottes Gnade in ganz allgemeiner Weise der Menschheit proklamiert werden, dass alle Gewalt in erster Linie ein Tun Gottes ist, nur von diesem Gesichtspunkte aus können wir in die reformierte Rechtsauffassung eindringen. Alle Rechtsetzung ist ein göttliches Amt. Alle Machthaber amten als Vertreter Gottes. Es gibt kein allgemeines formales Kriterium, nach dem wir bestimmen könnten, wer die Pflicht hat, Souverän zu sein. Allein Gottes Wille und Fügung ist der Masstab. Es ist demgegenüber auch sittliche Pflicht aller Untertanen, den Gewalthabern Gehorsam zu leisten. Es ist das nicht nur in dem Zwangsverhältnis begründet, „um der Strafe willen”, sondern sie sollen den Gehorsam um des Gewissens willen leisten.5) Die


5) Vergl. Rom. 13, 1-5 und die dazugehörenden Kommentare Calvins.

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Obrigkeit darf nicht nur geachtet werden als ein notwendiges Uebel, sondern „die Untertanen sollen der Obrigkeit dienen, wie wenn sie Gott selber dienen würden”.6) „Das Wort Gottes aber lässt nicht nur den guten Obrigkeiten Untertan sein, sondern auch den schlechten Gehorsam leisten, selbst wenn sie nichts tun, was ihres Standes wäre. Auch sie haben ihre Gewalt nur von Gott. Gute Obrigkeiten spiegeln die Güte Gottes wieder, schlechte sind von ihm eingesetzt zur Bestrafung des Volkes. Auch im unwürdigen und verkehrten Herrscher wohnt trotzdem dieselbe Würde und Macht, die Gott in seinem Worte den Verwaltern seiner Gerechtigkeit gegeben hat.”7) „Die Obrigkeit hat auch Pflichten gegenüber den Untertanen. Aber daraus ergibt sich nicht, dass wir nur der guten Obrigkeit zu gehorchen haben. Auch in der Familie hängt der Gehorsam gegen die väterliche Gewalt nicht vom Verhalten des Mannes ab. Es ist ein allgemeines Prinzip, dass keiner darauf zu achten hat, wie der Andere seine Pflicht erfüllt, sondern sich vor Augen halten muss, was er selbst zu tun hat. Diese Betrachtung ist prinzipiell überall am Platze, wo es sich um ein Unterordnungsverhältnis handelt.”8)

Das Recht als solches ist so auch ein Bestandteil des Sittengesetzes. Dem Souverän gehorsam sein ist an und für sich sittlich. Aber das Recht steht auch immer dem Sittengesetz gegenüber; es ist nicht einfach ein Teil der Sittlichkeit, sondern eine selbständige Grösse. Die Gewalt kann durch keine logische Ableitung aus dem


6) Inst. 4, 20, 22.
7) Inst. 4, 20, 25.
8) Inst. 4, 20, 29.

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Sittengesetz sittlich erklärt werden.9) Trotzdem aber ist das Recht sittliches Gebot. Das weltliche Recht steht in einem andern Verhältnis zur Natur als die Sittlichkeit. Die reformierte Lehre kennt ein Naturrecht.10) Die reformierte Naturrechtslehre ist aber noch so wenig durchbehandelt, dass wir ihren Begriff hier nicht näher erörtern können. Nur auf zwei wesentliche Unterscheidungen möchten wir hinweisen. Naturrecht im engeren Sinne ist nichts anderes als das Moralgesetz. Der Schwerpunkt liegt durchaus darauf, dass es sich um Normen Gottes handelt. „Natur” will nicht besagen, dass die Normen aus der Natur abgeleitet werden. Es ist nicht so, dass das Moralgesetz aus einer Gesetzmässigkeit in der Natur sich ergäbe (z.B. bei Grotius, aus dem appetitus societatis etc.). Aber ebensosehr, wie wir in der gesamten Natur auf eine Ordnung stossen, ebensosehr gibt es eine Ordnung für das natürliche, organische Leben des


9) Am schärfsten kommt das dadurch zum Ausdruck, dass der Souverän seine Normen sanktioniert, indem er den Uebertretern etwas zufügt, was er selbst verboten hat. In diesem Gegensatz liegt die Wurzel für die Idee der Talion. Die Gewalt kann weder aus dem Sittengesetz abgeleitet werden, noch das Sittengesetz aus der Gewalt.
10) Aug. Lang (Die Reformation und das Naturrecht, 1909) verkennt doch die Tatsache, dass der Calvinismus ein eigenes Naturrecht herausgebildet hat und ohne dieses nur ein Rumpf bleibt. Jedoch ist das calvinistische Naturrecht bisher nicht deutlich geschieden worden von den mittelalterlichen aquinistischen Naturrechtslehren einerseits und von den Aufklärungslehren anderseits. In diese beiden kann freilich das calvinistische Naturrecht nicht gut untergebracht werden, deshalb wird es wie ein Ball zwischen Mittelalter und Neuzeit hin und her geworfen. Sein Platz ist aber in der calvinistischen Dogmatik selbst. Es ist weder eine vom aquinistischen Naturrecht übernommene Tradition noch ein Anfang des Aufklärungsnaturrechts. Vergl. dazu auch Troeltsch: Christliches Naturrecht, in RGG. Ders.: Die Soziallehren der christlichen Kirchen, 1912. Gierke: Genossenschaftsrecht, Bd. III.

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Menschen und der Menschheit, die den Inhalt des Moralgesetzes ausmacht. Das weltliche Recht ist aber nicht ein Teil dieses Moralgesetzes, des Naturrechts im engeren Sinne, sondern es besitzt sekundären Charakter. Im weiteren Sinne wird dann unter Naturrecht auch die Tatsache einbezogen, dass es weltliches Recht gibt, das, was wir als den Sinn des weltlichen Rechts bezeichnen. Aber auch in der reformierten Naturrechtslehre wird immer wieder betont, dass das Wesen des Rechts eben in der Gewalt besteht, dass es nicht ein Teil des Moralgesetzes ist, sondern immer Ataxia.11) Naturrecht im reformierten Sinne gehört also ganz in die Kategorie der Sittlichkeit, nicht des weltlichen Rechts. Es gibt keinen logischen Uebergang, keine Brücke, über die das Sittliche auch das Weltlich-rechtliche werden kann.

Die Sittlichkeit ist das „Recht Gottes”. Aber die Sittlichkeit ist noch nicht das, was wir als das „Geistliche Kirchenrecht” bezeichnen werden; denn das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen hat eine Aenderung erfahren. Es besteht nicht mehr nur in vergeltender Gerechtigkeit, sondern es ist Gnade dazwischengetreten. Das bezeugt uns das weltliche Recht. Aber indem das weltliche Recht selbst weder Gericht noch Gnade voll zur Auswirkung bringt, weist es über sich hinaus auf eine vollkommene Erfüllung der Gerechtigkeit und Gnade Gottes.

3. Geistliches Recht.12)

Alles soll einem höchsten Ziele dienen: der Ehre Gottes. Von diesem Grundsatz ist das


11) Vergl. Althusius: Politica, 1614: Cap. 1, 10.
12) Vergl. zu diesem Abschnitt Sohm: Kirchenrecht, Bd. II, 1923, S. 58. In der Folge behandelt aber Sohm nur das kanonische Recht ➝

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reformierte Denken beherrscht. Es liegt darin die restlose Anerkennung der Souveränität Gottes. Ehre Gottes und Souveränität Gottes sind zwei Begriffe, die miteinander Hand in Hand gehen. Der Mensch dient der Ehre Gottes, indem er Gottes Souveränität anerkennt. So ist die Idee des geistlichen Rechtes in dem Grunde, auf dem das ganze reformierte Denken aufgebaut ist, verwurzelt. Gott wird als Souverän anerkannt, indem sein Gesetz, das von ihm erlassene Recht, erfüllt wird. Wenn von der Souveränität Gottes die Rede ist, so handelt es sich nicht um eine anthropomorphe Uebertragung juristischer Begriffe auf Gott als das höchste Wesen. Es wird vielmehr darin das ausgedrückt, was Gott von allem Menschlichen unterscheidet!, eben seine absolute Souveränität. Die gänzliche Andersartigkeit Gottes, die jenseits von allem Menschlichen liegt, wird in dieses Wort gefasst. Wirkliche Souveränität im absoluten Sinne tritt uns überhaupt menschlich nicht entgegen. Alle menschliche Souveränität ist nur ein Abbild der göttlichen Souveränität. Es Hesse sich eher sagen, dass in die juristische Sprache ein Begriff aufgenommen wurde, der ursprünglich sich auf Gott bezieht. Souveränität ist vielmehr ein „theomorpher” Begriff.

So übertragen wir nicht juristische Kriterien auf Gott, wenn wir dieselben Rechtskriterien, Souveränität und Gerechtigkeit auf das geistliche


➝ als geistliches Recht. Wir werden das Verhältnis zum kanonischen Recht gar nicht behandeln in diesem Rahmen. Das reformierte Kirchenrecht ist nicht dem kanonischen Rechte nachgebildet. Dass das kanonische Recht stets als Prototyp für alles geistliche Recht betrachtet wurde, hat mit dazu beigetragen, den Weg zum Verständnis des reformierten Kirchenrechts zu versperren.

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Recht anwenden. Es ist vielmehr umgekehrt, dass hier im göttlichen Rechte der Ursprung liegt für das Kriterium des Rechtes überhaupt. Hier allein ist durch diese formalen Kriterien dem Rechte voll Genüge geleistet, während im weltlichen Rechte die Kluft bestehen bleibt zwischen den formalen Rechtskriterien und dem Inhalt der Rechtsnormen, weil die weltliche Souveränität nie absolut ist. Für Gott als den absoluten Souverän besteht überhaupt keine Gebundenheit an Normen, die ihm von einem Höheren vorgeschrieben wären. Sein Wille und Ratschluss ist zugleich der Masstab für den Inhalt seiner Normen. Der Sinn des geistlichen Rechtes liegt in ihm selbst.

Die Kriterien des geistlichen Rechtes sind die Souveränität und Gerechtigkeit Gottes. Gott sanktioniert seine Normen; er sanktioniert damit seine Souveränität selbst. Ohne Sanktionierung besteht keine Souveränität. Wir können geistliches Recht bezeichnen als Normen oder Gebote für menschliches Verhalten, die durch Gott sanktioniert sind. Welches sind nun diese Normen? In den Normen der Sittlichkeit tritt uns das geistliche Recht entgegen. Gott ist der Gesetzgeber des Moralgesetzes. Der Mensch steht in einem Rechtsverhältnis gegenüber Gott.

Im Moralgesetz aber ist kein Kirchenrecht begründet. Das reformierte Kirchenrecht ist nicht ein Teil der allgemeinen Sittlichkeit. Wenn es ein geistliches Kirchenrecht gibt, so muss dieses in der Setzung von besonderen, neuen Normen durch Gott ausserhalb des Moralgesetzes ruhen. Im Unterschied zum allgemeinen Moralgesetz bezeichnen

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wir diese Normen als „sekundäres geistliches Recht”. Dadurch soll aber nicht ausgedrückt sein, dass es sich um Normen von sekundärer Wichtigkeit handelt, oder um Normen, die subsidiär im Moralgesetz enthalten wären. Nein, die Rechtsordnung des Moralgesetzes ist in sich vollständig geschlossen. Sie schliesst in sich alle Normen des „primären” geistlichen Rechtes. Durch die restlose Erfüllung des ganzen Gesetzes ist die Gerechtigkeit Gottes erfüllt, es muss nichts hinzukommen. Durch die Uebertretung auch nur einer einzigen Norm des göttlichen Rechtes ist aber die Souveränität Gottes angetastet und angegriffen. Die Rechtsordnung ist durchbrochen und der Uebertreter verfällt der vergeltenden Gerechtigkeit Gottes; denn entsprechend der absoluten Souveränität Gottes muss seine Gerechtigkeit restlos erfüllt sein. Im Gegensatz dazu ist die weltliche Rechtsordnung nicht geschlossen, sie weist Lücken und Fehler auf. Die weltliche Rechtsordnung ist wandelbar. Die göttliche Rechtsordnung aber ist unwandelbar, sie erfährt keine Verbesserungen. Das sekundäre geistliche Recht ist nicht eine Korrektur des primären. Wohl setzt Gott seine Gesetze nach seinem freien Ratschlüsse fest, aber jede Norm Gottes muss restlose Erfüllung finden. Ist sie unerfüllt, so muss erst die Gerechtigkeit Gottes erfüllt werden. So besteht das sekundäre geistliche Recht nicht ohne restlose Erfüllung des Moralgesetzes und der Gerechtigkeit Gottes.

Ein Mensch kann nicht zwei Rechtsordnungen zugleich unterstellt sein. Entweder steht er unter der einen Rechtsordnung oder unter der andern. Das sekundäre geistliche Recht ist eine zweite

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geschlossene Rechtsordnung. Entweder steht der Mensch unter dem primären geistlichen Recht, d.h. unter dem Moralgesetz, oder er steht unter dem sekundären geistlichen Recht. Das Moralgesetz kann das sekundäre geistliche Recht nicht in sich einschliessen; dieses ist nicht subsidiäres Recht. Wenn sekundäres geistliches Recht besteht, so steht es in einer bestimmten Position zum primären Rechte, nicht zu einzelnen Geboten des Moralgesetzes, wohl aber zu der gesamten primären Rechtsordnung.

Sekundäres geistliches Recht muss auf Offenbarung beruhen. Es muss von Gott innerhalb dieser Welt offenbart worden sein. Die Offenbarung muss eine geschichtliche Tatsache sein innerhalb der Zeitlichkeit. Das sekundäre geistliche Recht darf in keiner Weise aus dem bestehenden Moralgesetz abgeleitet werden, sondern muss als völlig neue Norm erst nachträglich für den Menschen auftreten und als direkt von Gott selber erlassen. Wenn wir „nachträglich” sagen, so heisst das nur, dass es innerhalb der Zeit als nachherig auftreten muss, obschon es genau gleich wie das Moralgesetz im ewigen Ratschlüsse Gottes beschlossen liegt, für den es keinen Anfang und kein Nachher gibt, sondern der immer „vor Grundlegung der Welt” besteht.

Aller Sinn geistlichen Rechtes liegt in Gott selber. Auch das sekundäre geistliche Recht muss seinen Sinn allein im Willen Gottes besitzen. Dieser Sinn muss sich deshalb allen rationalen Ableitungen entziehen und muss allen menschlichen Verstandesmöglichkeiten überlegen sein.

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Sekundäres geistliches Recht, das diesen begrifflichen Ueberlegungen entspricht, finden wir in der reformierten Kirche. Wir werden das an Hand der reformierten Lehre im nächsten Kapitel zu zeigen versuchen. Der Schnittpunkt des primären und des sekundären geistlichen Rechtes findet sich in der Rechtfertigung durch Christus. Auf die Rechtfertigung ist das sekundäre geistliche Recht gegründet.