Grewe, W.

Staatsallmacht und Selbstverwaltung als christliches Problem

1948

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Staatsallmacht und Selbstverwaltung als christliches Problem

von

Prof. Dr. Wilhelm Grewe

 

I

Das Thema „Staatsallmacht und Selbstverwaltung als christliches Problem” könnte zu Mißverständnissen Anlaß geben.

Was zunächst einer kritischen Prüfung bedarf, ist die Frage, ob und in welchem Sinne denn das Problem „Staatsallmacht und Selbstverwaltung” überhaupt als ein „christliches Problem” angesprochen werden darf.

Wollten wir uns hier nur mit dem Phänomen des allmächtigen, des verabsolutierten, des totalen Staates auseinandersetzen, so bestünde freilich nicht der leiseste Zweifel, daß wir es dabei mit einem christlichen Problem im unmittelbarsten Sinne des Wortes zu tun hätten, nämlich mit einem Problem, das den Christen als solchen im Zentrum seines religiösen Gewissen berührt und zu dem seine Stellung durch die Gebote der Heiligen Schrift in konkreter Weise bestimmt ist. Es braucht nur an den fünften punkt der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen (1934) erinnert zu werden, in dem es hieß:

„Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen

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Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über einen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden1).”

Der konkrete Zusammenhang, aus dem diese Erklärung erwachsen ist, ist uns allen noch gegenwärtig; es ist der gleiche Zusammenhang, zu dem auch die am Passionssonntag 1937 verkündete Enzyklika „Mit brennender Sorge” Papst Pius XI. Stellung nahm, mit den Worten:

„Wer die Rasse oder das Volk oder den Staat oder die Staatsform, die Träger der Staatsgewalt oder andere Grundwerte menschlicher Gemeinschaftsgestaltung ... zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und fälscht die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge2).”

Es war ein Doppeltes in der weltanschaulichen Begründung und in der Staatspraxis des vergangenen totalitären Systems, gegen das sich der Protest der christlichen Kirchen richtete und richten mußte: Einmal die aus dem Mythos des Blutes und der Rasse folgende Biologisierung des Denkens mit ihrer Herabsetzung und Auslöschung alles dessen, was in der Würde und Verantwortung der Person wurzelt, mit ihrer Auflösung der christlichen Überzeugung vom ewigen Wert der Person und der Frömmigkeit individueller Gottesbeziehung, mit ihrer Verdrängung dieser Frömmigkeit durch eine Religiosität, deren Sinn ausschließlich in den Zusammenhängen von Sippe und Volk lag und die den Menschen — da es keinen im Gewissen verwurzelten Widerstand mehr gab — wehrlos dem Zugriff der Macht verfügbar machte und den Herren


1) „Das christliche Deutschland 1933 bis 1935”. Evangelische Reihe, Heft 1 (Zeugnisse der Bekennenden Kirche, herausgegeben von Professor Erik Wolf, Furche-Verlag, Tübingen 1946, S. 36).
2) Acta Apostolicae Sedis, 1937, S. 149 und 171.

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der Staatsmaschine auslieferte. Zum anderen war es die Verkörperung dieses Mythos in der Figur des „Führers” als eines neuen irdischen Heilbringers, gegen die sich der christliche Protest richtete. Romano Guardini hat den innerren Zusammenhang und den tieferen Hintergrund dieser beiden Seiten der neuheidnischen Staatslegitimierung dargelegt: Das durch Christus überwundene und zugleich erfüllte uralte mythische Grundmotiv des Heilbringers war hier ins Heidnisch-Unerlöste zurückgefallen und hatte sich zur Geltung gebracht3).

Es kann nicht meine Aufgabe sein, diesem von Guardini religionsgeschichtlich und theologisch ausgesponnene Gedankengang nachzugehen. Dagegen scheint es mit im Zusammenhang unseres Themas von Wichtigkeit, darauf hinzuweisen, daß jene weltanschauliche und pseudoreligiöse Ideologie in einer tieferen Entsprechung zu der geistigen und soziologischen Wirklichkeit unserer modernen Massenwelt steht und daher nicht mit dem Untergang eines bestimmten politisch-totalitären Systems als Problem aufgehoben ist. Der Mythos von Blut und Rasse und der Herrscherkult des „Führers” als eines innerweltlichen Heilbringers ist nur eine bestimmte Ausdrucksform einer geistigen und seelischen Gesamtdisposition, die den Menschen der säkularen Massenwelt des zwanzigsten Jahrhunderts zu eigen ist. Die Auslöschung der personalen Würde und Verantwortung des Menschen im Zeichen eines neuen Leviathan, die Verdrängung Christi durch die Figur eines anderen irdischen Heilbringers im Zeichen einer neuen, vielleicht technizistischen Pseudoreligiosität ist nicht nur ein Problem von gestern, sondern ebenso ein Problem von heute und morgen.

Wenn solches in der heutigen Situation von Deutschen gesagt wird, liegt stets der Verdacht nahe, es solle mit solchen Verallgemeinerungen der außerordentliche Charakter des in Deutschland Geschehenen vernebelt werden. Ich möchte diesen Verdacht vermeiden, kann aber nicht darauf verzichten, das deutsche Schicksal im Rahmen jener weiteren Weltentwicklung zu sehen, in dem es sich entfaltet hat. Ich beschränke mich daher darauf, ein Buch zu


3) Romano Guardini, Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik. Eine theologisch-politische Besinnung. Stuttgart 1946. Seite 37 ff., 42 f.

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zitieren, das in diesem Sommer in England erschienen ist, ein Buch des bekannten Londoner jüdischen Verlegers Victor Gollancz mit dem Titel „Our threatened Values” — „Unsere bedrohten Werte”. Es sind die typischen Werte der westlichen Welt, Europas, des Abendlandes, die Gollancz gefährdet sieht, und innerhalb dieser typischen Werte vor allem der zentrale Wert „respect for personality”:

„Die Achtung gegenüber der menschlichen Person, unser Wert aller Werte, ist heute überall gefährdet. Im Denken, im Redne, im Handeln wird sie stündlich geschändet. Diese Tatsache und nicht die Atombombe ist die größte Bedrohung unserer Kultur.”

Im Faschismus und seinen verschiedenen Spielarten, besonders seinen deutschen, hat die Mißachtung der menschlichen Person ihren letzten und stärksten Ausdruck gefunden. Und heute?

„Hitler ist tot und Deutschland liegt in Trümmern. Aber ist der Schrecken vorüber? Ich glaube nicht. Der Nationalsozialismus war kein isoliertes Phänomen; er war nur der letzte Ausdruck von Entwicklungstendenzen, die seit langer Zeit immer stärker angewachsen waren. Diese Entwicklungstendenzen sind noch am Werke; einige von ihnen sind weiter verbreitet denn je, und selbst hier in England gibt es beunruhigende Zeichen dafür, daß die Achtung vor der menschlichen Person, die wir bewahrt haben und die wir trotz allem immer noch bewahren, schwächer wird”.4)

Die Beispiele, mit denen Gollancz seine These belegt, sind unserer nächsten Gegenwart entnommen; sie sind erschütternd. Ich bin der Meinung, daß wir diese Beispiele heute nicht zitieren sollten. In einem Zusammenhang aber, in dem es nicht um unsere Not und um unsere Beschwerden geht, sondern um die wissenschaftliche Erkenntnis und Beschreibung einer Weltsituation, wird es auch uns erlaubt sein, eine solche Bestandsaufnahme der abendländischen Werte, wie sie Gollancz vornimmt, heranzuziehen und zur Orientierung zu verwerten.

Ich darf noch einmal zum Ausgangspunkt zurückkehren: Das Problem der Staatsallmacht als solches, so sagten wir, ist ganz unzweifelhaft ein christliches Problem. Und wir dürfen jetzt noch hinzufügen: Es ist nicht nur ein


4) Victor Gollancz, Our threatened Values. London 1946. p. 16.

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christliches Problem der weiteren oder näheren Vergangenheit, sondern ebenso ein solches der Gegenwart und der unmittelbaren Zukunft.

Indessen ist es nicht das Problem der Staatsallmacht als solches, über das ich zu Ihnen sprechen soll. „Staatsallmacht als christliches Problem” ist eine Fragestellung, für die nicht so sehr der Jurist und Staatsrechtler als vielmehr der Theologe zuständig ist. Sie erwarten von mir nicht eine theologische Formulierung des christlichen Protestes gegen die Machtüberschreitungen des omnipotenten Staates, sondern Sie erwarten von mir die Entgegensetzung und staatsrechtliche Formulierung eines konkreten politischen Formgedankens: Überwindung der Staatsallmacht durch Selbstverwaltung.

Demgegenüber drängt sich freilich in allem Ernst die Frage auf, ob es sich hierbei noch um ein „christliches” oder nicht vielmehr um ein allgemein politisch-staatstheoretisches Problem handelt, das nur von den eigengesetzlichen Gesichtspunkten des Politischen aus beurteilt werden darf, wenn anders wir nicht Gefahr laufen wollen, einen „christlichen Staat” zu konstruieren und eine „christliche Politik” zu proklamieren. Ich sage absichtlich „wenn wir nicht Gefahr laufen wollen”, weil es mir als eine selbstverständliche und nicht weiter zu erörternde Gewißheit erscheint, daß es auf dem Boden der evangelischen Glaubenslehre weder einen christlichen Staat noch eine — inhaltlich — christliche Politik geben kann; daß daher etwa die Gedanken eines Friedrich Julius Stahl — des preußisch-konservativen Rechts- und Staatsphilosophen aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts — über Selbstverwaltung im christlichen Staat für unser Thema schon deswegen uninteressant sind, weil dieser „christliche Staat” im Sinne Stahls eine höchst anfechtbare Prämisse darstellt. Es gibt für den evangelischen Christen weder einen christlichen Staat noch spezifisch christliche Staatsformen noch eine im inhaltlichen Sinne christliche Politik — es gibt für ihn nur christliche Staatsmänner und Politiker, die in christlicher Verantwortung vor Gott ihr schwieriges Handwerk üben.

Und doch — vielleicht bedarf dieser Satz, der sich besonders betont in jeder theologisch fundierten politischen Ethik lutherischer

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Herkunft findet, einer gewissen Einschränkung oder zum mindesten doch genaueren Begrenzung. Wir haben in diesen Tagen aus den beiden eindrucksvollen Vorträgen von Erik Wolf in einer — wie ich glaube, für die meisten von uns überzeugenden — Weise gelernt, daß es zwar kein christliches Recht, wohl aber richtunggebende und grenzsetzende Weisungen der Heiligen Schrift für die Rechtsordnung gibt. (Erik Wolf.)

Das gilt naturgemäß nicht nur für das Privat- und Strafrecht, sondern auch für das öffentliche Recht, für Verfassung und Verwaltung des Gemeinwesens. Einen Versuch, solche Weisungen der Heiligen Schrift für die Verfassungspolitik aufzuzeigen, hat neuerdings Karl Barth in seinem Vortrag „Christengemeinde und Bürgergemeinde” 5) unternommen.

Die Kirche, oder, wie Barth zur Verdeutlichung seines Gedankengangs sagt, die Christengemeinde hat den verschiedenen politischen Gestalten und Wirklichkeiten gegenüber keine ihr notwendig eigentümliche Theorie zu vertreten. Sie ist nicht in der Lage, eine Lehre als die christliche Lehre vom rechten Staat aufzustellen. Es gibt keinen der christlichen Kirche entsprechenden christlichen Staat, kein Duplikat der Kirche im politischen Raum6). Mit diesem Ausgangspunkt befindet sich Barth in voller Übereinstimmung mit der traditionellen evangelischen Lehre. Seine Absicht zielt jedoch auf eine nähere Bestimmung der Bedeutung und Tragweite dieses Ausgangspunktes.

Indem sich die Christengemeinde in Erfüllung ihrer eigenen Aufgabe auch an der Aufgabe der Bürgergemeinde beteiligt, indem sie für diese betet, macht sie sich Gott gegenüber für diese Bürgergemeinde verantwortlich7). Das aber kann sie nur in ganz bestimmten Sinne. Es gibt keine christliche Indifferenz gegenüber den verschiedenen politischen Gestalten und Wirklichkeiten. Die Christengemeinde vollzieht ihre politische Mitverantwortung, indem sie — messend an dem Maßstab ihrer Erkenntnis des Herrn,


5) Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde (Kirche für die Welt, Heft 7), Stuttgart 1946.
6) A.a.O., Abschnitt 9.
7) Abschnitt 8.

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der der Herr über alles ist — unterscheidet zwischen dem rechten und dem unrechten Staat, zwischen Ordnung und Willkür, zwischen Herrschaft und Tyrannei, zwischen Freiheit und Anarchie, zwischen Gemeinschaft und Kollektivismus, zwischen Persönlichkeitsrecht und Individualismus, zwischen dem Staat von Röm. 13 und dem von Offenb. 13. Diesem Unterscheiden gemäß wird sie von Fall zu Fall urteilen, von Situation zu Situation wählen und wollen und demgemäß sich hier einsetzen, dort sich entgegensetzen 8). Hierbei gilt es für sie zwar keine Idee, kein System, kein Programm, wohl aber eine unter allen Umständen zu erkennende und innezuhaltende Richtung und Linie der im politischen Raum zu vollziehenden christlichen Entscheidungen 9). Sie bezieht sich auf die Gleichnisfähigkeit und Gleichnisbedürftigkeit des politischen Wesens. Dieses kann weder eine Wiederholung der Kirche noch eine Vorwegnahme des Reiches Gottes darstellen. Es ist in seinem Verhältnis zur Kirche ein eigenes, in seinem Verhältnis zum Reich Gottes ein menschliches Wesen. Wiederum hat es, indem es auf besonderer göttlicher Anordnung beruht, keine Eigengesetzlichkeit. Weder eine Gleichung noch eine einfache und absolute Ungleichung zwischen ihm und der Kirche einerseits, dem Reiche Gottes andererseits kann darum in Frage kommen: Die Gerechtigkeit des Staates in christlicher Sicht ist vielmehr seine Existenz als ein Gleichnis, eine Entsprechung, ein Analogon zu dem in der Kirche geglaubten und von der Kirche verkündigten Reich Gottes. Daher unterscheidet und wählt die Christengemeinde unter den sich jeweils bietenden politischen Möglichkeiten unter Zurückstellung und Ablehnung der anderen immer diejenigen, in deren Realisierung ein Gleichnis, eine Entsprechung, eine Analogie, das Spiegelbild dessen sichtbar wird, was den Inhalt ihres Bekenntnisses und ihrer Botschaft bildet10).

Was hat diese Lehre Karl Barths von der Gleichnisfähigkeit und Gleichnisbedürftigkeit des politischen Wesens im einzelnen und konkreten zu bedeuten? Barth gibt eine Reihe von Beispielen, um zu illustrieren, wie von der Christengemeinde her im Raum


8) Abschnitt 10.
9) Abschnitt 11.
10) Abschnitt 14.

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der Bürgergemeinde entschieden wird. Wir können hier nur die Kernthesen dieser Beispiele aufführen:

1. Die Christengemeinde wird sich im politischen Raum immer und unter allen Umständen in erster Linie des Menschen und nicht irgendeiner Sache annehmen. Nachdem Gott selbst Mensch geworden ist, ist der Mensch das Maß aller Dinge, kann und darf der Mensch nur für den Menschen eingesetzt und unter Umständen geopfert werden.
2. Die Christengemeinde steht immer für den Rechtsstaat, sie wird nie auf der Seite der Anarchie und nie auf der der Tyrannei zu finden sein.
3. Sie muß auch im politischen Raum vor allem nach unten blicken, muß sich vorzugsweise für die ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stellung nach Schwachen und Bedrohten, für die Armen, einsetzen; sie steht notwendig im Einsatz und Kampf für die soziale Gerechtigkeit.
4. Sie bejaht da als jedem Bürger durch die Bürgergemeinde zu garantierende Grundrecht die Freiheit: die Freiheit, seine Entscheidungen in der politisch-rechtlichen Sphäre nach eigener Einsicht und Wahl und also selbständig zu vollziehen, sowie die Freiheit der Existenz in bestimmten politisch-rechtlich gesicherten Sphären.
5. Die politische Freiheit wird die Christengemeinde nur im Sinne der vor Gott geforderten Grundpflicht der Verantwortlichkeit verstehen und interpretieren.
6. Bei aller Einsicht in die Verschiedenheit der Bedürfnisse, Fähigkeiten und Aufträge wird die Christengemeinde für die Gleichheit der Freiheit und Verantwortlichkeit aller als mündig anzusprechenden Bürger, das heißt für ihre Gleichheit vor dem sie alle verbindenden und verpflichtenden Gesetz, für ihre Gleichheit in der Mitwirkung an dessen Zustandekommen und Durchführung eintreten.
7. Sie wird auch im politischen Raum wach und offen sein für die Notwendigkeit, die verschiedenen Funktionen und „Gewalten” — die gesetzgebende, die vollziehende, die richterliche — insofern zu trennen, als die Träger der einen nicht zugleich die der anderen sein können.
8. Die Christengemeinde ist die abgesagte Gegnerin aller Geheimpolilik und Geheimdiplomatie.
9. Sie muß dem freien menschlichen Wort auch im Raum der Bürgergemeinde eine positive, aufbauende Bedeutung zuschreiben und dafür eintreten, daß es dem rechten Wort jedenfalls an Gelegenheit, laut und gehört zu werden, nicht fehlt.
10. Die Gewalt des rechten Staates unterscheidet sich von der des unrechten, wie potestas und potentia. Potestas ist die dem Recht folgende und dienende, potentia ist die dem Recht vorangehende, das Recht meisternde, beugende und brechende Gewalt. Die christliche Staatsräson weist in die Richtung des ersteren.

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11. Indem die Christengemeinde von Hause aus ökumenisch ist, widersteht sie auch im Politischen allen abstrakten Lokal-, Regional- und Nationalinteressen, wird sie grundsätzlich immer für Verständigung und Zusammenarbeit im größeren Kreis eintreten.
12. Für einen absoluten Frieden, den Frieden im jeden Preis, kann die Christengemeinde nicht eintreten. Sie kann aber jede gewaltsame Konfliktslösung nur als ultima ratio regis gelten lassen.

Wenn es zulässig ist, in dieser Weise die Grundsätze des Rechtsstaates — Grundrecht und Gewaltenteilung —, die Grundsätze der Demokratie — Gleichheit der Rechte und Mitverantwortung aller Bürger —, die Grundsätze des Parlamentarismus — Diskussion und Öffentlichkeit — aus dem Baugesetzen der Christengemeinde abzuleiten und in den Raum der Bürgergemeinde zu projizieren, dann müßte es auch wohl möglich und zulässig sein, das Prinzip der Selbstverwaltung in ähnlicher Weise als ein Element christlicher Staatsgesinnung zu erweisen. Ist nicht die Gründung des Staates auf einen breiten Unterbau lebendiger, von allen Gliedern der Bürgergemeinde getragener Selbstverwaltung eine unmittelbare Konsequenz der durch die fünfte und sechste These Barths geforderten gleichen Mitverantwortung aller mündigen Bürger für den politischen Kurs des Gemeinwesens?

Hüten wir uns indessen, die Frage vorschnell zu bejahen! Selbstverwaltung ist zwar eine mögliche, aber ist sie die notwendige, die einzig mögliche Konsequenz jener Forderung gleicher Mitverantwortung aller an der politischen Leitung des Gemeinwesens? In dieser verengten Fassung dürfte die Frage schwerlich zu bejahen sein. Karl Barth hat davon abgesehen, die Selbstverwaltung als ein Element der von ihm skizzierten „christlich-politischen Richtung und Linie” zu bezeichnen; und wenn gegen seine Thesen ein Einwand zu erheben ist, so scheint es mir vor allem der zu sein, daß sie zum Teil die Grenze der auf dem Boden des Evangeliums möglichen Konkretisierung jener christlich-politischen Linie überschreiten. Ich muß bekennen, daß es mir zweifelhaft scheint, ob sich derart konkrete politische Folgerungen, wie er sie zieht, aus den Baugesetzen der Christengemeinde herleiten lassen. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Nicht die Richtigkeit oder Zweckmäßigkeit der von Barth formulierten politischen

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Postulate soll damit in Zweifel gezogen werden; wohl aber soll bezweifelt werden, daß sich diese Postulate in überzeugender Schlüssigkeit aus dem Evangelium herleiten lassen.

Lassen Sie mich zur Verdeutlichung nur ein Beispiel herausgreifen: das Prinzip der Gewaltentrennung. Aus der Prämisse, daß „die Christengemeinde in ihrem eigenen Raum um die Verschiedenheit der Gaben und Aufträge des einen Heiligen Geistes weiß”, läßt sich vielleicht allenfalls im Sinne der klassischen Lehre des Aristoteles die Unterscheidung und Sonderung der drei Grundfunktionen der Staatsgewalt ableiten. Wenn man aber im Sinne Barths Verteilung der Gewalten an verschiedene, streng voneinander getrennte Träger der staatlichen Machtvollkommenheiten fordert, so meint man mehr als die aristotelische Dreigewaltenlehre, dann meint man die gegenseitige Hemmung und Balancierung der Gewalten, wie sie in der europäischen Staatsphilosophie erst von Locke und Montesquieu auf der Grundlage einer rationalistischen Metaphysik entwickelt worden ist. Für eine solche Lehre, mag man ihr zustimmen oder nicht, lassen sich in der Struktur der Christengemeinde jedenfalls irgendwelche Anhaltspunkte schwerlich auffinden.

Ich habe diesen Einwand gegen die Aufstellungen Barths vor allem deswegen präzisiert, um mit desto größeren Nachdruck diejenigen seiner Thesen zu unterstreichen, die von diesen Einwand nicht getroffen werden; und das gilt, glaube ich, vor allem auch für die im Zusammenhang unseres Themas besonders bedeutsame Forderung der fünften und sechsten These.

In der Tat ist die politische Mitverantwortung aller mündigen Glieder der Bürgergemeinde ein Postulat, das auch im Wege eines ganz anderen theologischen Gedankenganges, aus einer Besinnung über die schöpfungsmäßigen Grundlagen des Staates, wie sie etwa Emil Brunner anstellt, abgeleitet werden kann.

Wiederum geht auch Brunner davon aus, daß es den „christlichen Staat” nie gegeben hat und nie geben wird und daß es ebensowenig eine an sich christliche oder nichtchristliche Staatsform gibt. Jedoch räumt auch er ein, daß sich aus der Besinnung über die schöpfungsmäßigen Grundlagen des Staates „gewisse Richtlinien” finden lassen, die „zwar nicht selbst die Wahl der Staatsform implizieren, aber sie, im Blick auf die gegebene geschichtliche

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Lage, leiten können” 11). Der Staat ist im Plan der göttlichen Schöpfungsordnung als eine Institution angelegt, die nicht nur einem „technischen Sachzweck”, sondern zugleich einem „personalen Gemeinschaftszweck” zu dienen bestimmt ist. Dem Volke ist „mit der Einsetzung der sachverständig Regierenden allein nicht gedient, denn damit ist ja gerade die wichtigste Aufgabe, die der Gemeinschaft, nicht gelöst, sondern verneint. Darum kann die Frage nur im Blick auf die beiden, sehr verschiedenen Zwecke des Staates richtig gelöst werden: Welche Staatsform verbürgt einerseits die sachverständigste Leitung und andererseits die möglichst tiefgehende Verbundenheit der einzelnen Glieder des Volkes untereinander?” 12) Der personale Gemeinschaftszweck des Staates ist für jedes christliche Staatsverständnis grundlegend. Im christlichen Schöpfungsgedanken ist ebenso tief wie die unverletzliche Würde und Selbständigkeit der Person, wurzelnd in dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit (imago Dei) des Menschen, auch die ursprüngliche, nicht erst durch Vertrag entstehende Gemeinschaftlichkeit der menschlichen Existenz als konkrete Auswirkung der Bestimmung zur Liebe verankert. Im Unterschied zum spätantiken Naturrecht ist der Mensch der christlichen Schöpfungsordnung kein autarkes Individuum. Seine Bestimmung ist die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen. Das Sein-in-Gemeinschaft und das In-Liebe-Verbundensein ist der sinn der menschlichen Existenz. Tendiert der technische Sachzwek des Staates — die Verbürgung objektiver Gerechtigkeit und Ordnung, von Recht und Frieden, vielleicht auch von sozialer Wohlfahrt und kultureller Entfaltung — zur sachverständigen Regierung des einzelnen oder der wenigen mit möglichst umfassenden Kompetenzen, so fordert der personale Gemeinschaftszweck eine möglichst umfassende und gleichmäßige Beteiligung aller an der Verantwortlichkeit für den Staat.

Es kann nicht meine Aufgabe sein, die Auffassungen von Barth und Brunner hier im einzelnen zu konfrontieren und mich mit ihnen theologisch auseinanderzusetzen. Es genügt, das übereinstimmende Ergebnis in dem uns hier interessierenden Punkte, das


11) Emil Brunner, Das Gebot und die Ordnungen. 1932. S. 449.
12) Emil Brunner, Die Menschenrechte nach reformierter Lehre. Rektoratsrede. Zürich 1941/2. S. 14 ff.

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ich herauszuarbieten suchte, festzuhalten und seine Bedeutung für das Problem der Selbstverwaltung möglichst scharf zu formulieren.

In diesem Sinne dürfen wir feststellen: Soweit Selbstverwaltung eine politische Gestaltungsform ist, die eine möglichst umfassende und gleichmäßige Teilnahme aller Bürger an der politischen Mitverantwortung für das Gemeinwesen erlaubt, dürfen wir sie als in der Richtung und Linie christlich-politischen Denkens liegend begreifen. Nur in diesem begrenzten und mittelbaren Sinne aber darf von Selbstverwaltung als einem „christlichen Problem” gesprochen werden — mittelbar und begrenzt insoweit, als jede andere Form umfassender und gleichmäßiger Teilnahme aller Bürger an der politischen Mitverantwortung möglicherweise den Forderungen christlich-politischen Denkens in gleichem Maße genügen kann. Ein straff zentralisierter, aber konsequent durchdemokratisierter Staat — oder auch ein hoch entwickelter Föderalismus — können im Hinblick auf die Teilhabe aller Bürger an der politischen Mitverantwortung vielleicht das gleiche leisten.

Die Soziallehre der katholischen Kirche, die — wie etwa Jacques Maritain neuerdings gezeigt hat 13) — das Recht jedes Bürgers auf aktive Teilnahme am politischen Leben auf dem Boden des aristotelisch-thomistischen Naturrechts zu etablieren vermag, geht in der Bestimmung des Verhältnisses dieser verschiedenen institutionellen Gestaltungsmöglichkeiten zueinander noch einen Schritt weiter. Sie stellt sie nicht — je nach den geschichtlichen und sozialen Voraussetzungen — gleichsam zur Auswahl nebeneinander, sondern fügt sie in eine feste Rangordnung ein. Das ist der Sinn des Prinzips der Subsidiarität, wie es in dem grundlegenden Dokument der modernen katholischen Staats- und Soziallehre, in der Enzyklika „Quadragesimo Anno” (Abschnitt 79) programmatisch formuliert ist und an dem sich die katholische Staatsphilosophie der Gegenwart in ihren Stellungnahmen zu den Problemen


13) Jacques Maritain, Les droit de l’homme et la loi naturelle. Paris 1945. p. 112.

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der Selbstverwaltung und des Föderalismus orientiert. Die entscheidenden Sätze der Enzyklika lauten:

„Wenn in neuerer Zeit zufolge der veränderten Verhältnisse dem Staat auch mancherlei neue Aufgaben erwachsen sind, so muß doch allzeit unverrückbar jener oberste sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln und zu deuteln ist: Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär”.14)

In Anknüpfung an diese Sätze von Quadragesimo anno fordert ein katholischere Sozialtheoretiker wie etwa Paul Jostock — in einer kürzlich erschienenen Schrift 15) — „föderale Gestaltung” und Ausbau der Selbstverwaltung, „wo immer sie geeignet erscheint”. Auch wenn der sogenannte Kultur- und Wohlfahrtsstaat selbstverständlich zu bejahen und beizubehalten sei, so sollte doch seiner Ansicht nach auch hier sie Subsidiarität mehr zur Geltung kommen: „Vieles beispielsweise, was auf dem Gebiete der Schule und Wohlfahrtspflege Staat oder Gemeinden übernommen haben, könnte (unter Staatsaufsicht) ebenso gut, aber erheblich billiger, von kirchlichen und privaten Anstalten geleistet werden (Krankenhäuser!).”

Ob man dieses Subsidiaritätsprinzip als ein Grundgesetz der Schöpfungsordnung selbst bezeichnen darf, will mir zweifelhaft erscheinen. Dieses ist einer der Punkte, in denen ich mir von der Diskussion Rat und Belehrung von theologischer Seite verspreche. Über das Subsidiaritätsprinzip als ein Postulat natürlicher Sozialphilosophie werden wir kaum zu debattieren brauchen; so einleuchtend es ist, dürfen wir uns doch nicht zuviel von diesem Prinzip versprechen. Die entscheidende Frage wird immer bleiben, wie groß oder wie gering man die Leistungsfähigkeit der engeren und


14) G. Gundlach, Die Sozialen Rundschreiben Leos XIII. und Pius’ XI. (Schriften der Görres-Gesellschaft), Paderborn.
15) Paul Jostock, Grundzüge der Soziallehre und Sozialreform. Freiburg i.Br. 1946. S. 155 f.

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untergeordneten Gemeinschaften einschätzt, und in dieser Frage kann uns kein allgemeines dogmatisches Prinzip weiterhelfen.

Lassen Sie mich damit diesen ersten einleitenden Teil, der sich mit der Qualifizierung der Selbstverwaltung als einem christlichen Problem befaßte, zum Abschluß bringen. Ich hoffe, klargelegt zu haben, in welchem Sinne und in welchen Grenzen diese Qualifizierung möglich ist. Es dürfte dabei zugleich deutlich geworden sein, in welchen weiteren staatstheoretischen Zusammenhängen das Problem der Selbstverwaltung gesehen werden muß — auch vom Blickpunkt der Orientierung des Christen in der politischen Welt gesehen werden muß: Es gehört, zusammen mit den Problemen des Föderalismus und der Demokratie, in den weiteren Zusammenhang der institutionellen Ausgestaltung der verantwortlichen Teilnahme aller Bürger am staatlichen und politischen Leben.

 

II

Ich wende mich nunmehr im zweiten Teil dem staatstheoretischen und politischen Zusammenhang von Selbstverwaltung, Föderalismus und Demokratie zu.

In der politischen Diskussion der Gegenwart werden diese drei Gestaltungsformen mit größter Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit behandelt, als ob sie in einem natürlichen Ergänzungsverhältnis zueinander stünden und gleichsam nur Konkretisierungen eines allgemeinen einheitlichen Prinzips auf verschiedenen Teilgebieten wären. So einfach und selbstverständlich ist ein solches harmonisches und komplementäres Verhältnis dieser Gestaltungsformen jedoch keineswegs.

Das Prinzip der Demokratie betrifft zunächst die verantwortliche Teilnahme der politischen Aktivbürgerschaft des Volkes an der zentralen Willensbildung des Staates. Demokratie ist — im Prinzip — Identität von Regierenden und Regierten, in der Praxis möglichst weitgehende Annäherung an diese Identität durch verschiedenartige Formen der Bestimmung und Kontrolle der staatlichen Politik durch den Volkswillen.

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Von dem Begriff und der konkreten Vorstellung des „Volkes” hängt es sodann ab, ob der demokratische Staat zentralistisch und unitarisch aufgebaut wird, ob also alle Zuständigkeiten in einem Mittelpunkt der Staatsleitung örtlich und sachlich zusammengefaßt werden und alle regionale und örtliche Verwaltung nur abhängige und unselbständige Ausführung der von diesem Mittelpunkt ausgehenden Befehle und Weisungen ist — oder ob der Aufbau des demokratischen Staates föderativ und dezentralisiert gestaltet wird, ob also für die räumlichen und sachlichen Teilgebiete des Staatsganzen eine Radizierung der Zuständigkeiten an verschiedenen Orten und bei mehr oder weniger eigenständigen und selbstverantwortlichen Verwaltungsträgern vorgenommen wird 16).

Das klassische Vorbild der antiken Demokratie, Athen, ist zugleich ein hervorragendes Beispiel eines vollständig zentralisierten Staates. Die Auswirkungen dieses Staatsaufbaus sind uns aus der berühmten Schilderung Jacob Burckhardts geläufig: Diese zentralisierte Polisverfassung war eine der unfreiesten Verassungen, die man sich für eine organische Zusammenfassung von Menschen vorstellen kann, so urteilt dieser bewährt scharfsinnige Kulturhistoriker; sie war eine Verfassung, in der der einzelne völlig dem dauernden, bis in sein Privatleben hineingehenden Eingriff des regierenden Staates ausgeliefert war, wobei dieser Eingriff nur dadurch in gewissem Umfang versöhnlich gestaltet war, als sich der einzelne — soweit er Vollbürger war — als Mitträger dieser zentralen Gewalt fühlte.

Auch die moderne Demokratie, soweit sie in ihrer geistigen Substanz aus dem Gedankengut der großen Französischen Revolution gespeist wird, ist ihrem Wesen und ihrer Tendenz nach zentralistisch und unitarisch. Träger dieser Demokratie ist die moderne Nation. „Was ist eine Nation?” — so fragt der Abbé Siéyès in seiner berühmten Schrift über den „Dritten Stand”. Seine Antwort lautet: „Eine Gesamtheit von vereinigten Individuen,


16) Um mich nicht im Gestrüpp der verwaltungsrechtlichen Theorie zu verlieren, bediene ich mich hier mit Bedacht der Definitionen eines hervorragenden Verwaltungspraktikers: J. Popitz, Zentralismus und Selbstverwaltung. Volk und Reich der Deutschen, II. Band. 1929. S. 328 ff.

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die unter einem gemeinsamen Gesetz stehen und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten sind.” Die einheitliche unitarische Repräsentation und die durchgängige Gleichheit der Gesetze erscheint hier als das vornehmste Kennzeichen der Nation. Die Einheit dieser Nation darf weder durch Stände noch durch sonstige autonome soziale Gruppen beeinträchtigt werden. Im gleichen Sinne zielt Rousseaus Begriff der volonté générale — der Kernbegriff der modernen Demokratie — auf die ungeteilte und unteilbare kollektive Willenseinheit der Nation. Die „république une et indivisible” ist die unmittelbare Konsequenz dieser Staatskonzeption der nationalen Demokratie.

Überall, wo im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die nationale Demokratie ihren Siegeslauf angetreten hat, hat sich auch dieser ihr Einheitsgedanke, ihre unitarische Tendenz und ihre zentralisierende Kraft mit aller Macht zur Geltung gebracht. Aber das Beispiel der Vereinigten Staaten, der Schweizerischen Eidgenossenschaft, beweisen sie nicht, daß nationale Demokratie und föderativer Staatsaufbau sehr gut nebeneinander bestehen können? Und das Beispiel Englands, beweist es nicht, daß auch lokale Selbstverwaltung im Rahmen der nationalen Demokratie möglich ist?

Kein Zweifel, daß die Vereinigten Staaten und die Schweiz die großen Vorbilder des modernen Föderalismus sind. Und dennoch, wenn wir uns die Verfassungsgeschichte dieser beiden Staaten in den letzten einhundertfünfzig Jahren vergegenwärtigen, so bietet sie das Bild einer ununterbrochenen und ständig fortschreitenden Entwicklung zum nationalen Einheitsstaat. Die Vereinigten Staaten haben schon 1789, die Schweiz hat 1848 den Schritt vom Staatenbund zum Bundesstaat vollzogen. Die Entwicklung ist auch dabei nicht stehen geblieben. In der Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten bildet der Sezessionskrieg in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen tiefen Einschnitt. In den Schlachten des Bürgerkrieges ist nicht nur die soziale Struktur des alten sklavenhaltenden Südens, sondern zugleich auch die Staatensouveränität der einzelnen Unionsglieder zertrümmert worden. Ein neuer Bundesstaat mit gefestigter Zentralgewalt ist aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen. Seit 1865 sind die charakteristischen Doktrinen des amerikanischen Föderalismus, wie sie von Jefferson und Calhoun formuliert wurden, das

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Nullifikationsrecht und das Sezessionsrecht, aus dem Verfassungsrecht der Union verschwunden. Seit diesem Zeitpunkt steht es außer Frage, daß kein Gliedstaat, der sich durch vermeintlich verfassungswidrige Bundesgesetze beschwert fühlt, berechtigt ist, diese Gesetze für nichtig zu erklären, zu nullifizieren, und daß er noch viel weniger berechtigt ist, aus dem Bunde auszutreten, falls die Bundesmajorität auf diesen Gesetzen beharrt. Auch diese Ergebnisse des Bürgerkrieges bilden nicht die letzte Stufe in dem unaufhaltsamen Prozeß der wachsenden Vereinheitlichung, der die amerikanische Verfassungsentwicklung bis in die neueste Zeit kennzeichnet und den Sie in jeder Darstellung des modernen Verfassungsrechts der Vereinigten Staaten beschrieben finden. Kann man sie in der heute erreichten Phase dieses Entwicklungsvorgangs überhaupt noch als einen Bundesstaat bezeichnen? Der äußeren organisatorischen Form nach sind sie es zweifellos noch — ihrem Wesen nach aber haben sie sich in einen „unechten Bundesstaat”, einen „Bundesstaat ohne bündische Grundlage” verwandelt, wie man sich in der staatsrechtlichen Theorie ausgedrückt hat. Die Gliedstaaten sind zwar noch Träger einer eigenen Staatsgewalt, aber diese Staatsgewalt wurzelt nicht mehr in einer eigenen Souveränität der einzelnen gliedstaatlichen Völker. Träger der verfassunggebenden Gewalt, Subjekt der Volkssouveränität ist heute ausschließlich die amerikanische Gesamtnation. „We, the people of the United States” — „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, verordnen und setzen diese Verfassung”, so hieß es schon in dem Vorspruch der Verfassungsurkunde von 1787, und diese demokratische Vorstellung des einigen und ungeteilten Volkes hat sich mit unausweichlicher Konsequenz im Sinne der staatlichen Einheit ausgewirkt. Wir dürfen uns dabei daran erinnern, daß auch dem Vorspruch der Weimarer Verfassung eine ähnliche Bedeutung zukam: „Das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen”, wie es dort hieß, hatte sich diese Verfassung gegeben. Nicht die Länder, die eigentlichen Träger der bundesstaatlichen Organisation, wurden erwähnt. Als Träger und Subjekt der verfassunggebenden Gewalt wurde nur das in seinen Stämmen einige Volk angerufen, und es wäre schlechthin abwegig gewesen, eine Identität der deutschen „Stämme” mit den „Ländern” zu behaupten. Alle unitarischen Bestrebungen der Weimarer Zeit haben sich immer wieder auf

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diese Formel des Vorspruchs bezogen und von dort aus den bundesstaatlichen Charakter der Weimarer Republik in Frage gestellt.

Und das Beispiel der Schweiz? Auch die Schweiz ist nicht be idem aus dem Sonderbundskrieg hervorgewachsenen Bundesstaat von 1848 stehen geblieben. Die Bundesverfassung von 1874 markiert einen weiteren wesentlichen Schritt auf dem Wege zur nationalen Einheit. Aus dem Kampfe zwischen radikal-demokratischen Unitariern und katholisch-konservativen Föderalisten — einem Kampfe, der unter der Devise „Ein Recht und eine Armee” geführt wurde — ist die Verfassung von 1874 zwar nur als ein Kompromiß hervorgegangen. Viele Einheitsforderungen, die 1874 unerfüllt blieben, sind dann jedoch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten im Wege von Partialrevisionen der Verfassung durchgeführt worden. „Der Bund” — so hat der schweizerische Staatsrechtslehrer Fritz Fleiner schon 1917 festgestellt — „hat durch Partialrevisionen der Bundesverfassung seinen Kompetenzbereich Schritt für Schritt erweitert.” 17) Es braucht kaum betont zu werden, daß die verfassungsrechtliche Entwicklung während zweier Weltkriege, die in ihren Auswirkungen auch die Schweiz zutiefst berührten, diese Tendenzen vermittels zahlreicher Ausnahmebestimmungen — die erfahrungsgemäß nach Abschluß des Krieges nicht spurlos zu verschwinden pflegen — mächtig gefördert hat. Der geistige Hintergrund, auf dem sich diese Entwicklung vollzogen hat, ist auch in der Schweiz die Idee einer einheitlichen, alle ständischen, sprachlichen und konfessionellen Sonderungen übergreifenden schweizerischen Gesamtnation gewesen.

Sowohl für die Vereinigten Staaten wie für die Schweizerische Eidgenossenschaft wird man daher feststellen dürfen, daß der Charakter des Bundesstaates zwar nicht völlig beseitigt ist, daß er jedoch seiner eigentlich und spezifisch bündischen Grundlagen, seines echten föderativen Sinnes beraubt ist und nur noch ein verfassungsorganisatorisches Dezentralisationsprinzip darstellt, das in der Schweiz dem Schutze der katholisch-konfessionellen Minorität und der französisch-italienisch-sprachlichen Minderheit gegen die liberal-reformierte und deutsch-sprachige Mehrheit dient, während es in den Vereinigten Staaten den agrarischen Westen und


17) F. Fleiner, Zentralismus und Föderalismus in der Schweiz. Ausgewählte Schriften und Reden. Zürich 1941. S. 204.

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Mittel-Westen gegen den städtisch-industriellen Osten schützt — wobei freilich auch die städtischen Industrie- und Finanzkreise es verstanden haben, im bundesstaatlichen System ihren Vorteil zu finden. Die Verfassungsentwicklung der Vereinigten Staaten und der Schweiz bestätigt daher durchaus, was alle konsequent föderalistischen Denker stets erkannt haben: Daß es einen demokratischen Staatsabsolutismus gibt, der eine ebenso stark zentralisierende und jedes Eigenleben der Staatsglieder erdrückende Kraft entfalten kann wie jede andere, monarchische oder totalitäre Form des Absolutismus.

Und das Beispiel Englands — lehrt es nicht, daß zum mindesten Selbstverwaltung im Rahmen der nationalen Demokratie sehr wohl möglich und lebensfähig ist? Das englische Beispiel ist in der Tat von besonderer Wichtigkeit. Freilich nicht, weil es die Antinomie von Föderalismus und Selbstverwaltung auf der einen und Demokratie auf der anderen Seite als gegenstandslos erwiese, sondern vielmehr deshalb, weil es den Blick darauf hinlenkt, daß es nicht nur nationale Demokratie im Sinne des klassischen Vorbilde der Französischen Revolution gibt.

Wenn Demokratie Herrschaft des Volkes bedeutet, so muß ihre konkrete Gestalt — das wurde schon vorhin festgestellt — von dem besonderen Volksbegriff geprägt sein, der ihr zugrunde gelegt wird. Jene von Rousseau und Siéyès herkommende Idee der modernen Nation, die für einen großen Teil der demokratischen Welt bestimmend wurde, ist aber im politischen Bewußtsein und im Staatsdenken der Engländer niemals zur vollen Herrschaft gelangt 18). Die metaphysische Willenseinheit der Nation, wie sie in dem Rousseauschen Begriff der volonté générale zum Ausdruck kommt, ist der englischen Staats- und Sozialphilosophie stets fremd geblieben. Das Substrat der englischen Demokratie ist nicht die ungeteilte und unteilbare Kollektiveinheit der Nation, sondern das als Gesellschaft formierte Volk, das heißt eine Pluralität sozialer Kräfte und Interessen, die keineswegs in einem Verhältnis prästabilierter Harmonie zueinander stehen, sondern in einem natürlichen


18) Diesen Zusammenhang hat Heinz O. Ziegler in seinem Buch „Die moderne Nation” (Tübingen 1931) klargelegt. Ich folge hier seinen Darlegungen (besonders S. 184 ff.).

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Widerstreit, so daß der Staat niemals von dem fingierten Konsens seiner Bürger ausgehen kann, sondern in dem Ausgleich und der Versöhnung der dissentierenden Einzel- und Klasseninteressen seine einheitsstiftende Kraft bewähren muß.

Diese Grundkonzeption der englischen Demokratie ist vor allem von einem bedeutenden deutschen Juristen des neunzehnten Jahrhunderts ins Bewußtsein gehoben worden: von Rudolf von Gneist, dem hervorragenden Kenner des englischen Staats- und Verwaltungsrechtes, der sich vom Ausland her je dem Studium des englischen Rechts- und Verwaltungssystems zugewandt hat. In Anknüpfung an seine großen Vorläufer, Lorenz von Stein und Robert von Mohl, hat Gneist aus der Anschauung des englischen Verfassungslebens einen besonderen und eigentümlichen Begriff des Rechtsstaates geschöpft, den er auf das engste mit der idee und Institution der Selbstverwaltung verband. Mit gleicher Entschiedenheit wies Gneist den naturrechtlichen Begriff des abstrakten Individuums sowohl wie die rationalistische Fiktion der von Natur einheitlichen und unteilbaren Nation zurück:

„Die Geschichte der Völker läßt sich nicht aus der vernünftigen Natur des Menschen allein entwickeln ... Auch die Wissenschaft kann sich der Anerkennung nicht entziehen, daß jenes abstrakte ,Ich’, aus welchem das ehemalige Naturrecht den Staat aufbaute, nicht der wirklichen Welt angehört, daß in der Wirklichkeit vielmehr jedes Volk sich innerlich scheidet und gliedert nach Besitz und Erwerb der äußeren und geistigen Güter, zu deren Aneignung und Genuß die Menschheit bestimmt ist, eine Gliederung, welche ich hier in dem Begriffe der ,Gesellschaft’ zusammenfasse”.19)
„Nach jeder Revolution fällt die Souveränität nicht dem ,Volke’, sondern der Gesellschaft zu. Volkssouveränität bedeutet nur Souveränität der Gesellschaft, das heißt der in der Gesellschaft herrschenden Klassen”.20)

In dieser Gesellschaft gibt es keine natürliche Harmonie der Interessen, sondern ein partikulares Interesse steht gegen das andere. An diesem Widerspruch — so sagt Gneist wörtlich — beginnt „die eigentliche Grundlegung des Rechtsstaates”. Indem Gneist auf den Begriff einer vorgegebenen Kollektiveinheit der Nation verzichtet, macht er von vornherein jede Verabsolutierung


19) R. von Gneist, Der Rechtsstaat. 1872. S. 1
20) a.a.O., S. 8 f.

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des Staates unmöglich. Es fehlt in seinem Gedankengang jeder Ansatzpunkt, aus dem die Allmacht des Staates abgeleitet werden könnte. Der Auftrag des Staates wird vielmehr in konkreter Begrenzung aufgewiesen:

„Wie der einzelne Mensch den Widerstreit seiner Triebe und Begierden mit seinen sittlichen Pflichten durch freien Entschluß überwinden soll, so ist es die ewige Bestimmung der Gemeinschaft der Menschen, jenes Gegensatzes der Interessen und ihrer Unfreiheit Herr zu werden durch den Organismus des Staates”.21)

Wodurch aber kann der Staat dieses Interessengegensatzes Herr werden? Nur dadurch, antwortet Gneist, daß der Gesellschaft das Recht gegenübergestellt ist, das Recht als eine ordnende Macht, die in der Idee der Gerechtigkeit ihr absolutes Maß hat. Dieses Recht ist kein abstraktes, der Gesellschaft beziehungslos gegenüberstehendes Normensystem, sondern ist vielmehr gedacht als eine konkrete Bindung jedes einzelnen in seiner besonderen gesellschaftlich-politischen Situation, wobei Rechten und Pflichten sich in abgewogener Entsprechung gegenüberstehen. Dieser Rechtsgedanke findet nach Gneist seine eigentliche Entfaltung in einer besonderen Zwischenschicht zwischen Staat und Gesellschaft — in der Selbstverwaltung, deren Bestehen recht eigentlich das Wesen des Rechtsstaates ausmacht. In der Selbstverwaltung der engeren, lokalen und regionalen Lebenskreise erfolgt jene konkrete Verteilung der Rechte und Pflichten, die als organische Selbstbindung autonomer sozialer Gruppen den Staat in langsamer und ständiger Entwicklung aus dem Pluralismus der Interessen, aus einer gegliederten Gesellschaft erwachsen läßt. Nur da, wo eine solche organische Selbstbindung der Gesellschaft zum Staat in Gestalt der Selbstverwaltung erfolgt, nur da kann nach Gneists Auffassung vom Rechtsstaat im eigentlichen Sinne gesprochen werden. Im englischen self-government sah Gneist die klassische Form einer solchen organischen Verstaatlichung der Gesellschaft durch Selbstverwaltung.

Ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, daß diese Konzeption Gneists, die dem Begriff des Rechtsstaats eine über das landläufige Verständnis hinausgehende, besonders reiche und substantielle Sinnerfüllung verleiht, das Zentrum unseres Themas trifft. Sie


21) a.a.O., S. 9.

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zeigt, daß es eine Art von Demokratie gibt, welche die Selbstverwaltung engerer Lebenskreise nicht nur duldet, sondern geradezu voraussetzt, und sie erklärt, weshalb in England ein solches Verhältnis der Entsprechung, Ergänzung und fruchtbaren Wechselwirkung zwischen Demokratie und Selbstverwaltung möglich war und ist.

Der deutschen Demokratie, wie sie 1919 in Weimar konstituiert wurde, ist es im ganzen nicht gelungen, Föderalismus und Selbstverwaltung in wirklich sinnvoller und fruchtbarer Weise organisch in ihren Staatsaufbau einzufügen. Die Problematik der Beziehungen zwischen Reich und Ländern ist vom Anfang bis zum Ende der Republik ein ständiger Gegenstand lebhafter Auseinandersetzung und ebenso vielfältiger wie fruchtloser Reformbestrebungen gewesen. Der Kampf um die Abgrenzung von Reichs- und Länderzuständigkeiten wurde, wie der Präsident des Deutschen Städtetages 1928 in Breslau tadelnd und anklagend hervorhob, auf dem Rücken der Gemeinden ausgetragen. Weit wichtiger als die vielerörterte „Aushöhlung” der Länder durch das Reich, meinte er, sei die Aushöhlung der Gemeinden durch die Länder. Im Kampfe zwischen Reich und Ländern müßten die Gemeinden als die staatsrechtlich Schwächsten zuerst auf der Strecke bleiben 22).

Ich kann den Einzelheiten der damaligen Auseinandersetzungen, die Ihnen zum Teil noch in Erinnerung sein werden, hier nicht weiter nachgehen. Im Rahmen unseres Themas notwendig aber ist es, nach den Ursachen jener Fehlentwicklung zu fragen.

Wenn alle sachverständigen Beobachter jener Entwicklung im wesentlichen darin übereinstimmen, daß unter der Bismarckschen Reichsverfassung der bündische Charakter des Reiches kräftiger ausgeprägt und der Entfaltungsspielraum der kommunalen Selbstverwaltung ein weiterer gewesen sei, so dürfte der Inhalt dieser Feststellung nur eine logische Folge der Tatsache gewesen sein, daß die Träger des Weimarer Staates zum größeren Teil jener demokratischen Konzeption anhingen, die von dem Gedanken der einheitlichen Nation im Sinne Rousseaus und der Französischen Revolution ausgeht. Das Versagen der bundesstaatlichen Organisation


22) Mulert, Reichsaufbau und Selbstverwaltung. Berlin 1929. Seite 11-13.

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und die Krise der Gemeindeverwaltung im Weimarer Staat war also zuallererst im Staatsgedanken der Weimarer Nationalversammlung selbst begründet.

Allerdings hieße es, die Probleme in unzulässiger Weise vereinfachen, wollten wir uns mit dieser Feststellung begnügen. Es ist ja gewiß kein Zufall, daß die moderne Demokratie in so ausgesprochenem Maße der Idee der einheitlichen und unteilbaren Nation zuneigt: Sie ist der treffendste Ausdruck einer geistigen Vorstellungswelt, die dem ungegliederten, nivellierten Massendasein der industriellen Großvölker unserer Zeit entspricht. Wenn die ideologische Wurzel moderner Staatsallmacht — in plebiszitär-diktatorischen sowohl wie im demokratischen Staaten — in der legitimierenden Kraft der nationalen Kollektiveinheit ligt, so liegt ihre soziologische Wurzel in der Verwaltungsbedürftigkeit dieser modernen städtisch-industriellen Massenbevölkerung.

Kein Zweifel, daß sich von diesem Gesichtspunkt aus weitreichende Konsequenzen für die Verwendung föderativer und autonomer Gestaltungsformen im Aufbau unseres Gemeinwesens ergeben. Ich kann diesen Gedankengang nicht mehr in aller Breite entwickeln, sondern muß mich mit einigen stichwortmäßigen Andeutungen begnügen.

Man wird kaum zu viel sage, wenn man von einer an die Grundlagen des Föderalismus führenden Krise spricht, die sich etwa aus der zwingenden Notwendigkeit einer einheitlichen, keine föderative Aufgliederung gestattenden Wirtschafts- und Sozialpolitik in einem industriellen Großstaat ergibt 23). In ähnlicher Weise wird man auch die Krise der kommunalen Selbstverwaltung, von der schon vor 1933 viel die Rede war, zu einem wesentlichen Teil auf die soziale Struktur der heutigen industriellen, insbesondere großstädtischen Massenbevölkerung zurückzuführen haben.

Lassen Sie mich an dieser Stelle nur — um anzudeuten, daß es sich auch hierbei nicht um ein isoliertes deutsches Problem handelt, — einige Äußerungen englischer Sachkenner zur Gegenwartssituation der englischen Lokalverwaltung anführen. Die auffälligste


23) Vgl. darüber meinen (in der Drucklegung befindlichen) Vortrag „Antinomien des Föderalismus” (Recht und Zeit, Rechts- und Staatswissenschaftlicher Verlag, Hamburg).

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Merkmal der Local Government Act 1929, die die Zuständigkeiten der englischen Lokalverwaltung neu ordnete, ist eine starke Tendenz zur Zentralisierung, die besonders das Gesundheits- und Wohnungswesen, Straßenbau und Polizei betraf und dem 1919 geschaffenen Ministry of Health starke Weisungs- und Kontrollrechte gab. Als besonders wirksames Mittel indirekter Kontrolle der staatlichen Zentralbehörden haben sich in England die „grants in aid” erwiesen, das sind staatliche Zuschüsse mit fester Zweckbindung, über deren zweckgemäße Verwendung die Zentralbehörden wachen. Eine der besten Kenner des englischen Verwaltungsrechts, der Londoner Universitätsprofessor Herman Finer schrieb schon ein Jahr vor dem Erlaß dieses Gesetzes:

„Die abstrakte, doktrinäre Stellungsnahme zu den Verdiensten der Lokalverwaltung, welche zwischen 1800 und 1890 vorherrschend war ... ist vorüber. Die Zentralverwaltung kann sich danach bei ihren Maßnahmen nicht mehr richten, im Gegenteil, die Lokalverwaltung gilt heute als Schöpfung der Zentralbehörde und die „unvergänglichen Rechte lokaler Freiheit” werden täglich durch die starken Bedürfnisse der Gegenwart und Zukunft in Frage gestellt. In den lokalen Bezirken wie auch bei den Zentralen sind stärkere Kräfte als die der Menschen am Werke, und die Forderungen der Natur, soweit sie wissenschaftlich erprobt sind, verlangen ihr Recht. Kommende Zeiten können noch weitere Forderungen hervorbringen als die von mir dargestellten”.24)

Einige Jahre später schrieb Finer:

„Dem ausländischen Beobachter, der immer an die erhabene Freiheit der lokalen Institutionen Englands glaubt, mag es erstaunlich scheinen, daß wir unausweichlich in ein neues System hineingleiten, in welchem die so berühmte Freiheit stark vermindert sein wird”.

Ich darf nunmehr das Ergebnis dieser Untersuchung über den Zusammenhang und das Verhältnis von Selbstverwaltung, Föderalismus und Demokratie zueinander zusammenfassen: Wir haben festgestellt, daß dieses Verhältnis von Natur keineswegs unproblematisch ist, daß es vielmehr — und zwar in der politischen Wirklichkeit überwiegend — Formen der Demokratie gibt, die zwar das Prinzip der verantwortlichen Teilnahme aller Bürger am politischen Leben ideologische anerkennen und bejahen, daraus aber zugleich die Legitimation zu einer praktisch allmächtigen zentralen Leitungsgewalt des Staates ableiten, weil sie den


24) Finer, Die neuen Entwicklungstendenzen in der englischen Lokalverwaltung. Jahrbuch des öffentlichen Rechts. Bd. 16 (1938), S. 167.

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einzelnen Bürger nicht als Glied engerer Lebenskreise und autonomer sozialer Gruppen, sondern nur als abstraktes Individuum innerhalb einer als unteilbare Kollektiveinheit vorgestellten Nation zu sehen vermögen. Wir haben bemerkt, daß diese Formen der Demokratie zwangsläufig zur Aushöhlung bündischer Verfassungen und eigenständiger Selbstverwaltungseinrichtungen führen. Föderalismus und Selbstverwaltung können sich ungehindert nur auf dem Boden einer Auffassung von Demokratie entfalten, die das Volk als eine aus engeren sozialen Lebenskreisen erwachsende, gegliederte Gesellschaft zu begreifen vermag, — eine Auffassung, wie sie Gneist am englischen Beispiel entwickelt hat. Die Massenstruktur des modernen Nationen widerstrebt jedoch einer solchen Auffassung und neigt mehr der zentralistisch und unitarisch gesinnten Demokratie zu, ebenso wie ihre Verwaltungs- und Versorgungsbedürfnisse von Natur den Zentralismus begünstigen.

 

III

Lassen Sie mich nun in einem abschließenden dritten Teil von den Aussichten und Möglichkeiten der Selbstverwaltung in der heutigen deutschen Situation sprechen.

Wenn es in der vorhergehenden Untersuchung unerläßlich war, die Problematik des Föderalismus in den Gedankengang einzubeziehen, so muß ich mein Thema hier wieder strenger auf die Selbstverwaltung beschränken, um den zeitlichen Rahmen dieses Referats nicht allzu ungebührlich zu überschreiten. Ich gehe also nicht weiter der Frage nach, ob und in welchem Maße eine bündische Gliederung des in der Katastrophe von 1945 übrige gebliebenen Rumpfdeutschland möglich oder wünschenswert ist. Ich möchte nur hervorheben, daß trotz der im Hinblick auf ihre geistigen Grundlagen engen Verwandtschaft von Föderalismus und Selbstverwaltung doch ein Bekenntnis zum einen nicht notwendig auch ein Bekenntnis zum anderen impliziert. Im Gegenteil haben wir erlebt, daß überzeugte Vorkämpfer des Selbstverwaltungsgedankens — wie etwa die Leiter des Deutschen Städtetages — zugleich als entschiedene Gegner jeder bundesstaatlichen Gliederung des Reiches auftraten und den „dezentralisierten Einheitsstaat” auf ihr Panier schrieben.

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In einem grundsätzlichen Punkte sind wir allerdings der eigenen Entscheidung im Augenblick überhoben: Die Politik der Besatzungsmächte steht einem deutschen Einheitsstaat überwiegend ablehnend gegenüber. Die ursprünglichen Pläne der britischen Militärregierung vom Jahre 1945 scheinen zwar ernstlich die Form des dezentralisierten Einheitsstaates auf der Grundlage potenzierter Selbstverwaltungskörper ins Auge gefaßt zu haben. Die gegenwärtige Entwicklung, die zur Bildung der Länder Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen geführt hat, läßt jedoch erkennen, daß diese Linie bis zu einem gewissen Maße aufgegeben worden ist und nunmehr ähnlich wie in der amerikanischen Zone ein Bundesstaat deutscher Länder angestrebt wird.

Wir sind damit nicht des Nachdenkens überhoben, welches Maß von Kohärenz diesem Bunde zukommen soll, ob es sich um einen lockeren Staatenbund oder einen fester geschlossenen Bundesstaat handeln soll und wie im letzteren Fall die Zuständigkeiten zwischen Bunden und Gliedern verteilt sein sollten. Ich will, wie gesagt, diesen Fragen hier nicht nachgehen.

Wenden wir uns vielmehr sogleich der Selbstverwaltung zu. Herkömmlicherweise denken wir dabei zuerst an die Selbstverwaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände, an die kommunale Selbstverwaltung. Doch werden wir nicht außer auch lassen dürfen, daß der Selbstverwaltungsgedanke auch auf anderen Gebieten des öffentlichen Lebens seine Rolle spielt: im Kirchenrecht, im Universitätsrecht und in neuerer Zeit vor allem auch im Recht der Wirtschaftsordnung. Ich kann nicht alle diese verschiedenen Aspekte und Anwendungsgebiete des Selbstverwaltungsgedanke erörtern, sondern muß mich auf einige wenige beschränken. Es liegt nahe, an dieser Stelle besonders auf die Selbstverwaltung der Kirchen einzugehen. Von mir aus gesehen würde es auch nahe liegen, die akademische Selbstverwaltung der Universitäten zu erörtern, denn mit dieser Frage haben wir uns in der britischen Zone in den letzten Monaten eingehender zu beschäftigen gehabt. Dennoch möchte ich von beiden absehen. Die Selbstverwaltung der Universitäten ist ein Thema, das den meisen von Ihnen doch ferner liegt. Über das Thema Staat und Kirche hat Hans Erich Feine im vergangenen Jahre in Bad Boll gesprochen und sein instruktiver

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Vortrag ist unlängst im Druck erschienen 25). Die Selbstverwaltung der Kirchen, soweit man diesen Ausdruck überhaupt gebrauchen darf, ist in vieler Hinsicht ein besonderes Problem. Unter dem Gesichtswinkel meiner bisherigen Überlegungen scheint es mir fruchtbarer, auf die Beispiele der kommunalen und wirtschaftlichen Selbstverwaltung einzugehen.

Von den bisher festgelegten Ausgangspunkten her haben wir vor allem die Frage zu stellen: Wieweit ist die kommunale Selbstverwaltung heute in Deutschland ein geeignetes Mittel, um die verantwortliche Teilnahme aller Bürger an der Bestimmung der Geschicke ihres Gemeinwesens zu verwirklichen?

In der Geschichte der deutschen gemeindlichen Selbstverwaltung hat diese Frage stets eine zentrale Bedeutung gehabt. Für den Schöpfer der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen, den Freiherrn von Stein, war dieses die schlechthin entscheidende Frage. Steins berühmte Nassauische Denkschrift von 1807 bietet dafür zahlreiche Belege:

„Ist der Eigentümer von aller Teilnahme an der Provinzialverwaltung ausgeschlossen, so bleibt das Band, das ihn an sein Vaterland bindet, unbenutzt, die Kenntnisse, welche ihm seine Verhältnisse zu seinen Gütern und Mitbürgern verschaffen, unfruchtbar: seine Wünsche und Verbesserungen, die er einsieht, um Abstellung von Mißbräuchen, die ihn drücken, verhallen oder werden unterdrückt, und seine Muße und Kräfte, die er dem Staate unter gewissen Bedingungen gern widmen würde, werden auf Genüsse aller Art verwandt, oder im Müßiggang aufgerieben ..., man tötet also, indem man den Eigentümer von aller Teilnahme an der Verwaltung entfern, den Gemeingeist”.

Darauf vor allem kam es Stein an:

„Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns, die Benutzung der schlafenden und falschgeleiteten Kräfte und der zerstreut liegenden Kenntnisse, der Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen, und denen der Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre”.

Die gemeindliche Selbstverwaltung sollte nach den Absichten des Freiherrn von Stein an die durch den Absolutismus verschüttete genossenschaftliche Tradition des deutschen Recht anknüpfen.


25) Hans Erich Feine, Staat und Kirche (Furche-Verlag, Tübingen 1946).

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Unter dem Einfluß des englischen Vorbilds dachte er dabei insbesondere an die Verwaltung durch ehrenamtliche, also unbesoldete, gewählte Vertreter der Bürgerschaft. Dieser besondere Begriff der Selbstverwaltung (man hat ihn später, nicht besonders glücklich, den „politischen” Begriff der Selbstverwaltung genannt und ihn als solchen dem „juristischen” gegenübergestellt) ist im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts in den Hintergrund getreten. Der Versuch Gneists, ihn wiederaufzunehmen, blieb wirkunslos. Aber auch für Gneist, ebenso wie für Lorenz von Stein, der um die Jahrhundertmitte den modernen Begriff der Selbstverwaltung prägte, war „die tätige Teilnahme der einzelnen Staatsbürger an der ,örtlichen Verwaltung’ das entscheidende”. Die Selbstverwaltung, so definierte Lorenz von Stein, „ist die Teilnahme des Staatsbürgertums an der örtlichen Verwaltung, die als ein selbständiger Verwaltungsorganismus, mit eigenem Inhalt, eigener Funktion und eigenem Recht ausgerüstet, auftritt” 26).

Die Entwicklung, welche die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland von den Zeiten des Freiherrn vom Stein über die großen Theoretiker Lorenz von Stein und Gneist bis zur Gegenwart genommen, ist bekannt und häufig geschildert worden. Entscheidend waren die sprunghafte Vermehrung sowie die dadurch bedingte siedlungsmäßige und soziale Umschichtung der Bevölkerung im neunzehnten Jahrhundert, die Überflutung der Städte durch ortsfremde Menschenmassen, der dadurch beschleunigte Zerfall der genossenschaftlichen Strukturelemente der alten Bürgergemeinde und ihre Wandlung zur bloßen Einwohnergemeinde, deren gemeinschaftsbildende Kräfte auch in kleineren Städten infolge des Fluktuierens der Bevölkerung erlahmte. Insbesondere in den Großstädten verkümmerte die persönliche Anteilnahme der Einwohner an der Lenkung der Geschichte ihres Gemeinwesens, die Gemeindeverwaltung wurde immer stärker bürokratisiert und dadurch in ihrem Charakter der staatlichen Verwaltung angenähert. Die Probleme, die sich seit 1918 aus dem Übergang zur Demokratie und aus dem Gegeneinander von Reich und Ländern ergaben, wurden schon gestreift. Die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre hat die Aushöhlung der Lebenskraft der gemeindlichen


26) Lorenz von Stein, Verwaltungslehre, 1865, S. 364.

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Selbstverwaltung weiter gefördert. In dieser Situation hatte der aus dem Umsturz von 1933 hervorgegangene Staat leichtes Spiel, die geschwächte Widerstandskraft der gemeindlichen Selbstverwaltung vollends zu überwältigen. Die Deutsche Gemeindeordnung von 1935, die in vielen Einzelheiten ein technisch brauchbares Gesetz sein mag 27), zerstörte in entscheidenden Punkten das Gefüge der Gemeindeselbstverwaltung. Es sei nur die Einführung des Führerprinzips erwähnt, die Einschaltung des Beauftragten der Partei, die Beseitigung der gewählten Vertretungskörperschaften, die Ausdehnung der Staatsaufsicht über die bloße Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Gemeindeverwaltung hinaus auf ihren „Einklang mit den Zielen der Staatsführung”, was auf eine verschleierte Kontrolle der Zweckmäßigkeit der Verwaltungsmaßnahmen hinauslief. Den Abschluß dieser Entwicklung bildete der Erlaß über die Vereinfachung der Verwaltung vom 28. August 1939 (RGBl. I, S. 1535), der die deutschen Gemeinden der unmittelbaren Weisungsbefugnis der vorgesetzten Aufsichtsbehörden unterwarf und sie damit vollständig in den staatlichen Verwaltungsapparat des Reiches eingliederte.

Nach dem Zusammenbruch von 1945 sind an die Stelle der vorgesetzten Reichsbehörden zunächst die alliierten Besatzungsbehörden getreten. Von einer Wiederherstellung der Selbstverwaltung kann daher vorerst nur in bescheidenstem Umfang die Rede sein. Die Frage, die uns gestellt ist, muß daher in der heutigen Situation dahin formuliert werden, ob und in welchem Umfang wir an eine Wiederherstellung der gemeindlichen Selbstverwaltung denken sollen und denken können. Sind die am Ende eines langjährigen Zersetzungsprozesses aus der Katastrophe dieses Krieges hervorgegangenen Gemeinden noch lebensfähige Träger einer eigenverantwortlichen Verwaltung, und erlaubt die in der unerhörten Not- und Mangellage unseres Vaterlandes gebotene Zusammenfassung aller Kräfte den Luxus einer dezentralisierten Selbstverwaltung? Und können wir uns von einer restaurierten Selbstverwaltung eine lebendige und verantwortungsbewußte Teilnahme aller Mitbürger an der örtlichen Verwaltung versprechen?


27) Vgl. Gönnenwein, Kommunalrechtliche Gegenwartsfragen, Deutsche Rechtszeitschrift 1946, 1. Jahrgang, Heft 2, S. 37.

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Schon vor 1933 ist vielfach die These vertreten worden, es sei besser, die kommunale Selbstverwaltung überhaupt zu beseitigen, wenn es nicht möglich sei, den ursprünglichen genossenschaftlichen Charakter der Gemeinde wiederherzustellen 28). Auf den Eintritt dieser Bedingung zu vertrauen, scheint mir freilich — zum mindesten für die nähere Zukunft — eine romantische Illusion zu sein. Die durch den Krieg und seine Folgen ausgelöste Völkerwanderung und die Überflutung nunmehr auch der kleinsten Landgemeinden mit ortsfremden, entwurzelten, besitz- und hoffnungslosen Menschenmassen muß jede solche Erwartung zunichte machen, selbst wenn man darauf vertrauen könnte, daß es bei dem gegenwärtigen Zustand des Flüchtingselends in den Westzonen nicht bleibt.

Kann die Gemeinde nicht mehr eine umfassende Raumgemeinschaft im alten genossenschaftlichen Sinne sein, so kann sie sich doch — auch darauf ist schon vor 1933 hingewiesen worden 29) — auf mannigfaltige reale Gemeinsamkeiten gründen, die sich aus der bloßen Tatsache des Wohnsitzes innerhalb der Gemeinde ergeben und jeden Einwohner mit ihr verbinden: Gemeinsame Inanspruchnahme der Verkehrsmittel, Anschluß an Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung, gemeinsames Interesse an Schule, Theater, kulturellen Veranstaltungen, — alles dieses begründet ein auf durchaus realen Grundlagen beruhendes Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich vielfach gerade in den Nöten der Kriegszeit festigt und bewährt hat. Ich brauch nur an die Luftschutzgemeinschaften des Krieges und an die erstaunliche Abhängigkeit der Großstadtbevölkerung an ihre zerbombten Städte zu erinnern, wobei es ganz gleichgültig ist, in welchem Maße diese Erscheinung auf sentimentale oder reale Motive zurückzuführen ist.

Eine auf dieses sachliche Substrat gegründete Gemeindeselbstverwaltung wird sich freilich auf die entsprechenden sachlichen Funktionen zu beschränken haben, und diese Funktionen werden unter unseren heutigen Lebensbedingungen durch vielfache unausweichliche Zwangsläufigkeiten zentraler Ordnung und Planung


28) Köttgen, Die Krise der kommunalen Selbstverwaltung. 1931.
29) Forsthoff, Die Krise der Gemeindeverwaltung im heutigen Staat. 1932. S. 53 ff.

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eingeschränkt werden müssen. Wollte man darüber hinwegsehen, so würde man die kommunale Selbstverwaltung auf fiktiven Grundlagen errichten. Schon die ungeheure Schwierigkeit eines gerechten Lastenausgleichs zwischen den vom Kriege schwer und den kaum betroffenen Gemeinden wird dem Spielraum der Selbstverwaltung gewisse notwendige Schranken setzen.

Die auf solcher Grundlage ruhende Selbstverwaltung ist auch zu eigentlich politische Funktionen nicht berufen. Ich bekenne, daß ich den Artikel 17 der Weimarer Verfassung, der das für den Reichstag und die Länderparlamente geltende Verhältniswahlrecht auch auf die kommunalen Vertretungskörper ausdehnte und diese damit zu einer verkleinerten Ausgabe des Reichsparlaments und seines zentralen Parteiensystems machte, für einen verhängnisvollen Fehler gehalten habe und sehr bedauern würde, wenn man diesen Fehler heute blindlings wiederholen würde. unser Parteiwesen wird in Kürze wieder ebenso straff zentralistisch aufgebaut sein, wie es das vor 1933 war, und es wird insoweit immer ein Element bleiben, das in einem gewissen notwendigen und unauflöslichen Widerspruch zu einer echten lokalen Selbstverwaltung steht. Es bedarf zur Entscheidung über die Errichtung eines Krankenhauses oder einer städtischen Gasanstalt oder über die zweckmäßige Unterbringung von Flüchtlingen wirklich keiner weltanschaulichen oder parteipolitischen Gesichtspunkte, und die Diskussion der letzten Tage hat bereits einige groteske Beispiele dafür geliefert, wohin solche Gesichtspunkte bei der Umbenennung von Straßen führen.

Die revidierte Gemeindeordnung der britischen Besatzungszone (in Kraft seit 1. April 1946) ist leider sehr stark auf eine Politisierung der Kommunalverwaltung hin angelegt 30). Sie überträgt das englische Schema der scharfen Trennung zwischen der politisch zusammengesetzten Vertretungskörperschaft und ihrem Vorsitzenden auf der einen Seite und den ihr untergeordneten unpolitischen Fachbeamten als lediglich ausführenden Organen auf der anderen Seite auf die deutschen Verhältnisse. Wir haben heute in der britischen Zone Bürgermeister und Landräte, die lediglich ehrenamtliche


30) Verordnung Nr. 21 der Militärregierung (Amtsblatt der Militärregierung Nr. 7, S. 127-149). Dazu Erdsiek, Deutsche Rechtszeitschrift 1946, S. 80-83.

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Vorsitzende des Rats der Gemeinde oder des Kreistags sind, und auf der anderen Seite hauptamtliche Oberstadtdirektoren und Oberkreisdirektoren, die als unpolitische Fachbeamte lediglich die Beschlüsse der Vertretungskörperschaften auszuführen haben. Ob ein so weitgehender Bruch mit der deutschen Selbstverwaltungstradition notwendig und zweckmäßig war, will mir zweifelhaft erscheinen angesichts der unbestreitbaren Tatsache, daß wir in Deutschland, auch in den bisher preußischen Gebieten, eine Tradition der kommunalen Selbstverwaltung besitzen, die, gemessen an den Maßstäben eines demokratischen Staatsaufbaus, durchaus bestehen kann. Gerade wenn wir trotz der Problematik unserer heutigen politischen und sozialen Gesamtsituation den Versuch machen, jeden einzelnen an der Verantwortung für das Gemeinwesen zu beteiligen, ist es von hoher Bedeutung, daß wir die — insgesamt gewiß nicht überreichen — Formen solcher Teilnahme, die bei uns noch lebendig sind, sorgsam erhalten und nicht ohne Not preisgeben. Die revidierte Gemeindeordnung der britischen Zone ist einstweilen nur eine vorläufige Ordnung des Gemeindeverfassungsrechtes — man dar daher der Hoffnung Ausdruck geben, daß die bisher getroffenen Entscheidungen noch einmal berücksichtigt werden. Es soll ja erklärtermaßen nicht die Politik der Besatzungsmächte sein, ihre eigene Staats- und Verwaltungsform auf Deutschland zu übertragen, sondern vielmehr eigenständige Formen eines freiheitlichen und demokratischen Staatsaufbaus nicht die in einer langen Geschichte entwickelten bewundernswerten Züge des englischen Zweiparteiensystems, und man kann sie ihm nicht künstlich einpflanzen. Ich glaube, daß in der kommunalen Sphäre lokale Bürgerfraktionen auf der Grundlage rein sachlicher Arbeit an den begrenzten Aufgaben der Gemeinde und ohne das Dazwischentreten der ihrer Natur nach kommunalfremden Zentralparteien eine sehr viel engere und lebendigere Teilnahme aller Kreise der Bevölkerung an der Gemeindeverwaltung erzielen könnten.

Ich habe mit diesen wenigen Bemerkungen, die nur einige Grundfragen der kommunalen Selbstverwaltung flüchtig anrühren konnten, vor allem die Antinomie deutlich machen wollen, in die

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das Problem der Selbstverwaltung — im Kommunalrecht wie überhaupt — eingespannt ist: Die soziologische Struktur unserer Zeit drängt mit ungeheurer Wucht auf Zentralisierung, Bürokratisierung, weiträumige Großorganisation. Sie widerstrebt der Aufgliederung des sozialen Lebens in kleinere autonome Handlungseinheiten, die mit beschränkter bürokratischer Apparatur auskommen können und der natürliche Spontaneität und Initiative des einzelnen Raum geben. Dieser Sachlage gegenüber kommt es darauf an, einen Standpunkt zu gewinnen, der zwei einander entgegengesetzte Fehleinstellungen vermeidet, nämlich erstens: Wir dürfen uns mit den Zwangsläufigkeiten des modernen Massendaseins nicht in der Weise resigniert abfinden, daß wir jeden Widerstand gegen die ihm innewohnenden Entwicklungstendenzen aufgeben und die Selbstverwaltung als ein schönes, aber nicht mehr realisierbare Ideal opfern. Zweitens: Wir dürfen andererseits nicht in den Fehler verfallen, einem Idealbild genossenschaftlicher Selbstverwaltung zu huldigen, dem jede Grundlage in der sozialen Wirklichkeit mangelt und das daher nur zu einem verhängnisvollen Fehlschlag führen kann. Vielmehr müssen wir danach streben, Selbstverwaltung als ein Mittel zur Erhaltung und Entfaltung spontanen, verantwortungsbewußten Mithandelns und Mitdenkens jedes einzelnen im sozialen Ganzen an jenen Stellen und in solchen Grenzen zu verwirklichen, die durch den Rahmen der unvermeidlichen Großorganisation unseres Daseins gegeben sind. Nur eine solche Haltung vermag uns vor einem abermaligen Absturz in neue Abgründe totaler Staatsallmacht zu bewahren.

Lassen Sie mich das zum Schluß noch an einem letzten Beispiel deutlich machen. Man wird heute sagen müssen, daß die verantwortliche Teilnahme aller Bürger an der Mitbestimmung über das öffentliche Leben unvollkommenes Stückwerk bleibt, wenn sie sich auf den rein politischen Bereich beschränkt und nicht zugleich den Bereich der Wirtschaft umspannt.

Innerhalb der organisierten spätkapitalistischen Wirtschaft steht der überwiegende, wirtschaftlich abhängige und unselbständige Teil der Bevölkerung ohne jede Möglichkeit der Mitbestimmung und Mitverantwortung großen Trägern wirtschaftlicher Macht

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gegenüber, die sich auf Kapitalbesitz gründet und in den verschiedensten Formen zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ausgenützt wird. Gegen dieses Machtgefüge der Sozialordnung richtet sich der Protest des Sozialismus, der die Beseitigung der Kapitalherrschaft und die Beteiligung der sozial abhängigen Klassen an der Kontrolle der Wirtschaftsmacht durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel erstrebt.

Diese Forderung des Sozialismus begegnet in der Gegenwart einem Einwand, der seine Kraft aus den geschichtlichen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit schöpft. Verstaatlichung der Produktionsmittel, so wendet man ein, beseitigt zwar die Kapitalherrschaft, bedeutet aber für die arbeitenden und abhängigen Klassen nur, daß sie die Herrschaft des Kapitals mit einer anderen, vielleicht noch drückenderen Herrschaft vertauschen. Jede Verstaatlichung, so sagt Alfred Weber in seinem kürzlich veröffentlichten „frei-sozialistischen” Programm, „wirft neue Teile in den Rachen der bürokratischen Staatsmaschine, die sowieso die Tendenz hat, zur Zeit alles zu verschlingen und dabei wahre Freiheit zu ertöten. Der schaffende Mensch wechselt bei der Verstaatlichung nur den Herrn. Er mag dadurch gegen Konjunkturrückschläge mehr gesichert werden. Er wird nicht freier. Er wird vielmehr in seiner Freiheit nur bedrohter, da jede Verstärkung des verstaatlichten Rayons des Daseins die bürokratisierte Staatsmaschine näher an die Möglichkeit heranführt, ihn einmal vermöge eines Terrorregimes seiner Freiheit gänzlich zu berauben. Was das heißt, konnten wir in Deutschland lernen.” 31) Eine vom Staate zentral gesteuerte Planwirtschaft, so hat auch Franz Böhm neuerdings wieder mit größten Nachdruck erklärt, „ist das sichere und unvermeidliche Ende der Demokratie” 32). Ein moderner amerikanischer Soziologe, James Burnham, hat kurz vor Ausbruch des Krieges die soziale Dynamik unserer Zeit als „managerial revolution” gekennzeichnet, als Revolution der Manager, der Direktoren, Organisatoren, der technischen Leiter, der staatlichen und wirtschaftsbürokratischen Funktionäre, die in wachsendem


31) Alexander Mitscherlich und Alfred Weber, Freier Sozialismus. Heidelberg 1946, S. 75.
32) F. Böhm, Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung. SJZ. 1946. S. 145.

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Maße die Kapitalisten aus ihren Machtpositionen verdrängen 33). Die Macht wird damit aus einer Funktion des Kapitalbesitzes zur Funktion einer organisatorisch-technisch leitenden Stellung, die formell nicht auf eigenem Recht, sondern auf einem Anstellungsverhältnis beruht. Auf den Kommandohöhen der Wirtschaft taucht an Stelle des kapitalistischen Unternehmers ein andersartiger menschlicher Typus auf, der des Managers, des technischen Funktionärs. Burnham sieht diesen Wandel des führenden menschlichen Typus, der zugleich Ausdruck eines soziologischen Strukturwandels ist, in allen Teilen der Welt im Fortschreiten begriffen: in der Sowjet-Union sowohl wie in den faschistischen Ländern als auch in den Vereinigten Staaten.

Ich glaube, daß hier ganz entscheidende Fragen des Problems der Staatsallmacht in seiner heutigen Erscheinungsform angerührt sind, Fragen, die auf dem Hintergrunde jener Problematik gesehen werden müssen, die Friedrich Georg Jünger in seinem Buche über die „Perfektion der Technik” aufgeworfen hat und die noch einer sehr gründlichen Nachprüfung bedürfen. Richtig gesehen scheint mir jedenfalls, daß Staat und Wirtschaft heute in Gestalt dieser Organisatoren und Funktionäre von den Trägern der technischen ratio erobert werden, die in ihrem Wesen von der ratio des Staates und der Wirtschaft verschieden ist, weil sie weder auf das Gemeinwohl noch auf Rentabilität oder angemessene Bedarfsdeckung zielt, sondern vielmehr ausschließlich auf die Perfektion der technischen Mittel, so daß Staat und Wirtschaft von hier aus einer ganz neuartigen, ihrem innersten Wesen widersprechenden Zwecksetzung unterworfen werden. Nach Jüngers Ansicht führt diese Zwecksetzung weder zum Reichtum noch zu einer Verminderung des Arbeitsquantums der Menschen; die technische Rationalisierung scheint ihm nur die Folge eines Mangelzustandes und die Durchbildung der technischen Apparatur Ausdruck einer Notlage zu sein. Am Ende wird hier das Bild einer den Menschen in geistiger und materieller Armut versklavenden Technokratie sichtbar, die von den Idealen des Sozialismus und der Demokratie weiter entfernt ist als irgendeines der vergangenen politisch-sozialen Systeme.

Ob dieses Bild in allen seinen Prämissen richtig aufgebaut ist,


33) James Burnham, The Managerial Revolution. New York 1940.

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soll und kann hier nicht entschiedne werden. Daß aber das Phänomen einer den Menschen versklavenden Technokratie im Hinblick auf die Gestaltung unserer politisch-sozialen Lebensformen nicht ernst genug genommen werden kann, wird keiner weiteren Betonung bedürfen. Unser Blick hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten für diese Zusammenhänge geschärft — um so mehr werden wir die Einwände ernst nehmen müssen, die in kritischer Wachsamkeit gegen eine totale Verstaatlichung und zentrale Steuerung der Wirtschaft erhoben werden.

Alfred Weber hat in seinem Programm den Vorschlag gemacht, alle Betriebe von einer gewissen Größe, in denen die Kapitalkonzentration und die Organisationsentfaltung zu Monopolen oder monopolnahen Formen geführt hat und die daher als sozialisierungsreif angesehen werden müssen, einer Konzessionspflicht zu unterwerfen oder sie in öffentlich-rechtliche Korporationen zu verwandeln und ihnen bestimmte Kontrollbedingungen aufzuerlegen (im Hinblick auf Geschäftsgebarung im allgemeinen, auf eine Maximalgewinnspanne, auf Gewinnverwendung, Beteiligung der Arbeiter an Leitung und Gewinne des Unternehmens und anderes). Ich kann auf die Einzelheiten dieses Vorschlags hier nicht eingehen und möchte mich mit dem Weberschen Programm auch keineswegs in allen Punkten identifizieren. In diesen Punkte aber möchte ich ihm zustimmen: daß dort so Sozialisierung heute notwendig oder unvermeidlich ist, nicht die unmittelbare Verstaatlichung, sondern Rechtsformen wirtschaftlicher Selbstverwaltung der gegebene Weg einer solchen Sozialisierung sind.

Auch hier kommt es darauf an, weder einem wirklichkeitsfremden Idealbild nachzujagen noch vor den Zwangsläufigkeiten der wirtschaftlich-technischen Entwicklung zu kapitulieren. Die konkrete Gestalt einer solchen wirtschaftlichen Selbstverwaltung zu bestimmen, ist eine Aufgabe, die noch im vollen Umfang vor uns liegt. Wenn wir sie nicht lösen, so bleibt alles, was wir politisch zur Beteiligung jedes einzelnen an der Mitverantwortung für das Gemeinwesen tun, unvollkommen. Denn in dem Zeitalter, in dem wir leben, ist politische Freiheit ohne wirtschaftliche Freiheit eine Fiktion.

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Leitsätze

Als evangelische Juristen aus verschiedenen Berufen, die auf die Einladung der Württembergischen Landeskirche zu einer Tagung der Evangelischen Akademie in Bad Boll zusammengekommen sind, haben wir die folgenden Gedanken in gemeinsamen Gespräche herausgearbeitet:

1. In der Not unseres Gewissens und in der Ratlosigkeit unserer Zeit beugen wir uns unter Gottes Wort, wie es uns die Bibel Alten und Neuen Testamentes sagt.

2. Für unser persönliches Leben und für unser öffentliches Wirken müssen wir zurückfinden zum Ursprung der Gerechtigkeit, zu Gott, der allein gerecht ist. In seinem Wort sind uns grenzsetzende und richtungsgebende Weisungen gesagt, die keine Rechtsordnung ungestraft mißachten kann.

3. Der oberste Maßstab allen Rechts ist die Idee der Gerechtigkeit. Das Recht ist deshalb mehr als ein bloßes Mittel zur Erreichung politischer Zwecke und Ziele. Der Staat verdankt einen Teil seiner Würde der Aufgabe als Verkündiger und Wahrer richtigen Rechts.

4. Die unverletzliche Würde der Person sowie die ursprüngliche Gemeinschaftlichkeit der menschlichen Existenz ist in Gottes Schöpfung begründet. In ihr wurzeln auch die unabdingbaren Grundrechte zur Wahrung der persönlichen Freiheit gegen Willkür und Gewalt. Daraus leiten wir den Grundsatz der gebotenen Teilnahme aller an der verantwortlichen Mitbestimmung des öffentlichen Lebens ab.

5. Eine Rechtsordnung kann nur dann verbindliche Kraft entfalten, wenn sie nicht nur an Rechten und Pflichten, sondern auch an Gütern materieller und geistiger Art jedem das Seine gibt, wie Nächstenliebe es verlangt. Wir wollen dies heute besonders beachten im Blick auf alle wirtschaftlich Schwachen wie auf die Notleidenden, die durch Krieg und Kriegsfolgen Hab und Gut verloren haben und sich eine neue Existenz aufbauen müssen.

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6. Weil alles menschliche Recht auf die göttliche Gnade angewiesen ist, verliert auch das Strafgesetz nicht von seiner Kraft, wenn der Gedanke der Vergeltung im Recht nicht unbegrenzt waltet.

7. Wir können die Verantwortung, die uns als Juristen auferlegt ist, nur tragen, weil Gott die Verheißung seiner Gnade gegeben hat auch da, wo unsere menschliche Rechtssetzung unzulänglich, unsere Rechtsfindung irrtümlich und unsere Rechtsbefolgung mangelhaft ist.