Mezger, E.

Recht und Gnade

1948

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Recht und Gnade

von

Prof. Dr. Edmund Mezger

 

I

Alzo zunächst: Was ist Recht? Auf die bekannte Pilatusfrage nach dem Sein und Sinn der Wahrheit ebenso wie auf unsere Frage nach dem Sein und Sinn des Rechts werden wir immer wieder die beiden Antworten erhalten: das müde Achselzucken des Skeptikers, wo es denn im menschlichen Verhältnissen überhaupt noch Recht und Wahrheit gäbe, und das triumphierende Wort des Idealisten, daß Recht und Wahrheit die schönsten Blüten des Menschengeistes seien. Die Wissenschaft wird sich von beidem, der resignierenden Skepsis und dem allzu raschen Gefühlsausbruch, fern halten und in ihrem Teile still und nüchtern die Tatsachen des Lebens zu ergründen und ihnen gegenüber Klarheit zu gewinnen suchen.

Was also ist Recht? Eine Eigentümlichkeit der europäisch-kontinentalen Sprachen ist es, daß Worte wie Recht, droit, diritto, derecho, aber auch wohl schon das griechische δίκη und das lateinische ius, eine doppelte Bedeutung haben. Im Gegensatz dazu steht das griechische nómos und das englische law, die ausschließlich das positive, das gesetzliche Recht meinen. Der deutsche Ausdruck „Recht” umfaßt demgegenüber mehr: Er bezeichnet das positive und das ideale Recht. Er bewegt sich in zwei verschiedenen Gedankensphären.

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1. Zunächst bezeichnet „Recht” das positive, geltende, gesetzliche, wirkliche Recht, das Recht einer bestimmten gegebenen Rechtsordnung, wie es Ausfluß einer machtvollen Autorität, in der Regel des Staates, mitunter auch eines andern autonomen Verbandes, ist. Positives Recht ist das Recht, das „gilt”, das „ist”, nicht nur das Recht, das sein „soll”. Diese Geltung beruht auf Gesetz, Gewohnheit, Richterspruch, also auf einer Macht, die die Rechtsunterworfenen bindet. Nicht jede Macht ist als solche schon Recht; aber jedes positive Recht muß sich auf eine im Sozialen wirksame Macht gründen und stützen. Dadurch allein, daß sich etwas Recht nennt, „gilt” es noch nicht. Es ist noch kein „positives” Recht. Dazu bedarf es eines besonderen Positivitätsgrundes.

2. Das Wort „Recht” bezeichnet aber neben dem positiven auch das ideale Recht. Damit ist das Recht gemeint, wie es sein „soll”, auch wo es noch nicht Macht im menschlichen Zusammenleben ist. Es ist das „richtige” Recht, an das wir dabei denken. Das positive Recht kann richtiges Recht sein, aber es kann auch als unrichtige und als verbesserungsbedürftig empfunden werden. Dieses richtige, ideale Recht ist das Ziel alles Rechts und aller Rechtsgestaltung. In ihm ist das idealtypische Wesen des Rechts beschlossen.

Das Wesen des Rechts heißt Gerechtigkeit. Sie ist der ideale Hintergrund und der leitende Gedanke, die Zielsetzung und die Entelechie allen Rechts, auch des positiven Rechts. Die Gerechtigkeit in diesem Sinne ist ein absoluter Wert, ein „Wert an sich” in einem über der Wirklichkeit stehenden Recht der Werte. Damit bekennen wir uns zu einem objektiven Wertrealismus. Wir erkennen das Vorhandensein realer Gegebenheiten auch im idealen Reich des Nichtsinnlichen an. Wir lehnen damit grundsätzlich jeden historischen oder sonstwie gearteten Relativismus der Werte ab, nicht nur im Gebiete des Erkennens, sondern auch im Gebiete des ethischen und rechtlichen Handelns. Daß der Relativismus gegenüber dem erkennenden Denken unhaltbar ist und den, der ihn vertritt, in unmögliche Widersprüche verwickelt, wird meist zugegeben. Das gleiche muß aber auch für Ethik und Recht gelten. Man hat demgegenüber eingewendet, daß Recht und Gerechtigkeit nach Zeiten und Völkern so gar verschieden seien und daß es daher einen bleibenden allgemeinen Wert des Rechts

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nicht geben könne. Dieser Einwand ist hinfällig. Die menschlichen Wertungen des Rechts mögen wechseln und vergehen; sie sind bloße Versuche zum Richtigen, die Werte als solche gelten „an sich”. Nicht die Wertungen sind Voraussetzung der Werte, sondern die Werte sind Voraussetzung jeder Wertung, die überindividuelle Geltung beansprucht. In diesem Sinne ruht jedes Recht auf dem „Naturrecht”: daß es ein solches gibt, sollte nicht bezweifelt werden; nur ob und inwieweit sich solches Naturrecht dem positiven Recht gegenüber durchsetzen kann und durchsetzen soll, ob und inwieweit das „geltende” Recht beispielsweise durch gewisse unverzichtbare Forderungen des Naturrechts in seiner Geltung beschränkt wird (was unseres Erachtens nicht abzuweisen ist), kann fraglich und kontrovers sein. Ohne Anerkennung absoluter Wert ist jede Wertung und jede Verständigung über sie, ohne Anerkennung der Gerechtigkeit jedes Recht in menschlichen Verhältnissen und jede Verständigung über dieses Recht unmöglich. Der „Wert an sich” ist logische Voraussetzung für jedes Dasein, das etwas „wert” sein soll. Das bekannte Wort von Kant — Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben — gewinnt von dieser Seite her gesehen einen neuen Sinn. Mit alledem meinen wir mehr als einen bloßen „Glauben” an absolute Werte; denn diese gelten mit logischer Notwendigkeit für alles wertende Dasein. Diese „logische” Notwendigkeit bedeutet freilich noch keine „metaphysisches Sein” im strengen Sinne des Wortes; über dieses vermag die Wissenschaft ihrerseits nichts Endgültiges auszusagen, sie kann es nicht bejahen und nicht verneinen, sie muß die Frage dahingestellt sein lassen.

So ist also auch die Gerechtigkeit ein absoluter Wert. Gleichwohl ist es nicht leicht, ihren genauen Inhalt zu bestimmen. Werte werden nicht, wie die Dinge der Sinnenwelt, unmittelbar durch Wahrnehmung erkannt. Sie werden erkannt und im Leben verwirklicht durch „Gesinnung, Wille und Handlung”. So hat man auch über das Wesen der Gerechtigkeit viel gestritten. Immer wieder sind des freilich drei Merkmale, die sich als für sie kennzeichnend erweisen: objektive Sachlichkeit, stetige Gleichmäßigkeit und Ausrichtung am Gedanken der Persönlichkeit und der Gemeinschaft. Damit sind freilich nur

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gewisse formale Richtlinien gegeben, die in manchem erst ihren materialen Inhalt gewinnen müssen. Aber durch den Zusammenklang und das Zusammenwirken jener Richtlinien ist schon der „Rohbau” der Idee errichtet, der dem Ganzen den Halt geben und uns vor hoffnungslosem Relativismus bewahren kann. Es ist wie beim Schiffbrüchigen, den einige zusammengeraffte Balken über dem Wasser tragen und sein Versinken in die Tiefe hindern. Auch sind die mannigfachen historischen Verschiedenheiten in der Wertung, auf die man so oft verweist, häufig in Wahrheit nicht solche der Wertung, sondern eher Verschiedenheiten im Gegenstand, der von der Wertung erfaßt wird. So etwa bei der Frage nach einer „gerechten” Stellung der Frau im öffentlichen Leben, die sich vom augenblicklichen Stand der Entwicklung sachgemäß nicht trennen läßt.

Es ist kein Zweifel: Auch so bleibt die Idee der Gerechtigkeit nicht ohne innere Spannungen und Gegensätzlichkeiten, nicht ohne Antinomien des inneren Aufbaus. So soll die Gerechtigkeit dem Wohle der Menschheit dienen; und doch hat man den Satz geprägt vom „fiat justitia, pereat mundus”, vom Gelten der Gerechtigkeit, auch wenn die Welt dabei zu Grunde geht. Derartige innere, polare Spannungen ändern nichts am Wesen des Wertes und seinem Ansichsein. Ja sie sind im Grunde genommen notwendig und verbürgen allein eine lebensvolle Gestaltung. Wir stehen hier an einem für unser Thema wichtigen und grundsätzlichen Punkt der Axiologie, der Wertlehre in ihrer neuzeitlichen Form. Unter dem Eindruck einer formalen Ethik Kants und seines obersten kategorischen Imperativs hat man geglaubt, das Wesen aller ethischen Werte in einer eindeutigen Formel ausdrücken zu können und ausdrücken zu müssen, die in starr festgelegter Form keinerlei „Spielraum” beläßt. Wo dies nicht gelingt (und es wird niemals restlos gelingen), glaubte man im „Relativismus” versinken zu müssen. Eine apriorische materiale Ethik, wie wir sie hier zu Grunde legen, muß zu anderen Ergebnissen gelangen. „Polare Spannungen” im Innern der Werte heben ihr Dasein nicht auf, ja sie gehören zu ihrem Wesen und verlangen eine „Überwindung” im persönlichen Leben. Von „dialektischen” Lösungen im Hegelschen Sinne (denen beispielsweise auch Binder nahesteht) halten wir uns dabei fern; sie verschleiern den Sachverhalt und heben den

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Grundsatz der Identität oder des Widerspruchs, von dem sich kein logisch richtiges Denken entfernen darf, auf. Nicht im Denken, sondern in der Praxis des Lebens werden solche Gegensätze „überwunden”.

Mit dieser Einsicht in den polaren Aufbau der letzten Werte ist die Grundlage gegeben, das Verhältnis der Gerechtigkeit noch zu zwei Begriffen zu bestimmen, die für unser Thema von unmittelbarer Bedeutung sind: zu den Begriffen der „Rechtssicherheit” und der „Billigkeit”.

Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, so wünschenswert beide in menschlichen Verhältnissen sind, gehen nicht immer konform. Um der Rechtssicherheit willen muß das geltende Recht positives, autoritätsgestütztes Recht sein — nicht immer aber ist dieses positive Recht auch „gerechtes” Recht. Auch sonst zwingt oft die Rechtssicherheit im Einzelfalle der materiellen Gerechtigkeit Eintrag zu tun. So ist Rechtssicherheit Erfordernis und Bestandteil der Gerechtigkeit; aber zwischen beiden läßt sich ein polares Spannungsverhältnis nie ganz beseitigen. Aber es ist innerhalb des einheitlichen Begriffes sehr wohl tragbar.

Noch wichtiger für unser Thema ist das Verhältnis der Gerechtigkeit zur Billigkeit. Seit Aristoteles (Nikomachische Ethik V. 14) ist die Billigkeit der Gerechtigkeit gegenüber gestellt worden: einmal hat man in ihr die Aufhebung, ein andermal erst die wahre Erfüllung der Gerechtigkeit gesehen. Max Rümelin hat sich mit ihr in einer seiner Tübinger Kanzlerreden (1921) in der bekannten sorgfältigen und eindringlichen Art beschäftigt und ihre verschiedenen Bedeutungen und Gebrauchsformen einander gegenüber gestellt. Wir können auf Einzelheiten hier nicht näher eingehen, sind aber unsererseits der Meinung, daß zwischen recht und billig, zwischen Gerechtigkeit und Billigkeit kein durchgreifender Unterschied besteht, daß es vielmehr neben der generellen und abstrakten auch eine individuelle und konkrete Gerechtigkeit, eben die „Billigkeit” im Einzelfalle gibt und geben muß. Es ist vielleicht gerade für das deutsche Gerechtigkeitsempfinden kennzeichnend, daß es immer wieder zu solcher gerechten Würdigung des Einzelfalles drängt, während etwa das romanische Rechtsdenken schon durch eine nur mehr äußerliche und abstrakte Gleichförmigkeit befriedigt wird. Auch die „Billigkeit” liegt — trotz

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unleugbar vorhandener „Spannungen” — noch innerhalb des Begriffs der Gerechtigkeit.

Einige Folgerungen aus dem Gesagten, von denen sich Ausblicke auf das theologische Gebiet eröffnen, mögen hier mit einigen Worten noch angedeutet werden. Mit Röm. 2, 14-15 anerkennen wir eine „natürliche”, in ihren Grundzügen feststehende Gerechtigkeit in menschlichen Verhältnissen als einen richtungweisenden, dem Menschen erkennbaren Wert, der als „göttlicher Funken” in der Vernunft des Menschen lebt und in seinen Grundlagen rational erfaßt werden kann. Es ist nicht so, daß die natürliche Vernunft in einen rettungslosen „Relativismus” versinken müßte. Freilich: „Vollendet” ist diese Gerechtigkeit in menschlichen Verhältnissen auch beim besten Streben nicht, sie ist nur ein Rohbau und läßt weiteren materialen Wertungen Spielraum. So auch und insbesondere solchen im Sinne der christlichen Ethik. Dabei ist das gegenseitige Verhältnis nicht so zu denken, daß die natürliche Gerechtigkeit sozusagen den Unterbau darstellte und über ihr sich eine höhere materiale Gerechtigkeit als Pyramide erhöbe. Vielmehr durchdringen sich die verschiedenartigen Gesichtspunkte überall zu einem einheitlichen lebensvollen Bilde.

 

II

Und nun zum zweiten: Was ist Gnade? Wiederum ist auch sie zweierlei: eine Einrichtung des positiven Rechts und ein idealtypischer Begriff im Reiche der Werte.

1. Gnade, deutlicher: Begnadigung, ist zunächst für den Juristen eine Institution des geltenden Rechts. Ihr Inhalt umfaßt die Befugnis, rechtskräftig erkannte Strafen zu erlassen, zu ermäßigen, umzuwandeln und auszusetzen, und die Befugnis, vor rechtskräftiger Entscheidung anzuordnen, daß von der Strafverfolgung abgesehen, das Verfahren „niedergeschlagen” werde (§ 3 der Deutschen Gnadenordnung vom 6. Februar 1935). Wir kennen also Begnadigung nach rechtskräftiger Verurteilung, sei es als Einzelbegnadigung oder als sogenannte Amnestie in einer Vielheit von Fällen, aber auch solche vor Verurteilung als Niederschlagung des Strafverfahrens, wiederum entweder in der Form der Einzelabolition oder der Abolition für eine Vielheit von

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Fällen. Besondere Beachtung verdient das Institut der bedingten Begnadigung (§§ 20 ff.). Bei ihr sind die Gnadenbehörden befugt, die Vollstreckung rechtskräftig erkannter Freiheitsstrafen ganz oder teilweise unter Bewilligung einer Bewährungsfrist auszusetzen und nach guten Führung während der Frist die Strafe zu erlassen. Namentlich im Jugendstrafrecht bildet nach §§ 58, 59 RJGG. 1943 bei bestimmter und unbestimmter Verurteilung solche Aussetzung oder Entlassung auf Probe ein wichtiges Mittel erzieherischer Einwirkung auf den Verurteilten.

Die Zuständigkeit in Gnadensachen richtet sich nach der jeweiligen besonderen staatlichen Struktur des Gemeinwesens. Im Bismarckschen Reich (Art. 17 RVf.) war das Begnadigungsrecht zwischen Reich und Einzelstaaten geteilt; der Schwerpunkt lag bei letzteren, die Begnadigung war Regierungshandlung mit dem Erfordernis der Gegenzeichnung. Die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 erwähnte die Begnadigung und Amnestie in Art. 49. In der Deutschen Gnadenordnung vom 6. Februar 1935 ist die Ausübung des Gnadenrechts in besonders wichtigen und schweren Fällen — bei Todesstrafen, in Hoch- und Landesverratssachen, bei besonderem Vorbehalt, in allen Fällen der Niederschlagung und anderem — der höchsten Stelle vorbehalten, während sonst in den zur Zuständigkeit der Gerichte gehörigen Sachen grundsätzlich der Reichsminister der Justiz zuständig sein sollte. In der Literatur ist dabei häufig das Verhältnis des Begnadigungsrechts zum Grundsatz der Gewaltenteilung erörtert worden (Grewe, S. 32-38). Man hat in dem Begnadigungsrecht teilweise einen Ausfluß des Gesetzgebungsrechts, teilweise einen Bestandteil der Richterspruchs, teilweise einen Akt der vollziehenden Gewalt sehen wollen. Alle diese Auffassungen befriedigen nicht: Die Annahme eines Gesetzgebungsaktes würde zwar nicht daran scheitern, daß dem Begnadigungsakt generelle Bedeutung fehlt, denn es gibt auch Gesetze individuellen Inhalts; aber es entspräche nicht den tatsächlichen Verhältnissen, in jedem einzelnen Eingreifen der Gnade einen förmlichen Gesetzgebungsakt zu erblicken. Ein Bestandteil des Richterspruchs ist die Gnade gleichfalls nicht; denn sie tritt gerade of in einen Widerspruch zu jenem. Ebensowenig ist sie ein Akt der Exekutive; denn sie bedeutet auch insoweit öfter einen Gegensatz zum generellen Gesetz, als daß sie dessen

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Ausführung wäre. Alle diese Theorien übersehen, daß die Lehre von der Gewaltenteilung zwar ein politisches Programm, aber kein unverbrüchlich geltender Lehrsatz ist. Im Begnadigungsrecht kehrt die staatliche Gewalt wieder zu ihrem ungeteilten Ursprung zurück. Das Gnadenrecht ist, wie es Laband zutreffend bestimmt hat, der Ausdruck eines „ius eminens” des Staates.

Wir haben bisher nur die Begnadigung auf strafrechtlichem Gebiete berücksichtigt. Aber auch außerhalb des strafrechtlichen Gebiets kann der Gedanke der Begnadigung Bedeutung erlangen. So wird in diesem Sinne etwa die In integrum restitutio, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, im römischen Recht genannt (Stammler, S. 318, Anm. 2), und so hat man im einzelnen das Gnadenrecht in Finanzsachen näher behandelt (Laband 1892 bei Grewe, S. 132). Auch an die Gnadenerweise im Beamtenrecht gegenüber erfolgten Amts- und Ruhegehalsverlust läßt sich denken (Gnadenordnung von 1935, § 1 Abs. 3 Nr. 7). Der Schwerpunkt der Gnade liegt aber unbestreitbar auf strafrechtlichem Gebiet. Wir beschränken uns im folgenden auf dieses, da an ihm alle wesentlichen Gesichtspunkte zur Darstellung gelangen.

Die geschichtliche Entwicklung dieses Gnadenrechts, auf die wir hier noch mit einigen Worten eingehen wollen, bietet viel kulturwissenschaftliches Interesse. Grewe hat in seinem sehr lesenswerten Buche vom Jahre 1936 sich mit ihr beschäftigt und dabei auch bisher vernachlässigte Gebiete, wie die hellenistische Rechts- und Geisteswelt und die theologischen Parallelen, gebührend berücksichtigt. Früheren Zeiten scheint — von der Äußerungsformen des „magischen” Denkens (wo die Gottheit die Opferung ablehnt, soll sie nicht mehr vollzogen werden, so wenn die Hinrichtung mißlingt, der Verurteilte einer Vestalin begegnet und so fort) und von politischen Amnestien abgesehen — ein förmliches Begnadigungsrecht fremd gewesen zu sein. So der griechischen Polis, der römischen Republik, dem Wesen der alttestamentlichen Gerechtigkeit. Die Begnadigung entwickelt sich demgegenüber in ausgedehnterem Maße erst im späteren Griechentum in der Philanthropie des hellenistischen Großkönigs, insbesondere in der Herrschaftsideologie des ägyptischen Ptolemäerreichs, in der wohlwollenden und milden Gesinnung des göttlichen

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Herrschers, dessen Wille Gesetz ist. In den Papyri bedeuten Philantropa die Gnadenerlasse, meist Abolitionen und Amnestien, weniger Einzelbegnadigungen. Im römischen Kaiserreich spielt die Clementia und die Indulgentia Caesaris eine ähnliche Rolle. Beziehungen zum Hellenismus weist auch die christlich-theologische Gnadenlehre auf; im Brief des Paulus an Titus 3, 4 findet sich das Wort „Philanthropia” („humanitas” in der Vulgata, „Leutseligkeit” bei Luther) und leitet eine Schilderung der Barmherzigkeit und Gnade Gottes ein. Indulgentia peccatorum bezeichnet später allgemein die Vergebung der Sünden, dann auch in der weiteren Entwicklung den Ablaß, dessen Geschichte für das Verständnis des Gnadenrechts Wichtiges bietet. Endlich bestehen Verbindungslinien zur „Hulde” des germanischen Gefolgschaftswesens, als Band besonderer vertraulicher Herablassung des Herrn zu seinen Mannen. Auf dieser Grundlage entsteht das Gnadenrecht der fränkischen Zeit und des christlichen Mittelalters. Hier finden wir auch Verschiebungen der Gnade in den Richterspruch im „Richten nach Gnade” sowie bedenkliche Ausnützung des Gnadenrechts zu finanzieller Ausbeutung.

Ein völliger Szenenwechsel setzt in Theorie und Praxis im Gnadenwesen mit den Zeiten des Naturrechts und der Aufklärung im sechszehnten bis achtzehnten Jahrhundert ein. Die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts bekämpft das Begnadigungsrecht prinzipiell. Dies beruht auf dem rationalistischen Glauben an die Möglichkeit einer vollkommenen, für jeden Einzelfall gerechten Lösung durch gesetzliche Kodifikation und durch allgemeine Rechtssätze. Die Gnade erscheint als ein unzulässiger Eingriff in dieses Recht. So kritisieren vor allem die naturrechtlichen Strafrechtslehrer des achtzehnten Jahrhunderts in Italien, voran Beccaria, grundsätzlich jedes Gnadenrecht. Aber auch Kant nennt in seiner „Rechtslehre” von 1797, § 49 Anm. E II das Begnadigungsrecht „das schlüpfrigste” unter allen Rechten des Souveräns, „um den Glanz seiner Hoheit zu beweisen und dadurch doch in hohem Grade ungerecht zu sein”. Die Französische Revolution zieht hieraus die letzten Konsequenzen: Ein königliches Begnadigungsrecht erhebt den König über die Gesetze und vereitelt dadurch die ihm zugedachte Bindung an das Gesetz (Nationalversammlung von 1791). Deshalb muß es fallen. Aber auch die Nation kann das

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Begnadigungsrecht nicht ausüben, denn die Volonté générale vermag nur Regeln generellen Charakters auszusprechen. So wird am 4. Juni 1791 die Abschaffung aller Gnadenbefugnisse beschlossen. Diese grundsätzliche Feindschaft gegen alle „Gnade” beruht auf dem Glauben an das „Gesetz” als generelle Regelung; sie übersieht aber die Doppelbedeutung des Wortes Gesetz und die Möglichkeit von leges speciales, Gesetzen objektiver Art für den Einzelfall. Auf die Entwicklung der Folgezeit im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert kommen wir später zurück.

2. Gnade, wie Recht, ist aber nicht nur Institut des geltenden Rechts. Auch sie hat ihre besondere idealtypische Gestalt im Reiche der Werte. Von dort her bestimmt sich ihr Wesen.

Das Wesen der Gnade heißt nicht Gerechtigkeit, sondern Milde. „La grâce est une mesure de clémence” (Donnedieu de Vabres, 1943). Strafe ist ein Übel, nicht nur für dem, den sie trifft, auch für den, der sie verhängt und vollzieht. Die Gnade aber, nach Shakespeares Wort im „Kaufmann von Venedig” (IV, 1), „segnet den, der gibt, und den, der nimmt”. Sie ist Menschenfreundlichkeit, Humanität. Die Gnade kann im Einzelfall der Gerechtigkeit dienen, indem sie etwa ein „ungerechtes” Urteil aufhebt. Aber sie wurzelt nicht in solchen Erwägungen der Gerechtigkeit. Ihr Wesen ist in anderen Regionen der Wertwelt begründet. Sie ist freies Schenken, nicht an die starren und harten Regelns des Rechts gebunden. „Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang” (Kaufmann von Venedig). Ein Hinweis auf die Gnade, die Charis, die gratia im religiösen und theologischen Bereich, etwa des Römerbriefs, läßt dieses „Unverdiente” der Gnade ohne weiteres anschaulich und deutlich werden. Die „gnädige” Gesinnung, das Sichherabneigen der Götter und Menschen zum Begnadigten ist etwas anderes als die Übung der Gerechtigkeit. Dabei muß uns das Verhältnis der Gnade zur Billigkeit und zur Nächstenliebe noch näher beschäftigen.

Die Billigkeit ist uns schon beim Recht begegnet. Auch die Gnade ist ihr nahe verwandt. Insbesondere in der praktischen Tätigkeit der Begnadigung dient ihr die Gnade recht oft. Hier tritt die Gnade unmittelbar in den Dienst des Rechts. Ob sie sich darin erschöpft, werden wir gleich anschließend näher prüfen.

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Auch die Nächstenliebe berührt sich aufs engste mit der Gnade. Als identisch mit der Gnade werden wir auch sie nicht bezeichnen können. Denn „Gnade” kann auch aus Zweckmäßigkeitsgründen oder aus politischen Erwägungen gewährt werden. Aber „echte” Gnade hat immer etwas von Menschenliebe in sich. Sie ist ihr ein wesentliches Merkmal und begründet ihr Wesen 1).

 

III

Damit kommen wir zum dritten und letzten Teil: Wie verhalten sich Recht und Gnade zu einander?

1. Wir nehmen noch einmal den Faden der geschichtlichen Entwicklung auf, und zwar an der Stelle, an der wir ihn fallen gelassen haben. Im Verlaufe des neunzehnten Jahrhunderts tritt uns ein eigentümlicher und scharf betonter Gegensatz der Meinungen und Ansichten über Wesen und Aufgaben der Gnade im Verhältnis zum Recht entgegen.

In Frankreich war schon durch Senatsconsult vom 16. Thermidor des Jahres X das souveräne Begnadigungsrecht wieder eingeführt worden. Art. 86 bestimmt: „Le Premier Consul a le droit de faire grâce.” Mehr und mehr stellt dann die Rechtsentwicklung des neunzehnten Jahrhunderts die Begnadigung in den Dienst humanitärer Bestrebungen im Strafrecht. Sie führt zur Gleichsetzung der Gnade mit der Billigkeit. Dieser „Ausgleichsbegnadigung” tritt die „Bewährungsbegnadigung” zur Seite, bei der „das In-Aussicht-Stellen der Begnadigung benutzt wird, um dadurch eine soziale Besserung des Verurteilten herbeizuführen”. Damit wird immer stärker die unmittelbare Begründung der Gnade in der Rechtsidee betont. Nach Iherings vielzitiertem Wort wird die Gnade zum „Sicherheitsventil des Rechts” als ein Institut des Rechts, nicht als etwas Rechtsfremdes.

Dem steht aber eine an Hegel orientierte Auffassung gegensätzlich gegenüber. Ihr ist das Begnadigungsrecht, das aus der Souveränität des Monarchen fließt, „eine der höchsten Anerkennungen


1) Von der „Nächstenliebe”, der ἀγάπη der Evangelien, handelt eingehend Nic. Hartmann, S. 408-418. Auch in der Psychopathologie gewinnt die „Agape” (an Stelle des zu vieldeutigen Ausdrucks „Liebe”) Beachtung; siehe hierüber Schröder-Heinze, „Kindliche Charaktere und ihre Abartigkeiten” (1931), S. 29, I.

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der Majestät des Geistes” und „gehört zu den Anwendungen oder Reflexen der Bestimmungen einer höheren Sphäre auf eine vorhergehende” (Hegel, Rechtsphilosophie, 1821, § 282). „Die Sphäre der Gnade, wo jene Umstände als Milderungsgründe der Strafe in Betracht kommen, ist eine andere als die des Rechts (§ 132).

2. Auch in den Darstellungen der Rechtsphilosophie im zwanzigsten Jahrhundert tritt dieser Widerstreit sehr deutlich hervor. Er wird nicht gemildert, sondern äußert sich in voller Schärfe. Wir wollen dies einerseits bei Binder und Stammler und andererseits bei Radbruch aufzeigen.

Binder bekennt sich eindeutig zur Unterordnung der Gnade unter das Recht. Das Begnadigungsrecht kann nach ihm gar nicht anders als aus der Rechtsidee selbst begründet werden und ist nur insofern gerechtfertigt, als es im Dienste dieser Idee selbst steht. Die Begnadigung darf also nicht erfolgen aus Gründen des Mitleids oder der Liebe um irgendwelcher empirischer Zwecke willen, sondern nur zur Herstellung des richtig verstandenen Rechts, zur Erhärtung der Rechtsidee, wenn diese selbst nämlich durch die Strenge des Gesetzes oder die Härte des Richterspruchs im einzelnen Falle bedroht erscheint. Vor allem sei es, meint er, verwerflich, das Begnadigungsrecht des souveränen Staates oder des Herrschers im Staate zu politischen Zwecken zu verwenden, wie etwa zur schöneren Dekoration von Fürstenjubiläen, obwohl es hier immer noch als Ausdruck und Bewährung der Herrlichkeit des Staates, seiner souveränen Macht erscheint, oder gar zu Zwecken der politischen Agitation oder als politisches Kampfmittel, wie das in Zeiten sinkenden Staatsbewußtseins vorzukommen pflegt. Immerhin könnten sich bei der Frage der Begnadigung im einzelnen Falle auch solche Nebengesichtspunkte geltend machen; aber sie können niemals das eigentlich Maßgebende sein, sie können selbst wieder nur unter dem leitenden Gesichtspunkt der Idee stehen und dürfen daher berücksichtigt werden nur, insofern dies mit der Idee des Rechts, insbesondere mit der Idee der Strafe vereinbar ist. Die Begnadigung, so heißt es abschließend, sei ein Rechtsinstitut nur, insofern sie um der Rechtsidee willen besteht.

Auch bei Stammler herrscht der gleiche Gedanke. Die Gnade sei ein Mittel, um in einer gegebenen Lage richtiges Recht

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zu erhalten. Dieser notwendige Gedanke verberge sich, wenn man die Gnade aus Liebe, wohl auch Wohlwollen oder Güte oder aus Staatsklugheit und Politik eintreten lassen will. Demgemäß könne sich die Gnade nach zwei Richtungen hin bewähren: einmal wegen Unsicherheit nach gesetztem Rechte. Dies treffe zu bei nicht genügender Klarstellung des abgeurteilten Tatbestandes; vielleicht aber auch bei einer Unsicherheit über den wirklichen Sinn rechtlicher Normen, die in einem zweifelhaften Falle zur Anwendung gebracht worden sind. Sodann zur Berichtigung von gesetztem Rechte. Hier habe die Gnade einzusetzen, wenn die starren Folgen eines zwingend anordnenden Rechtes zu einem unrichtigen Ergebnisse in Einzelfälle führen. Es sei aber auch möglich, daß eine Begnadigung zur Berichtigung von Rechtsfolgen angezeigt ist, die damals wohl begründet waren, jetzt aber durch Änderung der unterliegenden Zustände es nicht mehr sind, zum Beispiel persönliche Wandlung des Verbrechers, Wechsel in politischen Verhältnissen.

Einen grundsätzlich anderen Standpunkt vertritt Radbruch. „Die Rechtseinrichtung der Gnade”, so heißt es bei ihm, „bedeutet die unverhohlene Anerkennung der Fragwürdigkeit alles Rechts, jener Spannungsverhältnisse innerhalb der Rechtsidee sowohl wie der Konfliktsmöglichkeiten zwischen der Rechtsidee und anderen Ideen, wie der ethischen und der religiösen”. Zwar: Auch wer das Gnadenrecht handhabt, sei bemüht, es nicht nach Willkür, sondern nach Richtlinien zu handhaben. Auch die Gnade strebe nach Allgemeingültigkeit der ihr zu Grunde liegenden Maximen; und aus Maximen, nach denen das Begnadigungsrecht gehandhabt wurde, seien in der Rechtsgeschichte wiederholt neue Rechtssätze hervorgegangen, schon aus dem mittelalterlichen „Richten nach Gnade” und in neuester Zeit aus der bedingten Begnadigung. Aber sobald Richtlinien der Gnade die Form gesetzgebungsreifer Normen angenommen haben, höre, streng genommen, die Kompetenz der Gnade auf. Aber: Die Gnade erschöpfe sich überhaupt nicht darin, Rechtseinrichtung zu sein. Den deutschen Rechtssprichwörtern, welche die Gnade als ein besseres Reich kennzeichnen, treten andere gegenüber, die die Gnade „besser denn Recht” nennen. Die Gnade habe sich nie darauf beschränkt, Spannungen innerhalb des Rechts auszugleichen, sie bedeute vielmehr die Anerkennung der

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Tatsache, daß diese Welt nicht allein eine Welt des Rechts ist, daß es neben dem Recht noch andere Werte gibt und daß es nötig werden kann, diesen Werten gegen das Recht zur Geltung zu verhelfen. Wenn etwa freudige vaterländische Ereignisse Anlaß zu Begnadigungen geben, so sei solche Begnadigung nicht mehr auf Rechtswerte zu gründen. Abschließend wird gesagt: Die Gnade bedeute nicht bloß eine mildere Form des Rechts, sondern des leuchtenden Strahl, der in den Bereich des Rechts aus einer völlig rechtsfremden Welt einbricht und die kühle Düsternis der Rechtswelt erst recht sichtbar macht. Wie das Wunder die Gesetze der physischen Welt durchbricht, so sei sie das gesetzlose Wunder innerhalb der juristischen Gesetzeswelt. In der Gnade ragen rechtsfremde Wertgebiete mitten in die Rechtswelt hinein, religiöse Barmherzigkeitswerte, ethische Duldsamkeitswerte. In der Gnade mache gegenüber dem allumfassenden Rationalisierungsanspruch des Rechts sogar der holde Zufall seinen Anspruch geltend. Die Gnade erschöpfe sich also nicht darin, Sicherheitsventil des Rechtes zu sein. „Sie ist ein Symbol, daß es in der Welt Werte gibt, die aus tieferen Quellen gespeist werden und zu höheren Höhen aufgipfeln als das Recht.”

3. Wir müssen uns entscheiden. Scharf und klar steht die Frage vor uns: ob die Gnade, aus dem Rechte geboren, mit dem Rechte geht; oder ob sie, aus anderen Sphäre entsprungen, umgekehrt dem Rechte entgegen steht.

Wollen wir nicht den Boden des praktischen Lebens unter den Füßen verlieren, so dürfen wir, zumal als Juristen, bei der Beantwortung unserer Frage die tatsächliche Gnadenpraxis nicht übergehen. Dann aber ist die Antwort fürs erste nicht zweifelhaft: Die Begnadigung ist nicht nur eine Einrichtung des geltenden Rechts, sondern sie dient auch dem Recht, sei es, daß sie ungerechte oder auch nur ungeschickte Urteile der Gerichte mildert und richtigstellt; sei es, daß sie, etwa als bedingte Begnadigung, die Weiterbildung des Rechts selbst fördert. Insbesondere ist sie ein wichtiges Hilfsmittel, der „Billigkeit” im Recht zum Durchbruch zu verhelfen.

Aber wir dürfen die Gnade nicht nur in diesem positivrechtlichen Sinne verstehen, wir müssen sie auch nach ihrem idealtypischen Wesen betrachten. Auch hier fehlt es nicht an

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Beziehungen zum Recht. Aber ihrem Wesen nach ist sie etwas anderes als Recht. Πλήρωμα οὒν νόμου ἡ ἀγάπη. „So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung” (Röm. 13, 10) — das Wort des Apostels Paulus zeigt, daß Recht und Gesetz nicht das letzte im Leben sind, daß über ihnen noch ein Höheres, die „Liebe”, die Agape, steht. Sie ist etwas „anderes” als Recht und Gesetz. Wir haben schon am Ende des zweiten Teiles festgestellt: Die eigentliche Wurzel der Gnade liegt in der Agape, der Nächstenliebe. Gnade und Nächstenliebe sind in diesem Sinne untrennbar miteinander verbunden. Nächstenliebe und Gerechtigkeit aber decken sich nicht. Bei ihnen handelt es sich nicht mehr um ein polares Spannungsverhältnis innerhalb desselben Rahmens, wie etwa zwischen Gerechtigkeit und Billigkeit. Bei ihnen handelt es sich vielmehr um einen Gegensatz, der den Rahmen eines einheitlichen Begriffes sprengt. Gerechtigkeit und Nächstenliebe (und mit dieser die Gnade) sind verschiedene und getrennte Werte. „Gerechtigkeit kann sehr lieblos sein, Nächstenliebe sehr ungerecht”, sagt Nic. Hartmann (S. 411/12). Die Verschiedenheit ist eine wurzelhafte, eine prinzipielle. Das Verhältnis der beiden Werte ist antinomisch; beide können miteinander in einen offenen Konflikt treten. Auch Nächstenliebe kann „züchtigen” und, wie die Gerechtigkeit, einem wehe tun; hierin allein wird der Gegensatz noch nicht offenbar. Aber gleichwohl bleibt die wesenhafte Verschiedenheit: Die Gerechtigkeit bindet Oberfläche an Oberfläche, die Nächstenliebe aber bindet direkt Inneres an Inneres der Person (Nic. Hartmann).

Hier können und dürfen wir nichts verschleiern: Recht und Gnade sind unter idealtypischen Gesichtspunkten nicht überall und nicht immer dasselbe, sie helfen sich mitunter, sie können aber auch in einen scharf betonten Gegensatz zu einander treten. Es geht auch nicht an, wie dies Binder und Stammler tun wollen, die Gnade aus dem Rechtsleben zu verbannen, soweit sie sich nicht der Rechtsidee unterordnet. Damit würden wir das Leben um wichtige Werte verkürzen. Wir müssen vielmehr mit aller Offenheit aussprechen: Hier bricht immer wieder in das Recht eine rechtsfremde Macht aus einer andern Sphäre der Werte ein. Wir können auch nicht wünschen, daß dies anders werden möge; der Reichtum des Lebens fügt sich nicht eindeutig

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einem Wert. Wir stellen also fest, daß Recht und Gnade, wenn wir sie nicht nur positivrechtlich, sondern auch idealtypisch betrachten, zwar in vielem miteinander gehen, aber ebenso oft auch gegeneinander stehen.

Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit. Leicht beieinander wohnen die Gedanken. Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen” (Schiller, Wallensteins Tod, II. 2). Im theoretischen Gebiet, im Gebiet der leicht beieinander wohnenden Gedanken, mögen wir uns bei dem eben gewonnen Ergebnis beruhigen, daß Recht und Gnade sich teilweise ergänzen, teilweise aber gegensätzlich einander gegenüber treten. Wer aber praktisch, im harten Raume der Wirklichkeit, mit der Gnade im Rechtsleben zu tun hat — der Souverän selbst, das Ministerium, aber auch der Staatsanwalt und das Gericht, die ein Gnadengesuch zu begutachten, der der Verteidiger, der es zu entwerfen hat — sie alle stehen im konkreten Falle nur zu oft nicht vor einem bequemen „Sowohl-als-auch”, sondern vor einem harten und unausweichlichen „Entweder-Oder”. Sie müssen den sich ergebenden „Konflikt” irgendwie lösen, sie müssen eine Entscheidung treffen, sie müssen sich klar werden, ob sie im vorliegenden Falle dem Recht oder der Gnade den Vorzug geben wollen und geben können. Denn um einen echten „Konflikt” handelt es sich hier.

Wertkonflikte sind nichts Außergewöhnliches im ethischen Leben. Sie können in den Werten selbst begründet sein, wie wir dies im Vergleich von Nächstenliebe und Gerechtigkeit gesehen haben — sie können sich aber jederzeit auch aus der konkreten Lebenssituation ergeben. Daß die Werte selbst in „Konflikt” miteinander geraten können, steht nicht im Widerspruch mit der von uns zu Grunde gelegten absoluten Natur der Werte. Denn daß es „Werte an sich” gibt, schließt nicht aus, daß diese unter sich in „Konkurrenz” treten (genau so, wie dies unsere Wertungen, zum Beispiel im Gebiete des Strafrechts, tun), und bedeutet nicht, daß es unter ihnen eine ein für allemal feststehende Hierarchie geben müßte 1). Jedenfalls steht fest, daß wir diese Hierarchie nicht abschließend erkennen und feststellen können


1) Gegen solche auch Binder S. 794. Über das „Problem des obersten Wertes” siehe im übrigen Nic. Hartmann, S. 261-267.

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und daß wir daher im praktischen Leben jederzeit mit derartigen Wertkonflikten rechnen müssen, die nicht durch einfache Bezugnahme auf einen „höchsten Wert” gelöst zu werden vermögen. Immer kann die konkrete Lebenssituation schon „Konflikte” ergeben. Hier aber, zwischen Recht und Gnade, zwischen Gerechtigkeit und Menschenliebe handelt es sich zugleich um einen echten Wertkonflikt im Reiche der Werte selbst. Wir müssen so oder so zur Entscheidung gelangen.

Von den „Konflikten” auf ethischem Gebiet ist in der wissenschaftlichen Ethik die rede und mit ihnen beschäftigt sich die Praxis des Lebens selbst. Wissenschaftliche Ethik und Lebenspraxis lehren uns eindeutig, daß die Entscheidung solcher Konflikte immer nur in der Tiefe der Persönlichkeit getroffen werden kann. „Der Mensch kann gar nicht anders als von Fall zu Fall Entscheidung treffen.” „Was der Mensch tun soll, wo er vor den ernsten, verantwortungsvollen Konflikt gestellt ist, ist eben dies: nach ,bestem Gewissen’ entscheiden, das heißt nach seinem eigenen lebendigen Gefühlt der Werthöhe entscheiden, und die Folgen auf sich nehmen, die äußeren wie die inneren, einschließlich der Schuld, die in der Verletzung des einen Wertes liegt. Die Schuld soll er tragen und in seiner Tragfähigkeit mit ihr wachsen, so daß er sie mit Stolz tragen kann.” „Denn das eben liegt im Wesen solcher sittlichen Konflikte, daß in ihnen Wert gegen Wert steht und daß es nicht möglich ist, aus ihnen hervorzugehen, ohne schuldig zu werden.” Wir vermögen diesen Worten von Nic. Hartmann (S. 270. 421/22) nichts Wesentliches hinzusetzen und können ihr verantwortungsschweres Gewicht für den einzelnen handelnden Menschen in der konkreten Konfliktslage nicht mildern. Wir stehen hier an der Grenze, bis zu welcher Erwägungen allgemeiner Art führen können. An ihr endet der „theoretische” Bereich mit seinen Rationalisierungsmöglichkeiten und wird von der unmittelbaren Lebenspraxis abgelöst.

Wir können dieser Lebenspraxis jedoch gewisse Richtlinien mit auf den Weg geben, indem wir das Problem von Recht und Gnade in einen weiteren, umfassenderen Zusammenhang stellen. Recht und Gnade haben einen gemeinsamen Feind: die Macht und Gewalt, die sich weder um Recht noch um Gnade kümmern.

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Ihnen tritt das „Recht” mit seinen klaren und einfachen Linien hemmend und ausgleichend entgegen und erweist sich als Freund nicht nur das Mächtigen, sondern auch des Schwachen. Ihnen tritt auch die „Gnade” als Herabneigung des Mächtigen zur Menschenliebe und Güte entgegen und mildert jene Gewalt. Soll ihr dabei nicht ohne weiters der Vorzug vor dem Recht gebühren, da sie nicht nur äußerlich, sondern auch der Gesinnung nach der schrankenlosen und brutalen Gewalt entgegen ist? Man ist versucht, diese Frage zu bejahen und damit den Streit zwischen Recht und Gnade in Konfliktsfällen eindeutig zu Gunsten der „Gnade” zu entscheiden. Gerade „christliche” Gedanken scheinen diesen Vorrang der „Liebe” vor bloßer Gerechtigkeit nahezulegen. Aber wer so denk, der übersieht einen wichtigen Punkt. Die Gnade hat einen gefährlichen Nachbar: Er heißt Willkür. Im Hinblick auf sie hat schon die geschichtliche Folge immer wieder im politischen Kampf gegen die Gnade Stellung genommen, und auch in der Behandlung des einzelnen Falles machen sich entsprechende Gesichtspunkte geltend. Ein schrankenloses Walten der Gnade muß zur Willkür werden und führt damit zurück zum Ausgangspunkt: zur Macht und Gewalt. Hier schließt sich der Kreis von Macht, Gewalt, Recht, Gnade und Willkür: Wir können nicht nach Belieben und ohne Halt auf ihm dahingleiten. Sonst verfallen wir rettungslos den feindlichen Mächten.

Recht und Gerechtigkeit mit ihrer strengen Regel und objektiven Sachlichkeit haben leicht etwas Starres, mitunter sogar Hartes an sich. Der Geist der „Gnade” mag sie mildern und menschenfreundlicher machen, wo dazu Grund besteht. Aber er muß eine Ausnahme bleiben, sonst ist Gewalt und Willkür die Folge. Im sozialen Zusammensein der Menschen mit seinen Engen und seinen Härten im gegebenen Raume der Wirklichkeit ist jene starre Regel des „Rechts” nicht zu entbehren. Sie allein schafft die Gewähr einer bleibenden und dauernden Ordnung. Deshalb kann es die Gnade allein, auch wenn ihr im Reiche der Werte eine bevorzugte Stellung zukommt, nicht schaffen. Als Fundament, als Grundlage ist die Gerechtigkeit, die Justitia unentbehrlich: Justitia fundamentum regnorum.

Damit schließen wir unsere Erwägungen. Rechtspflege und Gnadenübung sind „menschliche” Dinge einer diesseitigen

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Ordnung und fügen sich in „vernünftige” Erwägungen. Solche Besinnung über die Gesetzmäßigkeiten und den Aufbau der zugehörigen Werte bewahrt uns vor hoffnungslosem Relativismus und läßt die Grundlagen einer gerechten und humanen Ordnung erkennen. Aber solche „vernünftige” Besinnung endet doch immer wieder im Irrationalen — in den polaren Spannungen der Gerechtigkeitsidee selbst, in den materialen Wertungen, die sie in sich schließt, und nicht zuletzt in der „Persönlichkeit”, die in echten Wertkonflikten allein die Entscheidung treffen kann. Hier lenken unsere Erwägungen den Blick auf eine höhere Welt, die über allem Menschendasein waltet.

 

Literatur

(außer der üblichen strafrechtlichen, staatsrechtlichen und sonstigen juristischen Literatur)

Binder, Philosophie des Rechts. 1. Aufl. (1925). S. 362-409 (Gerechtigkeit, Billigkeit), 678-682 (Begnadigung), 794 (Hierarchie der Werte).
Eislers Handwörterbuch der Philosophie. 2. Aufl. (1922). S. 738 ff. Artikel „Wert”.
Grewe, Gnade und Recht (1936) passim.
Hartmann, Nicolai, Ethik. 2. Aufl. (1935). S. 133-144 (Ansichsein der Werte), 381-388 (Gerechtigkeit), 408-418 (Nächstenliebe), 192-194. 267-271 (Konflikte und Antinomik der Werte). 270. 431/22. 471 (persönliche Entscheidung).
Radbruch, Rechtsphilosophie. 3. Aufl. (1932). S. 70 (Antinomie der Rechtsidee), 172-174 (die Gnade).
Rümelin, Max, Die Gerechtigkeit (1920), Die Billigkeit im Recht (1921), Rechtssicherheit (1924).
Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie. 3. Aufl. (1928). S. 97 (positives Recht), 318-320 (die Gnade).