Walz, H.H.

Die biblische Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes und unser Recht

1948

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Die biblische Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes und unser Recht

Eine Studie zur Methode sozialethischer Grundlegung in der christlichen Dogmatik am Beispiel des biblischen Begriffs der Gerechtigkeit Gottes

von

Dr. Hans Hermann Walz

 

Die Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes, das ist der Inhalt der Bibel schlechthin. Nicht nur die Psalmen und der Römerbrief handeln von der Gerechtigkeit Gottes, sondern Altes wie Neues Testament im ganzen sind nur die ebenso konstitutive wie deklaratorische Verkündigung dessen, daß Gott im Blick auf seine Verheißungen als der Gerechte erkannt wird und obsiegt, wo es um die Frage seines Rechtes geht (Römer 3, 4). Wir müssen diesen großen Hintergrund sehen, wenn wir uns mit der im Vordergrund stehenden speziellen Frage befassen wollen, der Frage nämlich, was die Bibel meint, wenn sie nun im besonderen von Gottes Gerechtigkeit redet, und was dieser biblische Ausdruck bedeutet im Verhältnis zu dem, was wir unter Recht und Gerechtigkeit zu verstehen gewohnt sind 1).


1) Unsere Untersuchung bewegt sich also nicht auf dem Boden etwa der Rechtsphilosophie, sondern der Theologie, genauer der systematischen Theologie. Von einer biblisch-theologischen Studie im engeren Sinne unterscheidet sich die vorliegende Arbeit darin, daß ➝

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Worum geht es bei dem Begriff der Gerechtigkeit Gottes? Unser Thema sagt bereits etwas Entscheidendes, wenn es ankündigt: Es handelt sich hier um einen Gegenstand biblischer Botschaft. Damit ist eine formale und eine inhaltliche Entscheidung vorgegeben. Formal ist die Quelle eindeutig bestimmt, aus der das zu erheben ist, was uns hier zu beschäftigen hat. Was nicht aus dieser Quelle, der Bibel, geschöpft ist, mag noch so gut und richtig und wichtig sein, es hat doch keinen legitimen Anspruch innerhalb des hiermit gegebenen Rahmens. Inhaltlich aber ist gesagt: Die Gerechtigkeit Gottes, mag über sie sonst dies oder jenes zu sagen sein, ist jedenfalls Gegenstand einer Botschaft, einer Mitteilung. Sie ist also nicht etwas, was durch Nachdenken, durch Spekulation, etwas, was und gefühlsmäßig oder verstandesmäßig, auf der Grundlage apriorischer Urteile oder allgemeiner Erfahrung zugänglich wäre. Von der Gerechtigkeit Gottes können wir nur dann und nur soviel


➝ es ihr nicht um eine Erhebung des biblischen Begriffes der Gerechtigkeit Gottes in seinen geschichtlichen Zusammenhängen und Differenzierungen geht. Vgl. dazu neben dem von Gerhard Kittel herausgegebenen „Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament”, s.v. δἰκη usw., für das Alte Testament die Darstellung von Walter Eichrodt, „Theologie des Alten Testaments”, Leipzig 1933-39, Teil I, S. 114 ff. Innerhalb der systematischen Theologie haben wir es hier mit einem primär dogmatischen und trotz häufiger Bezugnahmen als nicht (sozial-)ethischen Thema zu tun, so wie sich Karl Barth in der „Kirchlichen Dogmatik”, Teil II, „Die Lehre von Gott”, Zollikon-Zürich 21946, 1. Halbband, S. 413 ff. mit der Gerechtigkeit als einer Eigenschaft Gottes befaßt. Doch unterscheidet sich unsere Behandlung des Themas von der allgemein dogmatischen durch die besondere Fragestellung, die von der Wirklichkeit des Rechts und dem Begriff des Gerechten herkommt und eine vorwiegend methodische Abzweckung hat. Die theologische frage nach dem Gerechten und dem Recht ist das Thema der Studie des französischen Juristen Jacques Ellul, „Le Fondement théologique du Droit”, Neuchatel-Paris 1946, die wohl schon mehr dem Gebiet der theologischen Ethik als dem der dogmatischen Lehre von Gott zuzuzählen ist. Etwas großspurig ausgedrückt geht es hier um Prolegomena aus der Gotteslehre zu einer Theologie des Rechts. Die in dieser ersten Anmerkung genannten Werke sind für den Verfasser Grundlegend geworden. Aneignung und Auseinandersetzung mit ihnen begleiten den ganzen Gang der Untersuchung. Auf rechtsphilosophische Zitate wurde ich teilweise aufmerksam durch Rudolf Eisler, „Wörterbuch der philosophischen Begriff”, Berlin 1928, ff. s.v. „Rechtsphilosophie”.

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wissen, wenn und soweit sie Gegenstand der uns erreichenden Botschaft ist.

Damit sind wir bereits im ersten Teil unserer Untersuchung, der der Frage gewidmet ist:

 

Wie können wir die Gerechtigkeit Gottes erkennen?

Wenn wir nur durch den Blick in die Bibel von Gottes Gerechtigkeit wissen können, so ist es unter Umständen höchst fatal, von Gerechtigkeit Gottes sprechend, nun doch anderswohin zu blicken, etwa auf das gute Recht der eigenen nationalen Sache. Mit dem Blick darauf hat ja denn wohl, um nur ein Beispiel zu nennen, in den ersten Jahren des Krieges unser Rundfunk gelegentlich den ersten Vers des sogenannten niederländischen Dankgebets zu Gehör gebracht: „Wir treten zum Beten, vor Gott den Gerechten. Er waltet und haltet ein strenges Gericht. Er läßt von den Bösen nicht die Guten knechten. Sein Name sei gelobt, er verläßt uns nicht.” Indem man so von der Gerechtigkeit Gottes redend, den Blick weggewandt hat von der biblischen Botschaft, ist man in die fatale Lage geraten, zugestehen zu müssen, daß der hier als Gott, der Gerechte, apostrophierte deutsche Nationaldämon, oder wer immer hier angerufen wird, entweder nicht gerecht ist oder, daß man selbst nicht zu den Guten zählt, was man doch — eben ohne den Blick auf die biblische Botschaft — voraussetzen zu dürfen glaubte. Auch da gilt dasselbe, wo man den Blick etwa auf das eigene individuelle gute Recht richtet und damit eine Aussage über Gottes Gerechtigkeit oder, wie es denn hier nicht ausbleiben kann, Gottes Ungerechtigkeit machen zu können meint.

Das ganze Buch Hiob im Alten Testament ist gerade von dieser Problematik erfüllt. Freilich ist es höchst bemerkenswert, daß im letzten Kapitel dieser großartigen Dichtung gesagt wird: Gott gibt nicht den Freunden Hiobs recht (Hiob 42, 7), die so viel, so klug und so fromm von der Gerechtigkeit Gottes zu reden wußten, sondern er gibt Hiob den Vorzug, der oft so anklagend und so herausfordernd von Gottes Ungerechtigkeit gesprochen hatte. Der innere Grund jener überraschenden Aussage ist der: Hiob hat jedenfalls dorthin geblickt, wo es um den lebendigen Gott ging, der

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so grausam zerstörend in sein Leben eingebrochen war. Die Freunde aber sind von ihren Theorien und Konstruktionen, von ihrem eigenen Besserwissen und ihren Allotria nicht losgekommen.

Aber wir müssen noch einen Schritt weitergehen in der Erkenntnis der Tragweite dessen, daß es sich bei der Gerechtigkeit Gottes um einen Gegenstand biblischer Botschaft handelt. Nicht nur das Urteil: „Gott ist gerecht” ist Inhalt biblischer Mitteilung. Es wäre dann ja immer noch möglich, daß wir von uns aus und also aus anderer Quelle durchaus wüßten, was Gott ist und was Gerechtigkeit ist und uns nur die Beziehung dieser beiden uns im übrigen bekannten Größen aufeinander durch die Bibel mitgeteilt werden müßte. Aber in Wirklichkeit ist bereits das Subjekt dieses Satzes, Gott, Gegenstand biblischer Botschaft. Die Bibel ist durchaus der Meinung, daß man von Gott nichts wissen könne, wenn man nur das Rauschen des Waldes, die Tiefen des menschlichen Gemütes oder das eigene Gewissen kennt. Sie meint, wenn sie von Gott spricht, nicht dasselbe was die Religionen unter Göttern oder die Philosophen unter dem Einen, Absoluten, verstehen. Sie meint den Gott, der mit Abraham einen Bund geschlossen hat, der die Jakobstämme aus Ägypten geführt, der das Volk Israel heimgesucht und der seinen Sohn Jesus Christus in die Welt gesandt hat. Das alles kann man nicht durch Nachdenken aus der Quelle der Vernunft oder des Gefühls erfahren. Das alles muß man erst gesagt bekommen, sonst weiß man nicht, was hier unter Gott verstanden ist. Wir freilich dürfen für die Behandlung unseres Themas voraussetzen, daß es um die Gerechtigkeit des Gottes der Bibel und nicht einer beliebigen „Gott” genannten Vorstellung geht.

Wie aber steht es mit der „Gerechtigkeit”? Wissen wir nicht jedenfalls von ihr ohne die Bibel, was sie ist? Gewiß haben wir einen Begriff von Gerechtigkeit, schon ehe wir die Bibel aufschlagen. Wenn wir aber mit diesem Begriff das zu ermessen suchen, was in der Bibel unter Gottes Gerechtigkeit verstanden wird, so ist es, als ob uns dieser Maßstab ständig aus der Hand geschlagen würde. Da wird die Gerechtigkeit Gottes einmal gleichgesetzt mit Gottes Macht über die Feinde Israels (Richter 5, 11), ein andermal mit seinem Zorn, dann mit seiner Strafe, wieder einmal mit Gottes Unbegreiflichkeit, am häufigsten aber und am überraschendsten mit Gottes Gnade, Barmherzigkeit oder Treue, ja schließlich mit

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der Vergebung der Sünden 2). Wir müssen uns also offenbar hüten, unsere Idee der Gerechtigkeit zu einem Maßstab zu machen, an dem wir das, was die Bibel unter Gerechtigkeit Gottes versteht, messen können.

Hier kann uns nocheinmal das Buch Hiob weiterhelfen. Dort sagt der geplagte Hiob von Gott (9, 22 f.): „Denn er ist nicht ein Mensch wie ich, daß ich ihm erwiderte, daß wir zusammen vor Gericht gingen. Es ist kein Schiedsrichter zwischen uns, der seine Hand auf uns beide legte.” Was heißt das? Es gibt keinen Maßstab, an dem Gott und Mensch gleichermaßen gemessen werden könnten. Es gibt also auch keinen Maßstab der Gerechtigkeit, an dem Gottes Handeln gemessen werden kann. Ja, es gibt nicht einmal eine Idee der Gerechtigkeit, an der Gott etwa durch sein Sein, wir Menschen mindestens durch unser Wissen um Gerechtigkeit gemeinsam Anteil hätten. Sondern Gott steht uns so schlechthin gegenüber, daß es kein drittes Höheres gibt, demgegenüber er dann mit uns auf die gleiche Seite zu stehen käme. Die Gerechtigkeit, von der die Bibel redet, ist nicht ein Maßstab menschlichen Wissens, an dem Gottes Handeln gemessen werden könnte, sondern Gottes Gerechtigkeit ist umgekehrt der Maßstab, an dem unser menschliches Tun, und damit auch unser Verstehen gemessen wird.

Wäre es anders, so hieße das, die Frage der Theodizee an die Bibel stellen, also die Frage, ob denn, besonders in Anbetracht des Leidens auf der Welt, Gott wirklich das Prädikat der Gerechtigkeit zukomme? Diese Frage aber wird in der Bibel nur beantwortet mit der Gegenfrage Gottes: Kann ich nicht mit euch Menschen tun wie ein Töpfer mit seinem Ton? (Jer. 18, 6; Jes. 29, 16). Die angebliche Frage wird in dieser Gegenfrage Gottes enthüllt als ein verdeckter Anspruch; wenn aber der Mensch Gott gegenüber einen Anspruch erhebt, begibt er sich in eine Position, die ihm nie und nimmer zukommt. Woher will er diesen Anspruch ableiten, er, dessen Existenz gar nicht auf eigener Leistung


2) Die vielen Belegstellen sind auch jeder deutschen biblischen Konkordanz leicht zu entnehmen. Der jüngste Tag, auf den die gesamte biblische Verkündigung ausblickt, ist im Alten wie im Neuen Testament Tag Gottes, Gerichtstag, Tag des Zorns und Tag des Heils.

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beruht? „Wie kann ein Mensch recht haben vor Gott? Würde sich Gott herbeilassen, mit ihm zu prozessieren: Auf tausend Beweise könnte der Mensch ihm nicht eine Einwendung machen” (Hiob 9, 2). Aber nicht nur, daß der Mensch keinen begründeten Anspruch Gott gegenüber hat, schon die Anhängigmachung eines Verfahrens gegen Gott ist dem Menschen nicht möglich und kommt ihm nicht zu. Beides ist in Hiob 9 deutlich zum Ausdruck gebracht: „Wer will zu Gott sagen, was tust Du da? ... Wie sollte ich Ihn gegenüber Gegenpartei sein können, meine Worte wählen Ihm gegenüber? Selbst wenn ich im Recht wäre, ich könnte keinen Anspruch erheben, zu meinem Richter müßte ich flehen. Wollte ich Ihn vor Gericht ziehen, Er stünde nicht Rede ... Wer will Ihn vorladen? Hätte ich auch recht, mein Mund gäbe mir Unrecht und spräche mich schuldig, wäre ich gleich schuldlos” (Hiob 9, 14 ff.).

Deshalb wird der von Theologie und Philosophie, besonders der des 18. Jahrhunderts, so gern unternommene Versuch der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes am Maßstab einer vorgegebenen Gerechtigkeitsvorstellung, von der Bibel rundweg abgelehnt. Das einzige Mal, wo hier von Theodizee, von einer Rechtfertigung Gottes wörtlich die Rede ist, da wird vom Volk und Zöllnern erzählt, die eine Bußpredigt Jesu gehört haben. Von ihnen heißt es: „Sie rechtfertigten Gott und ließen sich taufen mit der Taufe des Johannes” (Luc. 7, 29), das heißt mit der Taufe der Buße und Umkehr. Hier bekommt also Gott recht, nicht dadurch, daß er vor dem Maß menschlichen Rechthabens besteht, sondern dadurch, daß der Mensch sich selbst Unrecht gibt und sich unter Gottes Rechthaben beugt.

Müssen wir also unseren Begriff der Gerechtigkeit fahren lassen, wenn wir die biblische Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes hören wollen? Nein, denn was wir eben von dem Begriff der Gerechtigkeit gesagt haben, das gilt von allen andern Begriffen, dem Zorn, der Strafe, der Gnade, der Liebe, den Begriffen des Richters, des Königs oder des Vaters ebenso. Nirgends dürfen wir diese Begriffe, in denen die Bibel von Gott redet, zu Ideen verabsolutieren und einen Maßstab aus ihnen machen, an dem wir Gott und uns gleichermaßen messen könnten. Wenn wir aber von Gott und von der Gerechtigkeit, wie von allen andern auf Gott angewandten Begriffen überhaupt nichts wüßten, dann

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wäre uns die Bibel unverständlich. Dann könnten wir auch den biblischen Begriff der Gerechtigkeit Gottes oder den biblischen Satz „Gott ist gerecht” nicht verstehen. Denn ein unbekanntes Wort einer Fremdsprache kann durch ein zweites oder drittes unbekanntes Wort uns nicht erläutert oder bekannt werden. Nun werden wir in der Tat sagen müssen, daß der Satz „Gott ist gerecht”, wie ihn die Bibel meint, für uns unverständlich ist, aber nicht im Sinne des logischen Nichtverstehenkönnens, sondern im Sinne des psychologischen Nichtbegreifenkönnens. Die biblische Botschaft von Gottes Gerechtigkeit wird zwar immer, wo wir sie wirklich hören, unser maßloses Staunen hervorrufen, niemals aber unsere verständnislose Stupidität. Logisch können wir den biblischen Satz „Gott ist gerecht” verstehen. Folgt daraus, daß wir ohne die Bibel, und also ohne daß Gott selbst es uns sagt, wüßten, was das für eine Gerechtigkeit ist, um die es sich bei Gott handelt? Gewiß nicht. Wohl aber folgt daraus, daß wir einen Begriff der Gerechtigkeit haben, bei dem wir einsetzen, wenn wir das verstehen wollen, was uns die Bibel mit ihrer Rede von der Gerechtigkeit Gottes zu sagen hat. Wir fragen die Bibel nach der Gerechtigkeit Gottes nicht, weil wir einen Maßstab der Gerechtigkeit mitbrächten, an dem wir den Gott der Bibel messen wollten, sondern weil die Bibel von der Gerechtigkeit Gottes redet, und wir aufgefordert sind, zu verstehen, was sie damit meint. Unsere Frage ist aber deshalb nicht sinnlos, weil wir einen Begriff von Gerechtigkeit haben 3).

Wir haben die Gerechtigkeit Gottes, um die es in unserem Thema geht, bisher daraufhin näher bestimmt, daß sie uns nicht als etwas, was wir ohnedies schon wissen, verständlich ist, sondern daß sie uns nur als Gegenstand einer Botschaft, als Inhalt biblischer Aussage zugänglich ist. Sie wäre aber nicht Inhalt der Bibel, müßten wir


3) Natürlich haben wir ganz in demselben Sinn auch einen Begriff von Gott, den wir nicht einfach ausschalten können, wenn wir hören wollen, was die Bibel von Gott zu sagen hat. Was das für unser Verhältnis zu dem lebendigen Gott bedeutet und nicht bedeutet, hat Rudolf Bultmann klargelegt in seiner Studie über „Die Frage der natürlichen Offenbarung” in „Offenbarung und Heilsgeschehen”, München 1941, S. 3 ff. Das dort Ausgeführte ist für alles theologische Denken von grundlegender Bedeutung.

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nicht, um sie zu erfassen, ausgehen von dem, was wir unter Gerechtigkeit zu verstehen in der Lage sind. Denn die Bibel im ganzen will ja gar nichts anderes sein als das Zeugnis davon, daß nicht der Mensch Gott, sondern daß Gott den Menschen aufgesucht hat. Daß Gott in der Tat ganz anders ist als wir Menschen, das hat er nicht dadurch zur Geltung gebracht, daß er sich in dem gebührenden Abstand von uns ferngehalten hätte — dann wüßten wir nichts von ihm —, sondern: daß er ganz anders ist als wir, das hat er uns Menschen gezeigt, indem er zu uns gekommen ist als unsereiner. Daß seine Gerechtigkeit eine ganz andere ist als unsere Gerechtigkeit, das können wir deshalb — und freilich nur deshalb — so zu verstehen lernen, daß wir von dem ausgehen, was wir unter Gerechtigkeit zu verstehen in der Lage sind 4).

Nun ist es bekanntlich nicht einfach, unter uns Menschen etwas Einhelliges über die Gerechtigkeit auszumachen. Erik Wolf hat in einem schönen ausführlichen Vortrag über diese Problematik gehandelt und dabei die verschiedenen sich widerstreitenden Gerechtigkeitsideale vorgeführt 5). Wir haben es hier nicht mit dem oder jenem Gerechtigkeitsideal zu tun, sondern mit dem Begriff


4) Vergleiche dazu Ludwig Köhler, „Theologie des Alten Testaments”, Tübingen 1936, S. 43/44: „Gott, wo er sich offenbart, bedient sich der Sprache und sonst der Anschauungen und Begriffe der Menschen, da nur so allein seine Offenbarung von den Menschen entgegengenommen werden kann. Der Begriff, untheologisch genommen, erschließt die Meinung des theologischen Begriffes; er tut es auch dann, wenn die theologische Meinung sich mit der untheologischen des Begriffes nicht oder doch nicht völlig deckt. Diese Meinungsverschiedenheit wird dann daran sichtbar, daß entweder der sprachliche Ausdruck sich leise, aber spürbar, verschiebt, oder daran, daß der theologische Verstand des Wortes, wenn man ihn ganz entsprechend dem untheologischen Verstand nehmen will, in sich oder im Zusammenklang mit anderen theologischen Begriffen, deren Meinung schon völlig klargelegt ist, sinnlos wird.” Die heilsgeschichtlich denkende Theologie (seit Irenäus) hat diesen Sachverhalt unter dem Begriff der Kondeszendenz Gottes in seiner Offenbarung zum Ausdruck zu bringen versucht und ihn damit christologisch von der Inkarnation her verstanden. Auf die Kurzschlüsse, die hierbei freilich oft gemacht worden sind, und auf die ganze offenbarungstheologische Problematik kann hier nicht eingegangen werden.
5) Siehe Erik Wolf, „Gerechtigkeit”, Furche-Verlag, Tübingen 1947.

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der Gerechtigkeit. Dieser Begriff ist allen Gerechtigkeitsidealen gemeinsam, sonst wären sie eben nicht Gerechtigkeitsideale.

Der Begriff der Gerechtigkeit ist formaler Natur und drückt ein bestimmtes Verhältnis zum Recht aus. Gerechtigkeit ist das, was das Recht zum Recht macht, nicht zum geltenden oder zum positiven also zum formal verbindlichen, aber zum richtigen oder wahrhaften, also zum material verbindlichen Recht. Im Mittelalter hat man gesagt: Gerechtigkeit ist die norma normans des Rechtes, so wie das Recht die norma normata des verbindlichen Handelns in der menschlichen Gemeinschaft ist. „Est omne ius a iustitia, ergo prius fuit iustitia quam ius” 6). Dieses Zitat hat logisch-normativ durchaus recht: Alles Recht ist logisch von der Gerechtigkeit abzuleiten, also hat die Gerechtigkeit die logische Priorität vor dem Recht. Tatsächlich aber, und das heißt historisch, sprachlich, psychologisch und phänomenologisch, ist es umgekehrt: Das Recht, ius, das heißt eine mehr oder minder, meist aber sehr streng eingehaltene Ordnung des Gemeinschaftslebens, war längst da, ehe ein Mensch auf den Begriff der Gerechtigkeit, iustitia kam. Dike, Recht, wurde längst gesprochen, ehe man auf den Gedanken kam zu fragen, ob dieses Recht auch wirklich Recht sei und also der dikaiosyne, der Gerechtigkeit entspreche. Deshalb setzt nun der Begriff der Gerechtigkeit das Recht voraus, indem er eben der Begriff davon ist, daß nach dem Recht des Rechtes gefragt und daß die vom Recht getroffene Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht auf das Recht selbst angewandt wird. Gerechtigkeit ist also begrifflich das in dem Wissen um Recht und Unrecht begründete Rechthaben des Rechtes 7). Wo von einem Gesetz oder von einem Recht behauptet


6) Glosse zu D I, 1, 1, 1, vgl. bei Wolf, a.a.O. Anm. 2, S. 4.
7) Damit ist er im deutschen Sprachgebrauch nie eigentlich heimisch gewordene Begriff der Gerechtigkeit als eines menschlichen Gesamtverhaltens bewußt außer acht gelassen. Zwar ist die Gerechtigkeit von der griechischen δικαιοσὐνη über die iustitia auch in deutsche Tugendkataloge übernommen worden. Dort hat sie aber nur ein schemenhaftes Dasein geführt, soweit nicht an die besondere Amtstugend des Richters, des Königs und dergleichen gedacht war. Der gerechte Richter ist aber derjenige, der das Recht Recht sein läßt. In gleicher Weise redet unsere Sprache von einer gerechten Sache im Sinne von causa, wo also die Bedeutung von Rechtshandel deutlich ➝

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wird, es sei gerecht, da wird diesem Gesetz oder Recht bestätigt, es habe die richtige Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht getroffen. Die Römer haben also doch wohl das Wesentliche erfaßt, wenn sie für die richterliche Tätigkeit neben der umfassenden Sachkenntnis und Lebenserfahrung die Unterscheidung von Gut und Böse als wesentliches Element ansehen 8).

Hat nun dieser Begriff der Gerechtigkeit überhaupt etwas zu tun mit dem Begriff der Gerechtigkeit, der in der Bibel auf Gott angewandt wird? Man hat das sehr oft bestritten, indem man unsern Begriff der Gerechtigkeit dem juristischen, speziell rechtsphilosophischen Gebiet zugeschoben hat, während man die biblische Gerechtigkeit als einen der religiösen Sphäre angehörenden Begriff bezeichnete. Aber was soll damit gesagt sein? Wenn unsere Sprache überhaupt sinnvoll ist, dann wird mit einem Wort in der Regel ein bestimmter Begriff bezeichnet. Wo es sich ausnahmsweise anders verhält, da muß im Zweifel der dies Behauptende die Beweislast tragen. Ein schlüssiger Beweis für diese, zuletzt wieder von


➝ im Hintergrund steht. Es darf für den biblischen Begriff der Gerechtigkeit Gottes nicht übersehen werden, daß sowohl das hebräische zadik, wie in anderer Weise das griechische δἰκαιος ihre Bedeutung in viel größerem Abstand von der im Forensischen liegenden Mitte ihres Begriffes entfalten können als das deutsche „gerecht”. Dennoch kann von der Herausarbeitung dieser im engeren Sinne biblisch-theologischen Problematik in dem systematischen Zusammenhang, der uns beschäftigt, abgesehen werden.
8) „Jurisprudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, justi atque iniusti scientia” (Inst. § 1 I de just. et jure [1, 1]). Das „suum cuique tribuere” mag als das Prinzip der Gerechtigkeit postuliert werden, wie es vielfach und neuestens wieder von Emil Brunner, „Gerechtigkeit”, Zürich 1943, mit Betonung geschieht. Es gehört aber trotz Ulpian (D I, 1, 1, 10) nicht zum Begriff der Gerechtigkeit. Dieser sagt nur, daß (im Recht) Gerechtes und Ungerechtes unterschieden wird, soweit diese Unterscheidung richtig getroffen wird. Dabei sind bereits im römischen Recht die Ausdrücke iustum und iniustum gelegentlich ausgewechselt durch das Gegensatzpaar bonum und malum (z.B. D. I, 1, 1, 1). Nun ist die Unterscheidung von gut und böse zwar mit der Unterscheidung von recht und unrecht keineswegs identisch. Immerhin überschneiden sich die Gebiete beider Unterscheidungen so, daß sie sich zu einem beträchtlichen Teil decken. Die Gerechtigkeit bezieht jedenfalls weithin ihr sittliches Pathos, die Sittlichkeit ihre öffentliche Reputation von dieser teilweisen Kongruenz.

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Emil Brunner 9) aufgestellte Behauptung ist aber bisher wohl nirgends geglückt.

Damit verlassen wir die Frage, wie wir die Gerechtigkeit Gottes erkennen und wenden uns im Hauptteil unserer Untersuchung der Frage zu:

 

Was ist Gerechtigkeit Gottes und worin besteht sie?

Ausgehend von der eben festgestellten Einheit des Begriffs der Gerechtigkeit ist man vielfach weitergeschritten zur Einheit des Inhaltes oder der Idee der Gerechtigkeit, wo von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit die Rede ist. Man konnte sich zwar dem Eindruck nicht entziehen, daß die Gerechtigkeit beim Menschen nicht in so vollkommener Weise erkannt und durchgeführt werde, wie dies bei Gott der Fall sein mußte. Man hat deshalb durchaus einen großen quantitativen, aber keinen qualitativen Abstand zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit angenommen.

Damit wird die Gerechtigkeit Gottes bestimmt als der Ursprung unserer Gerechtigkeit. Gott wird gewissermaßen zum Gerechtigkeitsideal, oder auch zum Prinzip der Gerechtigkeit, zur Quelle der Gerechtigkeit


9) a.a.O. S. 15 ff. Brunner unterscheidet hier drei völlig verschiedene Gerechtigkeitsbegriffe: den der griechischen Tugendlehre nach Theognis, den biblischen und den „des heutigen Menschen” entsprechend seinem „Gerechtigkeitsgefühl”. Den Beweis dafür, daß der erstgenannte Begriff eine besondere Bedeutung hat, führt Brunner vor allem mit Aristoteles. Hier liegt in der Tat ein verschiedener Sprachgebrauch vor (vgl. unsere Anmerkung 7). Dagegen setzt er die Unterscheidung des zweiten und dritten Begriffes als so selbstverständlich voraus, daß er sich um ihre Erhärtung gar nicht erst bemüht. Vielmehr räumt er ein, daß trotz der begrifflichen Unterscheidung „letzten Endes” hier ein Zusammenhang besteht. Hier scheinen Begriff und Idee der Gerechtigkeit unklar durcheinandergemengt. Denn der Zusammenhang zwischen dem, was die Bibel und was wir gemeinhin unter Gerechtigkeit verstehen, liegt eben in dem Begriff der Gerechtigkeit. Sonst könnten wir „letzten Endes” die Bibel nicht verstehen oder sie wäre falsch übersetzt. Daß aber umgekehrt der Idee nach zwischen dem, was die Bibel von der Gerechtigkeit sagt und dem was unser heutiges Gerechtigkeitsgefühl uns sagt, „ein letzter heimlicher Zusammenhang” bestünde, das muß füglich bezweifelt werden.

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und damit in letzter Linie zum Urheber alles Rechts, das wir kennen. Das ist die Basis, auf der die christlich-konservative Staats- und Rechtslehre von Friedrich Julius Stahl 10) letztlich aufgebaut ist. Damit kann die Autorität Gottes den bestehenden Rechtszustand decken. Diese Konstruktion hat natürlich Stahl nicht erfunden, er hat sie im Gegenteil verfeinert und von manchen Ungereimtheiten befreit. Bekanntlich liegt diese Auffassung schon dem mittelalterlich-scholastischen Denken mit seiner Abstufung von lex aeterna, lex naturalis und lex positiva zugrunde, wo sie im ganzen ebenfalls konservativ gewirkt hat. Aber auch revolutionäre Folgerungen lassen sich aus der gleichen Konstruktion ableiten, indem von Gott als dem Urheber des Rechts aus das geltende Recht unter Umständen als Nichtrecht gekennzeichnet wird, demgegenüber es gilt, das aus der göttlichen Quelle geschöpfte Recht zum Sieg zu bringen. Solche Folgerungen, vielfach verbunden mit einem gesetzlichen Verständnis der Bibel, sind von den Sekten des Mittelalters, von den Schwärmern der Reformationszeit bis hin zu den Naturrechtslehrern der Aufklärung und zu Rousseau in säkularisierter Form tatsächlich gezogen worden. Auch die Bauern im Bauernkrieg haben besonders hinsichtlich von Eigentums-, Zins- und Steuerfragen ihnen günstige Folgerungen aus der Konzeption gezogen, daß Gott der Urheber des Rechtes sei und deshalb das bestehende Nichtrecht verworfen und durch ein aus der Autorität der Heiligen Schrift abgeleitetes Recht ersetzt. Luther hat sich diesem Gedankengang versagt 11), nicht deshalb, weil ihm die Forderungen der Bauern sozial zuwider gewesen wären. Das Gegenteil war der Fall. Aber er hat klar gesehen, daß die hier, wie


10) Friedrich Julius Stahl, „Die Philosophie des Rechts”, 51870, bes. II, I S. 7 ff., II, II S. 176 ff. In anderer Weise, aber mit ähnlichem Ergebnis Adam Müller, z.B. „Die Elemente der Staatskunst”, Jena 1922, I, S. 114.
11) Grundsätzlich redet etwa Zwingli in seiner Schrift „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit” nicht anders als Luther in seiner „Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft”. Wenn Luther angesichts der Auswüchse der Bauernrevolution die Obrigkeit später zu schonungslosem Eingreifen auffordert, so hat er damit wohl seine Popularität, nicht aber seine grundsätzliche Überzeugung von der Unmöglichkeit eines ius divinum, auch etwa im konservativ obrigkeitlichen Sinne, preisgegeben.

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in der Scholastik vorausgesetzte Beziehung des menschlichen Rechtes zur göttlichen Gerechtigkeit gemessen an der Botschaft der Bibel, falsch ist.

Der Satz des Thomasius: „Lex ... est voluntas legislatoris et legum omnium fons est voluntas divina” 12) ist kein biblischer Grundsatz. Zwar liegt diese Betrachtungsweise den meisten Religionen in der einen oder anderen Form nahe, aber darin kommt zunächst nur die in der ganzen Religionsgeschichte zu beobachtende Tendenz zum Ausdruck, das Vorgefundene (überkommenes Recht) zu vergöttlichen oder politische Aspirationen (neues Recht) durch religiöse Weihe zu legitimieren. Aus dieser in der Stoa 13) philosophisch geläuterten religiösen Welt ist der Satz vom göttlichen Ursprung des Rechts in das christliche Mittelalter eingedrungen und mit ihm die Problematik, ob man die göttliche Gerechtigkeit und als deren unmittelbaren Ausdruck das göttliche Recht mit bloßer Hilfe der Vernunft erkennen könne, wie die Stoa behauptet. Dadurch, daß man diese Schätzung der Vernunft bestreitet und statt dessen auf eine Fülle von biblischen Geboten als Inhalt des ius divinum hinweist, wird diese stoische Lehre nicht etwa „christlich”. Denn die Bibel wird hier ja nicht mehr als Wort Gottes verstanden, das man nie besitzen, sondern immer nur hören kann. Vielmehr wird die Bibel hier zu einer Ansammlung von durch fremde Autorität verbürgten Wahrheiten oder gesetzten Normen, auf die der Mensch wohl von sich aus nicht gekommen wäre, die aber, einmal übernatürlicherweise offenbart, menschlicherseits gewußt und gehandhabt werden können. Deshalb ließ sich diese Lehre von der göttlichen Gerechtigkeit als dem Ursprung der Kette ius divinum — ius positivum in der Aufklärung so leicht wieder säkularisieren. Säkularisiert kann immer nur ein Gedankengebäude werden, dessen Inhalt dem Worte Gottes gelöst ist. Denn dem Wort Gottes gegenüber bleibt der Mensch in der ständigen Abhängigkeit des Hörens, die sich nicht in der Erkenntnis zeitloser Wahrheit, sondern in konkreten geschichtlichem Gehorsam manifestiert.

Im Hören auf Gottes Wort und also auch im Vernehmen der biblischen Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes schwindet der


12) Inst. iurispend. divin. III, 1, 2, § 83.
13) δίκη ἐκ τοῦ θεοῦ Plutarch, De Stoic., rep. 9.

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Gedanke, daß Gottes Gerechtigkeit gewissermaßen die Stammmutter unseres Rechtes, im konservativen oder im revolutionären Sinne, sei; daß wir, sei es auch belehrt durch Worte aus der Bibel, im Wissen um Gerechtigkeit über sie verfügen. Auch wo einzelne — nicht ganz wenige — biblische Sätze für sich genommen, eine solche Annahme nahe legen könnten, da wird sich der Hörer der biblischen Botschaft daran erinnern lassen müssen, daß er ein Hörer ist und sich nie auf früher Gehörtes oder auf schwarz auf weiß Besessenes berufen darf, um sich dem jetzt von ihm geforderten Gehorsam zu entziehen 14).

Wo immer Gottes Gerechtigkeit als Ursprung oder Anfang unserer Gerechtigkeit gesehen wird, da verflüchtigt sich der von uns geforderte Gehorsam Gott gegenüber auch im Recht zu grundsätzlichen Konservatismus oder Revolutionarismus, oder es kommt im Zeichen des ius divinum zur Aufrichtung einer Theokratie. Hier ist dann trotz massenweise vorgebrachter biblischer Belege der Ansatzpunkt ein unbiblischer. Er liegt in der Selbstherrlichkeit der Spekulation, und sei es einer durch das lumen


14) Vgl. Eichrodt, „Das Menschenverständnis des Alten Testaments”, Basel 1944, S. 25: „Der ganze Grimm der prophetischen Kritik ... erwacht an dem Punkt, wo diese Männer, seien es nun Richter oder Priester oder Propheten, ,die Thora handhaben, ohne sich um Jahwe zu kümmern’ (Jer. 2, 8). Sie glauben eben mit der äußerlichen Kenntnis und routinierten Anwendung des formalen Rechts alles getan und verweigern im Stolz auf ihre vollkommene Berufstechnik die innere Bereitschaft zu neuem Lernen des gerade jetzt verlangten ,Du sollst’. Damit aber verführen sie auch die von ihnen Belehrten zu jenem Vertrauen auf die ,angelernte Menschensetzung’ (Jes. 29, 13), bei dem ,das Herz fern bleibt von Gott’”, d.h. der immer neu ergehende göttliche Aufruf überhört wird. Deshalb verweisen auch alle inhaltlichen biblischen Gebote den Menschen nicht auf ein besonders geoffenbartes Wissen um das Gebotene, sondern auf Gott, den Gebieter (Micha 6, 8). Der Dekalog im biblischen Sinn ist unverständlich ohne das „Ich bin der Herr, dein Gott”; das Heiligkeitsgesetz begründet alle seine Einzelforderungen in dem „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig” (3. Mose 11, 14); die Weisungen der Bergpredigt sind zusammengefaßt in dem Satz: „Darum sollt ihr vollkommen sein gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist” (Matth. 5, 48). Es ist die wohl paradoxe, aber sachlich allein richtige Auslegung dieses letzten Satzes, wenn Kierkegaard sagt: „Gott nötig haben ist die größte Vollkommenheit.”

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supernaturale erleuchteten Spekulation, während der biblische Mensch als Hörender ganz Gott seinen Herrn sein läßt. So wie Gottes Herrsein das Ende unseres Herrseinwollens ist, so ist nun Gottes Gerechtigkeit das Ende unserer Gerechtigkeit.

In dem großen Gemälde, das Matth. 25, 31 ff. vom Endgericht gegeben wird, erscheint Christus als der gerechte Richterkönig, der die Menschen in zwei Gruppen scheidet. Dabei ist von einer Gruppe als von den „Gerechten” die Rede. Die Gerechten sind diejenigen, die nicht wissen, daß sie es sind, denn sie haben ja den in Gestalt der Hungrigen, Nackten und Gefangenen ihnen begegnenden Menschensohn nicht erkannt. Die anderen aber sind diejenigen, die ihrerseits nicht wissen, daß sie ungerecht sind, die sich also für gerecht halten. Sie haben geehrt, wem Ehre gebührte, und wenn Christus ihnen erschienen wäre, hätten sie ihn hoch geehrt. Sie waren darauf gedacht zu tun, was recht war und was sich gehörte. Daß man sich mit den gesellschaftlich und eben doch auch moralisch Anrüchigen, Bettlern und Häftlingen, nicht weiter abgab, das war gerade inbegriffen in dem Besteben, stets das Rechte zu tun. Was ist das für ein Richter, der solche Menschen verurteilt? Was ist das für eine Gerechtigkeit, die das Pochen auf das Recht zunichte macht und eben damit Menschen frei macht zu hingebender Liebe? Das ist die Gerechtigkeit Gottes als das Ende unserer Gerechtigkeit (Röm. 9, 30 ff.; 10, 3).

Unser Satz bildet das Leitmotiv für alles, was von der Bibel aus über Gottes Gerechtigkeit zu sagen ist. Gottes Gerechtigkeit ist das Ende unserer Gerechtigkeit darin,
1. daß sie als wirkliche Gerechtigkeit das Unwirkliche unserer Gerechtigkeit sehen läßt,
2. daß sie unser Unrecht richtet,
3. daß sie unsere eigene Gerechtigkeit zunichte macht;
aber auch darin,
4. daß sie unser Unrecht wegnimmt,

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5. daß sie an die Stelle unserer eigenen Gerechtigkeit tritt
und endlich darin,
6. daß sie die Kraft unserer Frage an das Recht und
7. die Verheißung über unserem Recht ist.

 

1. Wenn die Bibel von Gerechtigkeit Gottes spricht, dann meint sie damit lautere, unverfälschte Gerechtigkeit, ein Sein und Handeln, das nur seinem eigenen Maß treu ist und sich nicht durch den Seitenblick auf das und jenes alterieren läßt. Sie meint damit, daß Gerechtigkeit nicht „auch” eine schöne Sache neben andern Sachen, ein Gesichtspunkt neben verschiedenen weiteren Gesichtspunkten für das Handeln Gottes sei, sondern daß Gott selbst nicht nur unter anderen Eigenschaften Gerechtigkeit hat, sondern Gerechtigkeit ist, so daß sein ganzes Handeln, unter so viel andern Blickpunkten es auch sonst noch betrachtet werden mag, doch jedenfalls stets als gerecht angesprochen werden muß. Darin ist Gottes Gerechtigkeit wirklich, daß er sich selbst treu bleibt 15), während wir dem, was wir als gerecht erkennen, nicht treu zu bleiben vermögen.

Wir lesen 1. Sam. 16, 7: „Gott sieht nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an.” Wir Menschen sind in Wirklichkeit gar nicht in der Lage, die dem Begriff der Gerechtigkeit innewohnende Unterscheidung zwischen gut und böse so weit und so richtig durchzuführen, wie das der Begriff der Gerechtigkeit verlangte. Gerade unser menschliches Recht, das die Aufgabe hat, das Gute zu sichern und zu belohnen und das Böse zu verhindern und zu bestrafen, muß sich hier an durchaus vorläufige Tatbestände halten. Trotz des in der Neuzeit immer mehr verfeinerten Schuldbegriffs sind diese Tatbestände maßgeblich durch den äußeren Erfolg qualifiziert. Gesinnungen können wir rechtlich nicht erfassen. Wo dies immer einmal wieder in der Rechtsgeschichte versucht wurde, da ist nicht nur viel menschliches Unglück, sondern auch Verwirrung des Rechtes selbst die Folge gewesen. Die Gesinnung ist aber nur ein


15) Offenbarung 16, 5; dazu 4. Mose 23, 19; Röm. 3, 3f.

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Beispiel für die vielen Momente, die zu berücksichtigen wären, wo es um wahre Gerechtigkeit, um die Unterscheidung von Recht und Unrecht, von gut und böse geht. Unser menschliches Recht kann den Anlagen, die der einzelne mitbringt, es kann den Bedingungen der konkreten Situation, in der die Tat entsteht, nicht in dem erforderlichen Maße gerecht werden. Es kann vor allem noch über die Gesinnung hinaus die Tiefen der menschlichen Existenz nicht erfassen, in der die Entscheidung über gut und böse beim einzelnen fällt. Das Recht muß sich an eine genormte Typik halten und anhand ganz bestimmter Tatbestandsmerkmale etwa im Strafrecht autoritativ und das heißt, immer unter Zuhilfenahme von Macht erklären: Das wird als Recht und jenes als Unrecht festgesetzt; weiter zurück gibt es keinen Rekurs auf gut und böse. Soziologen wie Gumplowicz 16) und Vierkandt 17) haben gar nichts Falsches gesagt, wenn sie das Recht als Resultante relativ konstanter Machtfaktoren bestimmt haben.

Damit aber ist bereits die Idee der Gerechtigkeit verfälscht. Denn die reine Rechtslehre, etwa Kelsens, hat richtig darin gesehen, daß als Recht nur das anerkannt werden könnte, was sich aus dem Begriff des Rechtes ableiten läßt. Der Begriff des Rechtes aber ist an der Gerechtigkeit normiert. Der Begriff der Gerechtigkeit verlangt, daß das Recht keine andere Unterscheidung als die von Recht und Unrecht kennt. In Wirklichkeit aber ist das Recht — und von dieser Wirklichkeit hat Kelsen bewußt abgesehen — auf die Verbindung mit der Macht angewiesen, um überhaupt als Recht wirksam sein zu können. Wo keine Macht ist, die statuiert, was als Recht und was als Unrecht zu gelten hat, und wo keine Macht ist, die die Durchsetzung des Rechtes garantiert, da gibt es kein Recht mehr, sondern anarchisches Chaos. In diesem Chaos schwimmen vielleicht ein paar fromme Wünsche, die den, der sein Verhalten nach ihnen richtet,


16) Ludwig Gumplowicz, „Die soziologische Staatsidee”, 2Innsbruck 1902, S. 127. Ähnlich Hermann Kantorowicz, „Rechtwissenschaft und Soziologie”, Tübingen 1911. Grundsätzlich stehen nach Plato bereits die Sophisten auf diesem Standpunkt: τὸ δίκαιον οὐκ ἄλλο τι ἢ τὸ κρείττονος ξύμφερον (Res Publ. 344 C).
17) Alfred Vierkandt, „Gesellschaftlehre”, Tübingen 1922, S. 257.

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zum Dummen machen gegenüber den vielen, die keine Skrupel haben. Wir haben ja nicht nur etwas von der Rechtlosigkeit der Macht erlebt. Die Machtlosigkeit des Rechtes, die letzten Endes das Recht aufhebt, gehört zu unserer täglichen Erfahrung. Und doch ist die Verbindung mit der Macht eine Verfälschung des Rechtes. Denn damit wird das Recht teils stärker, teils weniger deutlich sichtbar den Interessen der jeweils Mächtigen dienstbar zu Ungunsten der jeweils Ohnmächtigen. Wir meinen zum Beispiel im BGB ein ausgezeichnetes Gesetzeswerk zu haben, das dem Gedanken der Gerechtigkeit durch und durch verpflichtet ist, aber bereits um die Jahrhundertwende ist ein Buch erschienen über das Bürgerliche Recht und die besitzlosen Klasssen 18). Dieses Buch hat jedenfalls in wesentlichen Punkten, zum Beispiel im Erbrecht, im Familiengüterrecht, im Dienstvertragsrecht, meines Erachtens einwandfrei nachgewiesen, daß im BGB das Interesse derjenigen Kreise zur Geltung kommt, die im deutschen Reichstag der Jahre 1890 ff. gesessen sind, das Interesse der bürgerlichen Schicht zu Ungunsten der Interessen der sogenannten besitzlosen Klassen. Man liest sicher diese Studie mit neuem Verständnis, wenn man etwa selbst zu den Ausläufern der bürgerlichen Schicht gehörig durch die Ereignisse der letzten Jahre besitzlos geworden ist.

Es bedeutet nicht minder eine Alterierung des Rechtes, wenn sich das Recht in einen Kompromiß mit der Nützlichkeit einläßt. Doch auch dieser Kompromiß ist bis zu einem gewissen Grade für menschliches Recht unvermeidlich, wenn es der Erhaltung bestimmter Gemeinschaften dienen soll. Zwar gilt der Satz: „Recht ist das, was dem Volke nützt,” heute mit Grund als ein pudendum. Aber es war immerhin Pufendorf, der im Anschluß an eine lange Tradition ausgesprochen hat: „salus populi suprema lex est” 19). Er durfte glauben, damit einen Fortschritt in der Verwirklichung des Rechtsgedankens erzielt zu haben, indem er die im Recht wirkende Macht der Mächtigen — gedacht ist ja wohl an das absolute Fürstentum — zugunsten der Gesamtheit


18) Anton Menger, „Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen”, 5Tübingen 1927. Obwohl die erste Auflage von 1890 noch in einzelnen Punkten auf die Fassung des BGB eingewirkt hat, ist seine Kritik doch auch weiterhin aktuell geblieben.
19) De officiis II, 2, 11.

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der Rechtsunterworfenen eingeschränkt wissen wollte. Bedenken wir doch immerhin, daß das zum rechtsstaatlichen Gehalt des Rechts notwendig gehörende Element der Rechtssicherheit tatsächlich ein Kompromiß zwischen der Idee der Gerechtigkeit und dem Gedanken der Nützlichkeit der Rechtsordnung darstellt, und daß so und so oft im Konfliktfall die materielle Gerechtigkeit den Forderungen der Rechtssicherheit weichen muß.

Man könnte solche Beispiele der notwendigen Unvollkommenheit menschlichen Rechtes leicht um ein vielfaches vermehren. Uns geht es darum zu zeigen, was damit gesagt ist, wenn die Bibel Gott als den rein und schlechthin Gerechten bezeichnet. Sie redet von Gottes Gerechtigkeit immer dann, wenn sie darauf hinweisen will, daß Gott in all seinem Handeln seinem heiligen und guten und gnädigen Willen treu bleibt. Gottes Gerechtigkeit ist also die Unverfälschtheit des göttlichen Handelns, das nicht abgelenkt wird durch Kompromisse nach rechts und links. Sie ist die Gleichstimmung des jeweiligen Willens Gottes mit seinem ewigen Willen 20).

Doch tritt das, was die Gerechtigkeit Gottes gegenüber der menschlichen Gerechtigkeit bedeutet in diesem Gedankengang noch nicht endgültig hervor. Man könnte ja meinen, dieses kompromißlose Beisichselbstbleiben des Rechtes ist ein Ideal, das in Gottes Gerechtigkeit verwirklicht ist, während es von unserer Gerechtigkeit nicht erreicht, aber immerhin angestrebt wird. Daß in Wirklichkeit Gottes Gerechtigkeit bereits diese Unzulänglichkeit unseres Rechtes als unsere Schuld enthüllt und insofern das Ende unserer Gerechtigkeit hier schon real sichtbar wird, das wird uns nachher bei Behandlung unseres dritten Punktes klar werden.


20) Darin wird auch deutlich, inwiefern dieses göttliche Verhalten unter den Begriff der Gerechtigkeit (S. 6) fällt. Es handelt sich um ein Verhältnis, um ein Verhalten Gottes zu sich selbst. Er ist der Heilige, der sich radikal vom Bösen Scheidende. Diese seine Unterscheidung von gut und böse läßt er in all seinem Handeln von Ewigkeit zu Ewigkeit recht behalten und ist darin gerecht (Jes. 51, 8; Offenbarung 16, 5). Deshalb wird die Gerechtigkeit Gottes in biblischen Aussagen nicht selten mit Gottes Treue (z.B. Dt. 32, 4) und mit seiner Wahrhaftigkeit im zornigen (Offenbarung 16, 7; 19, 2) wie im gnädigen Handeln (Jes. 1, 27) verbunden. Besonders ergiebig sind hier die Psalmen.

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2. Gottes Gerechtigkeit ist darin das Ende unserer Gerechtigkeit, daß sie uns vor Augen hält, wie wir an unserem eigenen Recht und Gerechtigkeitsideal schuldig werden durch unser böses Tun. Denn wir führen uns selbst dadurch ad absurdum, daß wir das nicht tun, was wir als die Forderung von Recht und Gerechtigkeit erkennen. Wir tun Unrecht gegenüber unserem eigenen Gesetz. Gott aber ist der Richter über dieses Unrecht, und zwar besteht seine Gerechtigkeit eben darin, daß er uns mit unserem eigenen Maße mißt, das ist, mit dem Maß unserer Rechtserkenntnis und Gerechtigkeitsbehauptung anderen gegenüber 21). Gott ist der Richter über all unser menschliches Unrecht, und die Maßstäbe seines Gerichtes sind uns deshalb so wohl bekannt, weil es durchaus die Maßstäbe unseres Rechtes sind. Räuber und Ehebrecher, Diebe, Mörder und Hurer werden das Reich Gottes nicht ererben (Gal. 5, 19-21). „Du hassest alle Übeltäter”, sagt der Psalmist (5, 6); „umkommen lässest Du die Lügner; Mörder und Fälscher sind dem Herrn ein Greuel.” Besonders denen, die das Recht beugen und Unrecht Recht heißen, wird immer wieder vor allem von den Propheten des Alten Bundes die schärfste Strafe Gottes angekündigt 22). Diese Drohung des gerechten Gottes gegenüber denen, die Unrecht tun, verwirklicht sich in furchtbaren Strafgerichten im einzelnen wie im nationalen Schicksal des Volkes Israel bis hin zur Vernichtung der beiden Reiche und Wegführung eines Großteils der Bevölkerung, ja bis hin zur Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 und bis auf den heutigen Tag. Aber auch im Neuen Testament ist immer wieder von diesem Gericht Gottes die Rede, das das offenkundige und das verborgene (Röm. 2, 16) menschliche Unrecht aufdecken und in der durchgreifenden Unterscheidung von gut und böse einen jeden nach seinen Werken beurteilen wird.

Dem hier drohenden verurteilenden Richterspruch des gerechten Gottes kann sich kein Mensch entziehen. Denn da ist keiner, der Gutes, nämlich nur Gutes tue, auch nicht einer; sie sind alle abgewichen und haben Unrecht getan (Ps. 14, 2). Kein Mensch darf von sich behaupten, daß sein Handeln stets der Norm seiner


21) Ez. 33, 20; Matth. 7, 2.
22) Amos 5, 7 und 12; 6, 12; Jes. 5, 20 und 23.

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Erkenntnis dessen, was recht und gut ist, entsprochen habe. So ist „kein Mensch auf Erden gerecht, daß er Gutes tue und nicht sündige” (Pred. 7, 20), und der Apostel Paulus führt aus, daß im Hinblick auf seine Leistung kein menschliches Wesen vor Gott gerecht gesprochen wird, so daß jeder Mund verschlossen und alle Welt vor Gott strafwürdig ist (Röm. 3, 19 f.). In diesem gerechten Gericht über alle, die Unrecht tun, wird sich also keiner vor Gott darauf berufen können, daß er doch jedenfalls teilweise das Recht befolgt und das Gute getan oder doch gewollt habe. Denn werd unter dem Recht steht, der ist verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten, will er anders gerecht sein (Gal. 3, 10 ff.; Jac. 2, 10). Auch unsere Justiz spricht einen Mörder deshalb nicht frei, weil er in so und so vielen Fällen und bei der und jener Gelegenheit nicht gemordet hat. Sondern er wird als Mörder verurteilt, weil er jedenfalls in einem Falle und bei der in Frage stehenden Gelegenheit gemordet hat. Deshalb heißt es in Jes. 64, 5 außerordentlich treffend: „All unsere Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Kleid.” Wenn nur ein einziger Flecken etwa auf einem Festgewand ist, dann ist das ganze Kleid als Festkleid nichts mehr wert und alle die vielleicht großen Flächen, auf denen sich kein Flecken befindet, helfen demgegenüber gar nichts mehr.

3. Werden wir schon am Maßstab unserer eigenen Gerechtigkeit vor Gott unseres Unrechtes überführt, so gilt es jetzt den letzen Schritt zu tun zu der Erkenntnis, daß wir nach biblischer Botschaft mit unserer eigenen Gerechtigkeitsbehauptung bereits im Unrecht vor dem gerechten Gott sind. Das Bisherige kann immer noch im Sinne von Ideal und Wirklichkeit verstanden, mißverstanden werden: Wir tun zwar Unrecht, aber doch haben wir das Wissen um das Gerechte und sind in solchem Wissen letztlich gerechtfertigt. Denn schließlich sind wir es, die die sittliche Freiheit haben, unser unrechtes Tun am Maßstab unseres Wissens um das Recht selbst zu verurteilen. Diese Illusion, als könnten wir uns über unser eigenes Unrecht durch den Akt der Verurteilung in sittlicher Freiheit erheben, wird bereits auf den ersten Blättern der Bibel zerstört.

Es handelt sich um die bekannte Geschichte von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, der im Paradiese stand. Gott hatte zu Adam gesagt: „Von dem Baum der Erkenntnis des Guten

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und Bösen darfst du nicht essen, denn sobald du davon ißt, mußt du sterben.” Die Schlange aber sagt: „Keineswegs werdet ihr sterben, sondern Gott weiß, daß, sobald ihr davon eßt, euch die Augen aufgehen werden. Dann werdet ihr sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist” (1. Mos. 2, 17 und 1. Mos. 3, 4 und 5). In der Tat hat also der ursprünglich von Gott geschaffene Mensch die Unterscheidung zwischen gut und böse und damit die hier gemeinte Art „sittlicher Freiheit” nicht 23). Er weiß, was gut ist, weil er es in ständiger Gemeinschaft mit seinem Schöpfer lebt. Aber er hart keinen Begriff des Guten, weil es ihm an der Vorstellung fehlt, daß das Gute eine Grenze habe. Deshalb gibt es hier kein Recht 24), weil zum Begriff der Gerechtigkeit die Unterscheidung des Guten und Bösen gehört. Die Fähigkeit, eine solche Unterscheidung zu treffen, wird von der Schlange angeboten, und das Angebot wird vom Menschen entgegen Gottes Gebot angenommen. Damit macht der Mensch die Erfahrung des Bösen und nun weiß er in der Tat, daß das Gute eine Grenze hat, eben im Bösen. Nun vermag er in der Tat zu unterscheiden zwischen gut und böse. Aber er ist nicht geworden wie Gott, der diese Unterscheidung als der schlechthin Gute 25) trifft, also in wirklicher „sittlicher Freiheit”, in wirklicher Überwindung des Bösen. Sondern dem Menschen ist gerade umgekehrt diese Unterscheidung zwischen gut und böse nur aus der


23) Die Bibel bringt damit zum Ausdruck, daß sie im Unterschied zu jeder Spielart idealistischer Anthropologie das Wesen oder die „Würde” des Menschen nicht in der „sittlichen Freiheit”, also einer vorgegebenen Neutralität zwischen gut und böse, sieht. Das Wesen des Menschen besteht für sie vielmehr darin, daß er von Gott angesprochen (und damit für den Nächsten ansprechbar) ist, also in einer Beziehung, in der er immer schon entweder gut oder böse ist, seiner Bestimmung nach gut, in der faktisch immer schon vollzogenen Verfehlung seiner Bestimmung böse.
24) Die Frage, ob es im Paradies schon Recht gegeben habe, mußte alle diejenigen Theologen und Juristen, denen an der „ewigen Würde” des Rechtes so viel liegt, stets aufs neue bewegen.
25) Die Bibel sagt hier lieber als „der Heilige” (vgl. Anm. 20) und vermeidet es damit, den durch den sittlichen Dualismus belasteten Begriff des Guten auf Gott anzuwenden. Wo sie ausnahmsweise doch von Gott als dem „Guten” spricht (z.B. Matth. 19, 17), da ist für die Interpretation zu beachten, daß hier also gut und böse nicht zwei Möglichkeiten sind, denen Gott zunächst neutral gegenüberstünde.

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Erfahrung seines bösen Gewissens heraus, also nur in tatsächlich bereits vollzogener Gebundenheit an das Böse möglich. Wo immer der Mensch die Unterscheidung zwischen gut und böse, zwischen Recht und Unrecht trifft, da wird nicht seine Freiheit, sondern seine Gebundenheit offenbar. Darum haben alle die Rechtsphilosophen etwas Richtiges gelehrt, die, im Anschluß an Schopenhauer 26), den Ursprung des Rechtes in der Tatsache des Unrechtes suchen.

Indem er Mensch sich die Unterscheidung zwischen gut und böse vindiziert, gibt er damit seine Emanzipationserklärung Gott gegenüber ab. Aus der Gemeinschaft mit seinem Schöpfer tritt der Mensch heraus dadurch, daß er isoliert erkennend, und das heißt ja wohl unterscheidend, nur noch bei sich selbst sein will 27). Statt sich das Gute, nämlich eben die Gemeinschaft mit Gott, von Gott selbst ständig neu schenken zu lassen, versucht der Mensch nun im Blick auf die von ihm zu erobernde Welt das Gute und die Güter oder auch die Werte zu postulieren und zu statuieren, zu erstreben und durchzusetzen. Jetzt such der Mensch seine Gerechtigkeit aufzurichten, wie der Römerbrief (10, 3) sagt. Der Mensch lebt davon, sich selbst ins Recht zu setzen und sein Recht den andern als Gesetz aufzulegen; daher der notwendige, aber


26) „Die Welt als Wille und Vorstellung” I, § 62. Vergleiche in diesem Zusammenhang auch Hans Kelsen, „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre” usw., 2Tübingen 1923, S. 53. Hier müßte eine Rechtsphilosophie einsetzen, die ohne gleich wieder in einen metaphysischen ordo-Gedanken zurückzufallen, den unhaltbar gewordenen idealistischen Ansatz der immer noch herrschenden Lehre wirklich überwinden und die Erkenntnisse moderner Philosophie für die Rechtslehre fruchtbar machen könnte. Ansätze in dieser Richtung sind unter anderem vom Felix Kaufmann, „Die Kriterien des Rechts”, Tübingen 1924, gemacht worden. Aber auch in dieser Hinsicht ist Gustav Radbruch (hauptsächlich „Grundzüge der Rechtsphilosophie”, 31932) noch nicht übertroffen.
27) Er sucht seine „Würde” in jener solipsistischen Neutralität (s. Anm. 23) und nicht mehr in den lebendigen Du-Ich-Beziehung (vgl. dazu Brunner, „Der Mensch im Widerspruch”, Berlin 1935, und die sich mit anthropologischen Fragen befassenden Arbeiten von Helmut Thielicke, besonders „Tod und Leben”, 2Tübingen 1942, und „Kirche und Öffentlichkeit”, Tübingen 1947).

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schuldhafte Kompromiß des Rechtes mit der Macht 28). Dabei ist er unter Umständen mit viel Idealismus am Werk, er scheut Opfer an materiellen Gütern nicht, wenn er nur sich ins rechte Licht und also ins Recht setzt, Recht behält, recht, wie er es versteht, schaffen und sich im Recht sichern kann; daher der notwendige, aber schuldhafte Kompromiß des Rechtes mit der Nützlichkeit 28). Je größer sein Idealismus ist, um so bereiter ist der Mensch, das, was der andere aus gleichen Antrieben tut, emphatisch als Unrecht zu bezeichnen, demgegenüber um der Durchsetzung des Rechtes willen auch ein Zugriff mit Gewalt nicht nur erlaubt, sondern geboten ist.

Der Ursprung dieses gesamten Gerechtigkeitsunternehmens des Menschen im Unrecht dokumentiert sich sehr handgreiflich darin, daß durch diese höchste, dem Menschen erreichbare Tätigkeit der Statuierung und Durchsetzung von Werten wohl hundertmal mehr Unheil angerichtet worden ist in der Welt als durch alle Mörder, Räuber und Diebe zusammengenommen. Denn um der höchsten Werte willen werden die grausamsten Kriege geführt. Um der Werte der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Gemeinwohles willen werden die blutigsten Revolutionen entfacht und Millionen von Menschen geistig und oft genug auch körperlich vergewaltigt. Sieht man im Lichte der Bibel auf die Weltgeschichte, so erkennt man, daß diese höchste Fähigkeit des Menschen, die Unterscheidung von gut und böse, das tiefste Unheil angerichtet hat, ja, daß gerade die schrecklichsten Partien der Weltgeschichte die Geschichte dieser Unterscheidung sind. So hat sich die Warnung Gottes: „Wenn ihr von diesem Baum essen werdet, werdet ihr sterben” in einer erschütternd anschaulichen Weise ständig neu erfüllt.

Es ist Gottes Gerechtigkeit, die dieses ganze Unternehmen der Aufrichtung unserer Gerechtigkeit als Unrecht enthüllt. Das ist nicht ein Machtspruch Gottes, der eben, wie man es so manchmal verstehen wollte, statuiert, daß unsere Leistung auf diesem Gebiet — und das sind unsere Staats- und Kulturleistungen, wie unsere individuellen Idealismen und guten Taten — vor ihm nichts gelten. Sondern wenn das alles als Unrecht entdeckt wird, so ist hier Gottes Gerechtigkeit am Werk. Denn dieses ganze


28) Vgl. unter (1) S. 22 f.

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Unternehmen ist aufgebaut auf der menschlichen Emanzipation von Gott, auf dem Selbstsein-, Selbstentscheiden- und Selbstunterscheidenwollen des Menschen. Es ist dem Menschen gesagt, daß dieser Weg in den Tod führt. Aber der Mensch beschreitet trotz des göttlichen Verbots diesen Weg. So ist es Gottes Gerechtigkeit, die ihn hier schuldig spricht. Denn es geht doch in dieser alten Geschichte von der Schlange um eine Beschreibung dessen, was mit in meinem Leben sichtbar wird, wenn Gott hineinleuchtet: Kann ich da noch behaupten, niemals von dem mir durchaus bekannten Weg Gottes abgewichen zu sein? Kann ich da noch behaupten, das, was ich tue in meinem Beruf oder anderwärts, wirklich im reinen Gehorsam um Gottes willen zu tun und nicht viel mehr um der Aufrichtung meiner Gerechtigkeit, meines Rechthabens und im-Recht-sein-Wollens willen? Es ist nicht nur „Adam” gegenüber, es ist wirklich uns gegenüber Gottes Gerechtigkeit, die unsere Gerechtigkeitsbehauptung und unser Gerechtigkeitsstreben als eitel Unrecht enthüllt und uns dafür zur Rechenschaft zieht. So ist also wirklich Gottes Gerechtigkeit das Ende unserer Gerechtigkeit als ihre Krisis und das Gericht über sie.

4. Aber weil es Gottes Gerechtigkeit ist, hat diese Sache nun noch eine andere Seite. Wir sind im Unrecht, wenn wir unsere eigene Gerechtigkeit aufrichten. Gottes Gerechtigkeit nimmt uns unsere Gerechtigkeit; aber damit nimmt sie uns zugleich unser Unrecht. Eben indem sie uns unser Unrecht nimmt, offenbart sie sich als die Gerechtigkeit Gottes. Denn die Gerechtigkeit Gottes, das ist, wie wir gesehen haben, das Sich-selbst-treu-bleiben Gottes, die Konformität seines aktuellen mit seinem ewigen Willen. Gott aber will mit dem Menschen Gemeinschaft haben, dazu hat er ihn geschaffen. Daß dieser Wille Gottes nicht aufgehoben wird durch den menschlichen Ungehorsam, das ist das zentrale Anliegen des Begriffes der Gerechtigkeit Gottes im biblischen Sinn (Deut. 32, 4; Jes. 45, 23 f.; Röm. 3, 3 f.).

Dieser Wille Gottes zur Gemeinschaft dokumentiert sich im Alten Testament in einer Folge von Bundschließungen Gottes mit dem Menschen; mit Adam, mit Kain, mit Noah,

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mit Abraham, mit Mose, mit David, schließt Gott einen Bund 29). Jeremia spricht von einem neuen Bund Gottes, der in die Herzen geschrieben ist (Jer. 31, 31 ff.) und noch Jesus bezeichnet in den Einsetzungsworten des Abendmahls das in ihm sich vollziehende Geschehen zwischen Gott und Mensch als Bundschließung (1. Kor. 11, 25; im Lateinischen irreführend mit „testamentum” übersetzt). Die aus der juristischen Dogmatik stammende Frage, ob es sich bei dem biblischen „Bund” um ein zweiseitiges oder ein einseitiges Rechtsgeschäft handle, ist deshalb nicht exakt zu beantworten, weil bereits die Frage von einer (römischen) Willenslehre und damit einer bestimmten Anthropologie ausgeht, die nicht die biblische ist 30). Man darf jedenfalls nicht an einen Vertrag zwischen gleichen Partnern denken, aber auch nicht an bloße Satzungen Gottes, die er kraft seiner Macht ohne die Richtung auf bestimmte Adressaten erlassen würde 31). Die Bibel will mit diesem Wort „Bund”


29) Eichrodt gibt in Grundlegung der gesamten Alttestamentlichen Theologie eine ausführliche Darstellung des Bundesgedankens (a.a.O. S. 6 ff.). Vgl. ferner Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, s.v. διαθήκη. Daß es sich der Sache nach auch bei Adam (1. Mose 3) und bei Kain (1. Mose 4, 15) um das Verhältnis handelt, das im Alten Testament sonst mit „Bund” bezeichnet wird, nimmt auch Ellul an (a.a.O. S. 37 ff.). Wenn aber die ausdrückliche Bezeichnung „Bund” hier fehlt, so hat das seinen tiefen Sinn in dem Empfinden des alttestamentlichen Erzählers, daß es den Adressaten dieser Bünde an geschichtlicher Konkretheit mangelt. Ein Bund Gottes mit der Menschheit (Adam) könnte im Sinne einer allgemeinen Wahrheit („der liebe Gott”) mißverstanden werden. Das Interesse des Bundesbegriffes liegt aber gerade darin, daß Gott in der Geschichte, und das heißt nicht allgemein, sondern jeweils besonders mit den Menschen und also mit besonderen Gruppen und Individuen von Menschen, handelt.
30) Auch der von Ellul zur Verdeutlichtung gewählte französische Rechtsterminus „contrat d’adhésion” (a.a.O. S. 37) steht zu sehr auf dem Boden dieser abendländischen Willenslehre, um das ausdrücken zu können, was die hebräische berith meint. Es ist für Theologie und Jurisprudenz ein gleich dringliches Anliegen, dieser Willenslehre historisch nachzugehen. Von theologischer Seite liegt eine ausgezeichnete Einzelmonographie vor: Ernst Benz, „Marius Victorinus und die Entwicklung der abendländischen Willensmetaphysik”, Stuttgart 1932.
31) Von da aus erheben sich grundsätzliche Bedenken gegen den Begriff der „institutions”, der adressatenlosen, gewissermaßen naturgesetzlichen Anstaltsordnungen Gottes, wie ihn Ellul (a.a.O. ➝

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ausdrücken, daß Gott wirklich die Verbindung mit dem Menschen sucht, und das nicht in einem unverbindlichen An-und-für-sich, sondern konkret von Fall zu Fall — in einem merkwürdigen Doppelsinn dieses letzten Wortes. Von Fall zu Fall heißt nämlich nicht nur von Mal zu Mal, also im realen Ablauf der Geschichte, sondern es heißt von einem Fall des Menschen zum andern. Denn der Bund mit Adam wird eben nach seinem Fall geschlossen und der Bund mit Kain, nachdem dieser seinen Bruder Abel gemordet hat und dafür von Gott zur Rechenschaft gezogen wurde. Bei dem Bund mit Noah nach der Sintflut wird von Gottes Seite ausdrücklich darauf hingewiesen, daß das Bestreben des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf (1. Mos. 8, 20), und es ist bei den weiteren Bundschließungen im Grunde nicht anders. Das heißt aber, daß Gott sich selbst treu bleibt in der Durchführung seines Gemeinschaft mit den Menschen suchenden Willens trotz des ständig neuen Unrechtes auf menschlicher Seite.

Gemeinschaft Gottes mit uns Menschen ist aber nur möglich, wenn Gott selbst das Unrecht wegnimmt, das durch unsere Schuld zwischen uns und ihm steht. Er kann dieses Unrecht nicht auf sich beruhen lassen und gewissermaßen darum herum mit uns in Verbindung treten. Sonst wäre er nicht der gerechte Gott, sondern ein Gott, dessen eigene Rechtssatzungen nicht an seiner Gerechtigkeit normiert und also belanglos wären, nicht der Gott der Bibel, der unser Unrecht am Maß seiner Gerechtigkeit aufdeckt. Deshalb trennt uns die schuldhafte Unvollkommenheit unserer Gerechtigkeitsübung, unser Tun des Bösen, die Aufrichtung unserer eigenen Gerechtigkeit, kurz, unser ganzes Im-Unrecht-Sein von der Gerechtigkeit Gottes und damit von Gott selbst, denn er ist Gerechtigkeit. Aber nun ist es gerade seine Gerechtigkeit, die, wie es im Buch des zweiten Jesaja besonders deutlich wird, „die Vollendung


➝ S. 57 ff.) einführt. Es handelt sich hierbei doch wohl um die ordinationes dei, aus denen schon die Scholastik und teilweise noch die Reformatoren, erst recht aber der Neuprotestantismus Staat und Recht und dergleichen abgeleitet haben. Im Grunde wird damit das Handeln Gottes naturhaft verstanden und dann, wie im landläufigen Naturrechtsbegriff, auch das recht. Die Bibel aber verkündigt das geschichtliche Handeln Gottes mit dem Menschen, und die Rechtswissenschaft müßte sich darüber klar werden, daß Recht eine geschichtliche (nicht historische im Sinne der historischen Rechtsschule) Erscheinung ist.

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eines Gemeinschaftsverhältnisses herbeiführt, in dem das völlige menschliche Versagen offenbar geworden ist, während die Kontinuität des göttlichen Wirkens, sein treues Festhalten am einmal gesetzten Ziel im hellsten Lichte erstrahlt” 32). Hier wird die Gerechtigkeit Gottes zur Rechtfertigung des Gottlosen. Der biblische Begriff der Gerechtigkeit Gottes wird nicht gesprengt, sondern in seiner Tiefe erfüllt, wo Gerechtigkeit mit dem Bund, ja mit der Gnade Gottes in Parallele oder gleich gesetzt wird. Wir verstehen von hier aus auch das sonst Unverständliche, daß Gottes Gerechtigkeit in der Bibel Freispruch nicht des schuldlosen, sondern des schuldigen Menschen und also Vergebung der Sünden bedeuten kann 33).

Es ist ja wohl schon deutlich geworden, daß wir uns hier auf einer biblischen Linie bewegen, die ihren Zielpunkt und damit ihren inneren Sinn im Kreuz Jesu Christi hat. Hier wird die Gerechtigkeit Gottes offenbar als das ende unserer Gerechtigkeit, und damit als die Aufdeckung wie als die Wegnahme unseres Unrechts. Die Gerechtigkeitsbehauptung des Menschen führt bis dahin, wo die Menge beim Prozeß Jesu ruft: „Wir haben ein Gesetz und nach diesem Gesetz muß er — er, der einzig Gerechte 34) — sterben” (Joh. 19, 7). Damit ist, in Abwandlung des alten Wortes, summa justitia als summa iniuria enthüllt. Aber indem uns so im Kreuz Christi der Anspruch unseres Im-Recht-Seins genommen wird, wird uns auch unser Im-Unrecht-Sein genommen. Selbst das


32) Eichrodt, AT-Theologie I, S. 125.
33) Die Parallel Gerechtigkeit-Gnade ist etwa in den Psalmen nahezu stehende Wendung. Zu Gerechtigkeit als iustificatio iniusti vergleiche aus dem Alten Testament außer Deuterojesaia 5. Mose 32 und Stellen wie Jer. 9, 23; Psalm 31, 2 und 11; 51, 16; 65, 4 und 6; 143, 1 f.; Micha 7, 9; aus dem Neuen Testament neben dem Römer- und Galaterbrief vor allem das Lukasevangelium.
34) Matth. 27, 19, 24; Luk. 23, 47; Act. 3, 14; 7, 52. Hier mündet eine aus dem Alten Testament, besonders Psalmen, über die Sap. Salm. (cp. 2 ff.) kommende Betrachtungsweise in die urchristliche Verkündigung ein: Die Gerechten als die vor dem irdischen Richter Rechtlosen sind es, an denen Gott und durch die Gott seine Gerechtigkeit in Herrlichkeit offenbart. „Der Gerechte” ist schon bei Deuterojesaia Terminus für den Träger des göttlichen Heilswillens (Jes. 45, 23 f.; Sa. 9, 9).

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Fehlurteil des Pilatus 35), selbst die gotteslästerliche Berufung der Juden auf das Gesetz, nach dem der Gerechte sterben muß, wird eingeordnet in Gottes sich gleichbleibenden Heilswillen, das ist, in die göttliche Gerechtigkeit. Denn Pilatus und die Juden müssen doch in ihrem Unrecht das ausrichten, was Gottes Gerechtigkeit verlangt. Denn nicht nach der Menschen Bosheit, sondern nach Gottes gerechtem und gnädigem Willen ist Christus am Kreuz gestorben.

5. Es ist also in der Tat wahr, was der Apostel Paulus sagt, daß unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit preist (Röm. 3, 5). Aber wenn unsere Ungerechtigkeit auch in dieser Weise in Gottes Gerechtigkeit hineingeordnet wird, so ist sie damit nicht gerechtfertigt, so daß wir gar noch stolz auf sein könnten. Sie ist uns vielmehr weggenommen, wie alles, was wir von uns aus haben und sind. Wir haben kein Recht mehr, weder in unserer eigenen Gerechtigkeit, die zunichte gemacht worden ist durch das Kreuz Christi, noch auch in unserem Unrecht, das Christus hinweggetragen hat damit, daß er die Strafe der göttlichen Gerechtigkeit für unser Unrecht getragen hat an unserer statt. „Christus ist uns gemacht zur Gerechtigkeit” (1. Kor. 1, 3). Aber schließlich ist uns auch der Blick auf unsere eigene Rechtlosigkeit, Armseligkeit und Schwäche verwehrt, als ob wir in solcher Armut gerechtfertigt wären, wie es gelegentlich in mystischen Texten erscheinen mag. Wo es um die Frage der Gerechtigkeit geht, da kann der Mensch im Glauben nur noch wegsehen von sich und sprechen: „Im Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke” (Jes. 45, 24). So wird das geradezu der Name Gottes für die Gemeinde: „Der Herr unsere Gerechtigkeit” (Jer. 23, 6).

Darin wird deutlich, inwiefern wir Menschen bei alles Besinnung über die Gerechtigkeit letztlich immer nur zu einer formal


35) Siehe dazu im besonderen Karl Barth, „Rechtfertigung und Recht”, 2Zollikon-Zürich 1944, S. 9-14. Die Folgerungen, die Ellul (a.a.O. S. 43) aus diesen Ausführungen Barths zieht, als ob damit das menschliche Recht als solches samt seiner Fehlsamkeit von Gott „angenommen” („accepté”, „assumé”) sei, nivellieren juristisch den Unterschied zwischen besserem und schlechterem Recht und Rechtsübung und verkennen theologisch, daß Vergebung der Sünden nicht Annahme, sondern Wegnahme des Unrechts bedeutet.

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bestimmten Gerechtigkeitsidee kommen 36). Wir wissen um Gerechtigkeit, aber wir haben sie nicht, oder genauer: wir wissen, wie Gerechtigkeit sein müßte, aber wir wissen nicht, was Gerechtigkeit ist. Wir verfügen also weder in unserem Tun noch in unserem Wissen über Gerechtigkeit, denn sie ist allein Gottes Sache und liegt damit außerhalb unseres Bereiches. Aber sie liegt nicht so draußen, daß sie uns nichts anginge, sondern wir sind auf sie bezogen, weil sie da steht, wo wir stehen müßten, aber faktisch nicht stehen. Die Gerechtigkeit Gottes ist also stellvertretende Gerechtigkeit. Sie schiebt uns darin nicht beiseite, sondern meint gerade darin die Herstellung der Verbindung mit uns. Deshalb bedeutet die Gerechtigkeit Gottes für den in seinem Unrecht verwirrten Menschen Trost und Hilfe 37). So fleht gerade der Schwache oder Unterdrückte, der zerbrochenen Herzens ist (Ps. 34, 19), ja der Schuldige (Ps. 51; 65; 143) Gott „um seiner Gerechtigkeit willen” um Hilfe an 38).

Freilich bleibt die Erkenntnis des eigenen Unrechts die Voraussetzung der menschlichen Beziehung auf die Gerechtigkeit Gottes. „Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde haben, führen wir uns selbst irre ... wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, so daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit” (1. Joh. 1, 9). Es ist also die Haltung, die in dem „Gebet Daniels” zum Ausdruck kommt: „Ach Herr, Du großer und furchtbarer Gott, der Du denen, die Dich lieben und Deine Gebote halten, den Bund und die Gnade bewahrst, wir haben gesündigt und uns verschuldet, wir sind gottlos gewesen und abgefallen, wir sind abgewichen von Deinen Geboten und Deinen Satzungen. Wir haben auch nicht gehört auf Deine Knechte, die Propheten, die in Deinem Namen zu unseren Königen und


36) Siehe die Darstellung bei Wolf, „Gerechtigkeit”.
37) z.B. Sach. 9, 9.
38) Von da aus kann es dazu kommen, daß wenn etwa der Psalmist von „meiner Gerechtigkeit” redet, in der Tat die im Glauben als die meine ergriffene stellvertretende Gerechtigkeit Gottes gemeint ist. Bekanntlich hat Luther die Psalmen so verstanden. Es darf aber nicht verkannt werden, daß sich daneben und darunter ein Pochen auf die eigene Leistungsgerechtigkeit im ganzen Alten Testament immer wieder bemerkbar macht und freilich auch immer wieder bekämpft wird.

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Fürsten, zu unseren Vätern und zu dem ganzen Volk des Landes geredet haben. Du, o Herr, bleibst im Rechte, wir aber müssen vor Scham erröten. ... So ist all dies große Unglück über uns gekommen, denn der Herr unser Gott ist gerecht in allen Werken, die er tut. Wir aber hörten nicht auf Seine Stimme ... Aber nun, o Herr, um aller Deiner Gerechtigkeit willen, wende ab Deinen Zorn und Grimm. Denn wir liegen vor Dir mit unserem Gebet, nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf Deine große Barmherzigkeit. ... Verziehe nicht, um Deiner selbst willen, mein Gott, denn Deine Stadt und Dein Volk ist nach Deinem Namen genannt” (Dan. 5, 4 ff., ähnlich Mich. 7). Wenn wir uns auf die Gerechtigkeit beziehen, so kann das jetzt nur noch heißen, daß wir Gott darum bitten, er möge sein eigenes Handeln auf seine Gerechtigkeit bezogen sein lassen, er möge „um seines Namens willen” 39) — und sein Name ist eben „der Herr unsere Gerechtigkeit” — gnädig handeln; er möge nichts uns ansehen, sondern er möge seinen lieben Sohn ansehen, der an unserer Stelle für uns genug getan hat.

6. Steht es nun so mit der Gerechtigkeit, hat es dann noch einen Sinn, wenn wir uns um das Recht mühen? Anders ausgedrückt: Ist Gottes Gerechtigkeit, die das Ende unserer Gerechtigkeit ist, auch das Ende unseres Rechtslebens? Dann könnten Christen weder Politiker noch Richter noch auch nur loyale Rechtsgenossen sein. Dann hätten die Eiferer recht, die im Verlauf der Geschichte der christlichen Kirche immer einmal wieder gefordert haben, daß wahre Christen auswandern müßten aus der menschlichen Gesellschaft in irgend eine einsame Wüste.

Das Gegenteil von alledem ist der Fall. Denn irgendeinem Recht entgingen wir ja auch in der Wüste nicht, und sei es nur im Verhältnis zu den wenigen, mit denen wir zusammenlebten. Recht ist eine Grundgegebenheit des menschlichen Lebens, der man erst mit dem Tode entrinnt. Nun ist uns aber gerade darum, daß uns unsere Gerechtigkeit genommen ist, das Ausruhen auf irgend einer Gerechtigkeitsbehauptung verboten. Eine solche Gerechtigkeitsbehauptung liegt jedem Recht und jeder geltenden Rechtsordnung


39) Diese Formel ist Parallele zur Gerechtigkeit Gottes etwa Ps. 31, 2 und 4.

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zugrunde. Würden wir untätig, uninteressiert und kritiklos innerhalb einer beliebigen Rechtsordnung leben, so würden wir damit die Gerechtigkeit Gottes verleugnen, anstatt sie, wie es uns aufgegeben ist, zu verkündigen. Denn Gerechtigkeit Gottes heißt zwar, daß wir keine eigene Gerechtigkeit haben, daß wir aber durchaus eine Beziehung zur Gerechtigkeit haben, nicht die Beziehung des Besitzes oder des Verfügenkönnens, aber die Beziehung des Angewiesenseins auf die Gerechtigkeit Gottes und deshalb die Beziehung des ständigen Hörens, Wartens, Ringens und uns Ausstreckens nach der Gerechtigkeit.

So ist die Gerechtigkeit Gottes nicht das Ende unseres Lebens unter dem Recht, sondern vielmehr die Kraft unserer Frage an das Recht nach dem Recht. Wenn wir als Gesetzgeber, und damit zum Beispiel auch als politische Wähler, als Richter und Rechtsgenossen an alles, was mit dem Anspruch des Rechtes an uns herantritt, die Frage richten, ob es wirklich Recht sei, so tun wir das, was der göttlichen Gerechtigkeit entspricht. Es kommt dabei alles darauf an, daß wir nicht fragen als solche, die es besser wissen, sondern als solche, denen die eigene Gerechtigkeit genommen ist, weggenommen und abgenommen ist. Daß sie uns weggenommen ist, macht unser Fragen ehrlich. Daß sie uns abgenommen ist, macht unser Fragen frei vom Blick auf uns und von der Furcht vor den andern, also frei zur Sache.

Aus der Erkenntnis aber, daß wir Menschen nicht im Besitz der Gerechtigkeit sind, entspringen für unsere Rechtsgestaltung wesentliche Folgen, die im Zusammenhang unseres Themas nur angedeutet werden können: Keine Rechtsordnung darf sich als endgültig in dem Sinne verstehen, daß sie sich selbst für irrevisibel erklärt. Das ist von besonderer Bedeutung im Blick auf Verfassung und auf internationale Verträge, speziell auf Friedensverträge. Der Satz: „Fiat iustitia, pereat mundus” ist grundsätzlich richtig. Doch ist da, wo etwas untergeht, wo Leben vernichtet, Freiheit genommen, Ehre geschmälert wird, mit besonderer Dringlichkeit zu fragen, ob es wirklich das in dem konkreten Fall als das beste zu erkennende Recht ist, das solchen „Untergang” verlangt. Allein die Ernsthaftigkeit solcher Frage wird das Rechtsleben von manchem Unrecht bewahren, das aus allzu selbstsicherer Rechtsroutine entsteht, um anderer Motive gar nicht zu gedenken.

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Vor allem aber verlangt die Tatsache, daß wir nicht über die Gerechtigkeit verfügen, eine eindeutige Positivierung des Rechts. Die direkte Beziehung der Rechtsprechung auf ein mehr oder weniger nebuloses Rechtsgefühl, sei es des Richters oder des Machthabers oder der Allgemeinheit, ist deshalb unmöglich, weil uns Menschen der Maßstab der Gerechtigkeit nicht zur Verfügung steht. Wir müssen uns vielmehr darauf einigen, was als Recht zu gelten hat 40). Denn auch der unmittelbare Rückgriff auf gut und böse ist dem Recht verboten, obwohl die reine Gerechtigkeit ihn verlangte. Aber wir haben die reine Gerechtigkeit nicht. Deshalb darf sich keine Rechtsordnung gerieren, als ob wir sie hätten. Das gilt verstärkt im Strafrecht. Denn wir, denen die eigene Gerechtigkeit genommen ist, können einen Verbrecher nicht deshalb verurteilen, weil er im Gegensatz zu uns, den Guten, böse wäre, sondern höchstens deshalb, weil er die ihm bekannte Ordnung unseres Zusammenlebens mutwillig gestört hat und über die Folgen solcher Störung vor der Tat belehrt war oder doch sich hätte belehren können 41). Das sagt nicht, daß seine Tat nicht etwa sittlich verwerflich sei. Es sagt nur, daß nicht sittliches Pathos auf dem Richterstuhl zu entscheiden hat, sondern schlichte Gesetzeskunde und sorgfältige Gesetzesanwendung.

Hier gibt es nun auch einen theologisch legitimen Ort des Naturrechts, wenn es verstanden wird, als ständige Frage an das positive Recht, ob es auch Recht sei 42). Nicht ein System des


40) Da wir uns also dahin bescheiden müssen, das Recht weithin als Übereinkunft zu verstehen, so beansprucht etwa im Völkerrecht der Grundsatz „pacta sunt servanda” unbedingte Geltung, die ihre Grenze nur an der Frage nach dem besseren Recht findet. Gerade deswegen aber sind Revisibilitätsklauseln und dergleichen in den Verträgen von grundsätzlicher Bedeutung, da das pactum sonst praktisch eine absolute Gerechtigkeitsbehauptung enthalten würde, die nie wirklich, sondern immer angemaßt ist.
41) Eine theologische Besinnung über das Recht müßte von hier aus die Probleme des Analogieverbotes im Strafrecht oder des „nulla poena sine lege” erörtern, ebenso wie die Frage, ob nicht von der gewonnenen Erkenntnis aus der objektiven Strafrechtstheorie grundsätzlich der Vorzug vor jeder subjektiven gegeben werden müßte.
42) Man kann durchaus mit Max Huber bei Ellul (a.a.O. S. 65) und in gewissem Anschluß an Stammler (vgl. besonders sein „Lehrbuch der Rechtsphilosophie”, Berlin und Leipzig 1922) ➝

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Naturrechts, aber gerade ein wieder in sich fragliches Naturrecht kann seinen Platz in der Verkündigung der Gerechtigkeit Gottes haben. Denn wo das Naturrecht nicht in sich fraglich ist, da verliert es seine kritische Kraft. Da könnte dann das positive Recht ihm einfach nachgestaltet werden und hätte so Anlaß zu der Behauptung, ein für alle Male im Recht zu sein oder also schlechthin die Gerechtigkeit zu verwirklichen 43). Gerade diese Behauptung aber ist uns und jedem menschlichen Rechtssystem durch die Gerechtigkeit Gottes verboten. Mit dieser Behauptung würde sich ein Rechtssystem endgültig ins Unrecht setzen. Das würde sich praktisch sehr bald darin zeigen, daß von Seiten dieses Rechtssystems ein unerträglicher Anspruch allen anderen Rechten gegenüber erhoben würde, der bald zu einem ideologischen und in der Folge wohl auch zu


➝ auch die „Gerechtigkeit” in diesem Sinne als transzendentalen Rechtsbegriff mit kritischer Funktion verstehen.
43) Es handelt sich um die alte Frage, ob die νόμοι ἂγραφοί nur eben nicht kodifiziert, oder ob sie vielmehr grundsätzlich nicht schreibbar sind, weil sie keinen positiven Inhalt haben, sondern ein kritisches Verhältnis ausdrücken. Vielen erscheint es logisch oder gar moralisch unzulässig, kritisch zu fragen, ohne daß zuerst eine neue Position beschrieben wird, von der aus das Gegebene kritisch in Frage gestellt wird. Die erkenntnistheoretische Widerlegung dieses Einwandes ist möglich, würde hier aber zu weit führen. Statt dessen sei auf die Gestalt des Sokrates verwiesen, wie sie Plato thematisch zeichnet. Hier ist die aus dem echten Nichtwissen geborene Infragestellung der Besitzsicherheit der angeblich Wissenden die dem Menschen eigentlich zukommende Haltung, weil es die Wahrheit des Menschen ist, daß er die Wahrheit nicht hat, aber auf sie bezogen ist. Diese platonische Erkenntnis wird von der Bibel dahin vertieft und korrigiert, daß Wahrheit kein Phänomen, weder ein erreichbares, noch auch ein unerreichbares ist, sondern die Echtheit der personalen Beziehung zu Gott, so wie sie letztlich nur in der Beziehung des Christus zu seinem Vater verwirklicht wird (Joh. 1, 18). Der Mensch bekommt Zugang oder Anteil an der Wahrheit, die Gottes ist, wenn und soweit er in diese Beziehung hineingenommen wird (Joh. 17). Entsprechendes gilt von der Gerechtigkeit. Das Naturrecht steht hier da, wo das sokratische Nichtwissen hinsichtlich der Wahrheitsfrage steht. Es wird von der Bibel vertieft und korrigiert durch den Gedanken der stellvertretenden Gerechtigkeit, d.h. wir sind auf Gerechtigkeit bezogen (Naturrecht), wir haben Gerechtigkeit nicht (Fragecharakter des Naturrechts), wir haben aber teil an der Gerechtigkeit, weil und sofern uns Christus zur Gerechtigkeit gemacht ist (Überbietung und Korrektur des Naturrechtsgedankens).

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einem politischen Imperialismus führen müßte. Es ist Gottes Gerechtigkeit, die uns die Relativität und damit Veränderlichkeit und Verbesserlichkeit jedes Rechts sehen läßt, und indem sie es uns sehen läßt, uns an die Arbeit solcher Verbesserung des Rechtes weist. Das Recht ist also nicht etwas in sich Ruhendes, das nur gegeben ist, sondern etwas, was zu unserer Existenz gehört und uns deshalb aufgegeben ist. In unserem Existieren verhalten wir uns ja stets, ob wir wollen oder nicht, so oder so zum Recht. Darüber mehr zu handeln ist hier nicht unsere Aufgabe.

7. Gewiß lebt eine Rechtsordnung nicht von der Frage an das Recht oder von ihrer eigenen Verbesserungsbedürftigkeit und Verbesserungsfähigkeit. Aber eine Rechtsordnung lebt auch nicht von der göttlichen Gerechtigkeit, sondern, wie wir gesehen haben, vom menschlichen Unrecht. Die göttliche Gerechtigkeit ragt aus einer anderen Welt in unsere Welt des Rechtes herein als Frage und Forderung. Aber sie wird nie zu einem Bestandteil oder gar zu der Substanz einer menschlichen Rechtsordnung 44).

Damit ist noch einmal gesagt, daß menschliches Recht nicht verstanden werden darf als ein, wenn auch noch so abgeleitetes Derivat der göttlichen Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit Gottes ist in der Bibel ein eschatologischer Begriff 45). Unser Recht kommt also nicht von der Gerechtigkeit her, sondern es geht auf die Gerechtigkeit zu. Damit geht es auf sein Ende zu. Unser Recht in seiner Beziehung auf die Gerechtigkeit Gottes betrachten, heißt, es von seinem


44) Von einer Analyse des negativen Charakters der zehn Gebote aus kommt Thielicke („Kirche und Öffentlichkeit”, a.a.O. S. 96) zu einem ähnlichen Ergebnis. Er zitiert dort auch in demselben Sinn einen amerikanischen Theologen.
45) So auch Ellul a.a.O. S. 29, der freilich in dem das Verhältnis von Recht und Eschatologie behandelnden Abschnitt (S. 71 ff.) zu sehr im biblischen Referat stecken bleibt, um die Bedeutung dieser Erkenntnis für unser Recht voll auszuschöpfen. Helmut Coing, „Die obersten Grundsätze des Rechts, Ein Versuch zur Neugründung des Naturrechts”, Heidelberg 1947, spricht davon, daß „vollkommene Gerechtigkeit ... ein Attribut der Gottheit” allein sein müsse (S. 52). Obwohl er selbst sich da und dort um ein christliches Verständnis dieses Satzes bemüht, entgleitet ihm dieses fort und fort, da er den eschatologischen Charakter der göttlichen Gerechtigkeit nicht sieht.

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realen Ende her betrachten. Man kann das nur tun, wenn das Ende kein zufälliges Aufhören ist, sondern wenn es zum Wesen des Rechts gehört, daß es ein Ende hat mit ihm. Das aber ist gemeint, wenn die Gerechtigkeit Gottes im Verhältnis zu unserem Recht als eschatologische Größe verstanden wird. Für die theologische Betrachtung erschließt sich das Wesen des Rechts nicht von seiner „Ewigkeit”, sondern von seiner Endlichkeit aus. Dies müßte in einer Phänomenologie des Rechtes im einzelnen aufgewiesen werden.

Hier geht es abschließend nur noch um den Hinweis darauf, daß das Recht durch dieze Bezogenheit auf die Gerechtigkeit Gottes als auf sein Ende nicht nur seine Relativität (siehe oben), sondern auch seine Verheißung empfängt. Daß der Mensch Gesetzgeber sein soll, daß er Richter sein soll über seinen Nächsten, daß er sich dem gesetzten Recht unterwerfen und die lex lata durch die lex ferenda verbessern soll, das alles kann er ja doch nur dann in Freiheit auf sich nehmen, wenn er um das Ende alles Rechtes weiß. Dann weiß er nämlich als Gesetzgeber, daß er mit seinen Gesetzen nicht das Reich Gottes zu bauen braucht, sondern daß er das Seine getan hat, wenn er die irdische Ordnung in all ihrer Fragwürdigkeit für eine kleine Zeit zu erhalten geholfen hat. Dann weiß er als Richter, daß er nicht die letzte Instanz ist, mit deren Spruch ewiges Schicksal entschieden wird, sondern daß das Verfahren, in dem er jetzt so notvoll zu entscheiden hat, noch einmal aufgerollt wird von dem gerechten Richter, der die Herzen kennt. Er weiß dann, daß selbst sein Urteil über Leben und Tod ein menschliches, ein vorläufiges Urteil ist, ergangen von solchen, die den Leib töten, aber die Seele nicht töten können (Matth. 10, 28). Er weiß als Rechtsunterworfener im Recht, daß sein Rechthaben ein Ende hat und deshalb in Verantwortung vor dem ewigen Richter gelebt sein will. Er weiß als Rechtsunterworfener ohne Recht, daß ihm die in Wahrheit sein Recht nicht nehmen können, mit denen es ein so rasches Ende hat, daß aber sein Recht kommt. Alles Rechtswesen bleibt vor Überheblichkeit bewahrt, wenn es um sein Ende weiß und es empfängt aus dieser Verheißung Kraft zur Rechtlichkeit. Denn Überheblichkeit ist der Todfeind der Rechtlichkeit 46).


46) Vgl. schon das Verhältnis von Hybris und Dike im Griechentum.

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Nimmt das menschliche Recht seinen Ursprung aus dem Unrecht (siehe oben), so ist es Verheißung, wenn ihm gesagt wird, daß es zu Ende geht mit ihm. In der Tat bedeutet die eschatologische Gerechtigkeit Gottes den endgültigen Sieg über alles Unrecht. Dieses eschatologische Besiegtwerden und Überwundensein durch Gott drückt unserem Recht schon jetzt seinen Stempel auf. Alles menschliche Recht ist schon jetzt, wenn auch verborgen, ein von Gottes Gerechtigkeit überwundenes und darin letztlich ihr dienstbares Recht. Darüber hat Ellul 47) ausführlich gehandelt, und was er sagt, wäre ganz richtig, wenn die Herrschaft Christi, und damit der Sieg der Gerechtigkeit Gottes, nicht eben verborgen wäre, solange wir in diesem Äon leben 48). Das heißt aber, daß man um das Ende des Rechtes und damit um seine Niederlage und seine Dienstbarkeit gegenüber der Gerechtigkeit Gottes, damit endlich auch um seine Verheißung nur im Glauben wissen kann, also gegen allen Anschein und ohne die Möglichkeit des Nachweises. Daß das Recht eine Verheißung in seinem Ende hat, das kann sich der unter der Notwendigkeit des Rechts stehende Mensch nur sagen lassen von außen, vom Worte Gottes, das kann er nicht wissen oder sehen von da aus, wo er steht. Deshalb muß es für uns bei der uneinsichtigen und völlig paradoxen Wendung bleiben: „Wahret das Recht und übet Gerechtigkeit, denn bald wird mein Heil kommen und meine Gerechtigkeit sich offenbaren” 49). Eine andere Beziehung unseres Rechtes auf die Gerechtigkeit Gottes als diese dem Recht von außen zugesprochene, keineswegs von innen ansichtige, gibt es nicht. Es soll uns aber gesagt sein, daß darin die Verheißung


47) a.a.O. S. 43, S. 71 ff.
48) Ellul liegt darin auf einer Linie mit K. Barth, „Rechtfertigung und Recht”, Zürich 1944 und „Christengemeinde und Bürgergemeinde”, Stuttgart 1946, auch mit Visser ’t Hooft, „The Kingship of Christ”, New York, 1947. Hier wird überall richtig die Herrschaft Christi über die Mächte und Gewalten, und also über diese Welt schon jetzt, mehr betont als das in der deutschen, besonders lutherisch bestimmten Theologie bisher geschehen ist. Andererseits wird hier nicht klar herausgearbeitet, was die im Neuen Testament betonte Verborgenheit solcher Herrschaft bedeutet. (Vgl. jetzt auch die Besprechung des Ellulschen Buches durch O. Weber in „Verkündigung und Forschung” III, München 1947, S. 215 ff.)
49) Jes. 51, 6. Ich wurde durch Ellul (a.a.O. S 90) auf dieses Wort aufmerksam.

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für uns, auch soweit wir vom Recht bestimmt sind, liegt. Denn die Gerechtigkeit Gottes, die am Ende steht, ist dieselbe, die am Anfang stand, „ehe der Welt Grund gelegt war”. Sie ist ja doch der sich selbst treu bleibende Heilswille und Heilsplan Gottes. „Gerecht bist du, der ist und der war, du Heiliger, daß du solche Urteile gefällt hast” (Apg. 16, 5). „Gerechter Vater, auch wenn die Welt dich nicht erkannt hat, so habe doch ich dich erkannt und diese haben erkannt, daß du mich gesandt hat” (Joh. 17, 26).

Die Christen, soweit sie solche sind, die die Gerechtigkeit Gottes verkündigen, leben als tätige Glieder innerhalb irdischer Rechtsordnung. Weil sie wissen, daß wir die Gerechtigkeit nicht haben, daß aber Gott kraft seiner Gerechtigkeit das Recht lieb hat, deshalb setzen sie sich mit absoluter Energie für das relativ bessere Recht gegen das relativ schlechtere Recht ein. Sie werden aber nie glauben, mit ihrem Kampf für das bessere Recht absolut im Recht zu sein, sie werden vielmehr im jeweiligen Gehorsam gegen den lebendigen Gott, je nachdem, das Recht zu ändern oder es zu befolgen suchen; sie werden aber beides nicht tun um ihres Rechthabens willen, sondern um Gottes willen, vor dem sie im Unrecht sind, der ihnen aber kraft seiner gnädigen Gerechtigkeit Recht geben kann, wo und wann es ihm gefällt. Sie werden jedenfalls für ihre Person jeden Rechtsmoralismus ablehnen und die Gerechtigkeitsbehauptung irgend einer Rechtsordnung nicht mitmachen. Christen, soweit sie die Gerechtigkeit Gottes verkündigen, gehören immer zu denen, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit (Matth. 5, 6), aber auch zu denen die um Gerechtigkeit wissen, weil sie „eines neuen Himmels und einer neuen Erde warten nach seiner Verheißung, in welchen Gerechtigkeit wohnt” (2. Petr. 3, 13). Daß in diese also erwartete Gerechtigkeit Gottes auch das Unrecht unserer irdischen Rechtsordnungen hineingenommen und von ihr hinweggenommen werde, daß also auch unsere menschlichen Rechtsordnungen, wie das Urteil des Pilatus, „von Fall zu Fall” der göttlichen Gerechtigkeit dienstbar gemacht würden, das ist das Gebet der Christen im Rechtsleben um das Kommen des Reiches Gottes und um die Vergebung der Sünden.