§ 2.
Weltliches Recht.

 

Welche Gemeinschaft ist die sittlich notwendige Gemeinschaft, die berufen ist, Zeugerin und Trägerin der Rechtsentwicklung zu sein?

Die Antwort der Geschichte lautet: die Volksgemeinschaft.

Mit der Volksgemeinschaft entsteht das Recht. Aus den Notwendigkeiten des Volkslebens erwächst, wie das öffentliche Recht, so das Privatrecht.

Die Volksgemeinschaft ist eine sittlich notwendige Gemeinschaft. Der einzelne ist nichts ohne sein Volk. Was er körperlich, geistig, sittlich ist und hat, das ist und hat er durch sein Volk. Das Volk gab dir dein Leben: so gib es ihm zurück! Gebet dem Volke, was des Volkes ist! Nur wer sein Einzelleben an sein Volk zurückgibt, wird es gewinnen. Unserem Volke zu dienen, ist unsere irdische Bestimmung. Einordnung in das Volk, Unterordnung unter die Notwendigkeiten des Volkslebens (die Rechtsordnung) ist sittliche Pflicht.

Die Volksgemeinschaft ist eine Zwangsgemeinschaft. Die um der Erhaltung der Volksgemeinschaft willen notwendige Ordnung des Volkslebens ist Rechtsordnung.

Die Volksgemeinschaft ist Rechtsquelle. Sie erzeugt den Staat: den Träger und Erhalter der volklichen Macht. Sie erzeugt das Eigentum: die Macht des Volkes steigernd durch Freiheit. Sie erzeugt die weltliche Obrigkeit und das weltliche Recht.

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Der persönliche Umkreis der in Rechtserzeugung wirksamen Volksgemeinschaft ist geschichtlich ein verschiedener. Die Entwicklung beginnt überall mit dem Kleinvolk. Sie führt die Kulturvölker in unsäglicher Arbeit zu der Bildung des den Anforderungen der Weltgeschichte gewachsenen Großvolkes. Ebenso hat der sachliche Umkreis, das Gebiet des von der Rechtsordnung ergriffenen Volkslebens gewechselt. Es wechselten die Anschauungen darüber, was um der Erhaltung des Volkes willen notwendig sei. Zu Zeiten sind Teile der gesellschaftlichen Sitte rechtlich geregelt worden (Kleiderordnungen, Luxusgesetze). Viele Jahrhunderte lang galt es als unerläßlich, daß alle Staatsbürger desselben religiösen Glaubens seien. Unaufhörlich gibt es Schwankungen bald im Sinn der Erweiterung, bald im Sinn der Einschränkung der Rechtszuständigkeit1, eine Erscheinung, die sich heute vor allem auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Lebens äußert. Immer aber bleibt der Grundgedanke des zurzeit geltenden Rechts, daß um der Erhaltung des Volkes willen solche Ordnung notwendig sei. Was um des Volkes willen zu fordern ist, das ist menschlich gerecht: salus populi suprema lex.

Mit der Entwicklung zum Großvolk und zum Großstaat hat sich die Ausbildung des modernen Staates verbunden. Das ist die wichtigste geschichtliche Änderung. Sie bedeutet die Sammlung der Macht des Volkes an einem einzigen Punkt. Das Mittelalter war die Zeit des noch in der Entwicklung begriffenen Großvolkes. Darum treten innerhalb der Nation zahlreiche kleinere Kreise als selbständige Träger des Volkslebens nebeneinander auf. Es gibt zahlreiche Verbände, so die Städte, die Landschaften, die als Volksverband für ihren Kreis darstellende Gemeinschaften Obrigkeit und Rechtsordnung aus sich selbst hervorbringen (ebenso wie einst bei den Griechen die Polis, bei den Lateinern die Civitas). Die obrigkeitliche Gewalt, die Rechtserzeugung ist im Mittelalter auf die Glieder des


1 Vgl. A. Merkel in Holtzendorffs Enzykl. d. Rechtswiss. (5. Aufl. 1890) S. 14. Stammler, Wirtschaft und Recht (2. Aufl.) S. 132.

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Volkskörpers verteilt, verzettelt. Das wird seit dem 16. Jahrhundert anders. Es kommt der straffe Einheitsstaat, der die örtlichen Verbände zu seinen dienenden Gliedern macht, um alle obrigkeitliche Gewalt einem Einzigen, dem Staatsoberhaupt zu übertragen. Alle sonstige Obrigkeit verschwindet. Der Leviathan hat sie verschlungen. Die obrigkeitliche Gewalt des Staates wird zur Souveränetät im heutigen Sinne: sie wird nicht bloß die höchste, sondern die einzige obrigkeitliche, die einzige öffentliche Gewalt. Seit dem 18. Jahrhundert hat der moderne Staat, der Staat der Gegenwart, sich durchgesetzt. Nur noch in der Form des Staates ist das Volk obrigkeitlich verfaßt, nur noch in der Form des Staates ist das Volk eine selbstherrliche Gemeinschaft, nur noch in der Form des Staates ist das Volk Rechtsquelle. So ist in der Gegenwart die weltliche Obrigkeit mit der staatlichen Obrigkeit und das weltliche Recht mit staatlichem Recht gleichbedeutend.

Wie mit der Wucht von tausend Atmosphären drückt die Ordnung der Volksgemeinschaft (die staatliche Rechtsordnung) auf das Leben der einzelnen, ohne sie nach ihrer Zustimmung zu fragen, um sie alle zu einem wehrfähigen, lebens- und leistungsfähigen Volksganzen zusammenzuzwingen. Aber die Volksordnung (Rechtsordnung) ist trotzdem kein heteronomes, dem sittlichen Wesen der Einzelpersönlichkeit widersprechendes Gesetz. Schon weil die Daseinsbedingungen des Volkslebens zugleich Daseinsbedingungen des Einzellebens sind: Selbstbehauptung des Volkes ist Selbstbehauptung aller seiner Zugehörigen. Vor allem: weil die Rechtsordnung den Einzelnen hebt, indem sie ihn unterwirft. Sie gibt ihm Anteil wie an den nationalen Gütern so an der nationalen Arbeit Aller für Alle, auf daß er eine sittliche Persönlichkeit werde im Dienst an seinem Volke, an seinen Brüdern. Erst durch die Eingliederung in sein Volk wird der Mensch zum Menschen: er ist um seines sittlichen Berufes willen ein „politisches”, zur volklichen Rechtsgemeinschaft geborenes Wesen. Wie der Druck der Atmosphäre, erzeugt der Druck der Rechtsordnung die

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Lebensluft, ohne der wir nicht atmen können. Um unserer sittlichen Freiheit willen gehorchen wir dem Rechtsgesetz.

Das weltliche Recht gilt aus weltlichen Gründen: kraft der Volksgewalt, auf daß das Volk erhalten werde. Aber mit der Erhaltung des Volkes wird zugleich Möglichkeit und Raum geschaffen für die sittliche Entwicklung der Einzelpersönlichkeit.