Scheuner, U.

Zum Problem des Naturrechts nach evangelischer Auffassung

1950

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Zum Problem des Naturrechts nach evangelischer Auffassung

Von Ulrich Scheuner

 

I. Der Ruf nach dem Naturrecht

Die herben Erfahrungen des letzten Menschenalters haben in Deutschland erneut das Problem des Naturrechts in den Vordergrund gerückt. Die Abwendung vom reinen Positivismus hatte schon vor dem ersten Weltkriege in ihren Anfängen eingesetzt. Seitdem aber haben wir es erlebt, daß der staatliche Gesetzgeber, dem das 19. Jahrhundert fortschrittsgläubig die Fortbildung des Rechtes in die Hand gegeben hatte, seine souveräne Stellung zu schrankenloser Macht über die Menschen mißbrauchte, daß er Zielsetzungen politischer Gewalt und fanatischer Verfolgung den formellen Charakter des geltenden Gesetzes verlieh. In der Hand des diktatorischen Staates mußte das Vertrauen des 19. Jahrhunderts in die verfassungsrechtlich gesicherte Beschränkung des Gesetzgebers und seine Mäßigung notwendig enttäuscht werden. Die unbegrenzte Herrschaft über das Recht, die der Positivismus dem staatlichen Gesetzgeber eingeräumt hatte, ermöglichte es dem totalitären System, den Schleier einer formellen Legalität auch über Ziele und Anordnungen zu werfen, die mit den höheren Geboten von Recht und Sittlichkeit in tiefem Widerspruch standen.

Allenthalben erhebt sich gerade aus diesen Vorgängen der jüngsten Vergangenheit die Forderung nach einer Rückkehr zum Naturrecht, zu einer festen Grundlage von rechtlichen Prinzipien, in denen das positive Recht Schranke und Richtschnur zu finden vermöchte. Man macht geradezu den Positivismus dafür verantwortlich, daß der Staat eine so ungemessene Macht erringen konnte. Indessen, der Positivismus hat doch niemals daran gedacht, eine Gewaltherrschaft zu rechtfertigen. Er ist entstanden in dem Glauben an eine fortschreitende Verwirklichung des Verfassungsstaates, in der Zuversicht auf den Fortschritt überhaupt. Männer wie Ihering und Windscheid, wie Bergbom und Binding haben keineswegs an die Rechtfertigung einer formalen Legalität ohne Rücksicht auf den Inhalt des Gesetzes gedacht. Sie sahen den Fortgang der Rechtsentwicklung nicht in allgemeinen Grundsätzen, sondern in dem konkreten historischen Prozeß der Gesetzgebung enthalten. Und in den Einrichtungen des Verfassungsstaates wie in der aufgeklärten öffentlichen Meinung ihrer Tage erblickten sie hinreichende Garantien dafür, daß sich diese Fortentwicklung auf den Wegen der Humanität und einer zunehmenden Anpassung an die sozialen Gegebenheiten der Zeit vollziehen werde.

Die Probleme, die mit dem Wiederauftreten naturrechtlicher Ideen verknüpft sind, sind freilich sehr schwierige. Es kann keine einfache Rückkehr zum

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rationalen Naturrecht des 18. Jahrhunderts noch zu irgendeiner anderen historischen Naturrechtsvorstellung geben, seitdem diese älteren Vorstellungen im Fortgang des Denkens überwunden wurden. Nur der katholischen Auffassung steht diese Rückwendung oder richtiger diese erneute Darlegung eines auch im 19. Jahrhundert festgehaltenen Standpunktes offen; die Lehre des Aquinaten gilt für sie heute wie gestern als Ausgangspunkt ihrer sozialethischen Anschauung. Für die evangelische Ansicht aber werden mit der Frage des Naturrechts grundsätzliche Fragen von Recht und Staat aufgeworfen.

Das gilt besonders auch im Hinblick auf ein Anliegen, das heute immer wieder an die Kirche herangetragen wird. Inmitten der Verwirrung und Not der Gegenwart richtet sich der Blick vieler Menschen auf die christlichen Kirchen. Können sie nicht in den großen sozialen und politischen Gegensätzen unserer Zeit den Weg weisen? Die protestantischen Kirchen sind sich der Problematik bewußt. Sie können nicht mit der Zuversicht der alten Kirche ein System natürlicher Ordnungen und Normen des Lebens als verbindliche Weisung aufstellen. Aber können sie nicht wenigstens in gewissem Umfang durch an Ort und Zeit gebundene, aus der historischen Situation erwachsene Hinweise den Christen in ihrem täglichen Ringen eine Hilfe gewähren? Es wird sehr notwendig sein, sich der Gefahr bewußt zu sein, die in einer allzu sehr den Zeitbedürfnissen verhafteten Aufstellung eines umfangreichen Programms moralischer Prinzipien liegen kann. Aber im Hinblick auf das Wächteramt der Christen gegenüber den Angelegenheiten auch der staatlichen Gemeinschaft bedarf die Frage genauer Prüfung, inwieweit nicht vom Boden evangelischer Lehre aus Hinweise für eine gerechte Ordnung des sozialen und rechtlichen Lebens gegeben werden können. Die Amsterdamer Konferenz vom Sommer 1948 hat es sorgfältig vermieden, irgendein System oder eine bestimmte Stellungnahme in sozialen und politischen Fragen einzunehmen. Aber wir finden doch in ihren Berichten gewisse ausgesprochene Stellungnahmen; der Bericht der dritten Sektion enthält ein grundsätzliches Bekenntnis zum Eigentum, eine Verteidigung der menschlichen Freiheit, eine stark betonte Forderung der Gleichbehandlung aller Rassen und endlich eine Empfehlung föderaler oder dezentralisierter Aufbauprinzipien.

Dieser Bericht befaßt sich nur mit einer Seite des Problems evangelische Lehre und Naturrecht. Er läßt die theologischen Fragen beiseite, und beschränkt sich auf einen Beitrag von der Seite der Rechtswissenschaft her. Er möchte die Gedanken und Nöte sichtbar machen, die im Felde des juristischen Denkens der Gegenwart um das Problem des Naturrechts heute bestehen. Dabei soll in einem ersten Abschnitt in einem historischen Überblick die allmähliche Auflösung der festen naturrechtlichen Ordnung von Mittelalter und Nachmittelalter vor Augen geführt werden. Ein zweiter kürzerer Abschnitt wird die Folgen des Übergangs zum Positivismus für Recht und Staat erkennbar machen, und der letzte Teil endlich gilt einer kritischen Würdigung der Möglichkeiten einer Wiederbelebung des Naturrechtsgedankens.

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II. Die Auflösung der alten Ordnungen

1. Das mittelalterliche Naturrecht

Die eigentliche Wurzel des Naturrechtsdenkens liegt für die abendländische Entwicklung im Mittelalter 1). Der Gedanke eines Naturrechts entstammt nicht der Theologie, sondern wird dieser durch die Dekretisten aus dem römischen Rechte vermittelt; seit dem 13. Jahrhundert übernimmt die scholastische Theologie den Begriff des ius naturale 2). In der klassischen Form, die Thomas von Aquin der Lehre gibt, folgt die lex naturalis aus der lex aeterna, der göttlichen Ordnung. Sie ist jener Teil dieser der Welt schöpfungsmäßig innewohnende Ordnung, die der durch den Sündenfall belasteten und von Gott entfernten menschlichen Natur kraft des verbliebenen Restes natürlicher Einsicht, kraft der rationalen Synteresis erkennbar ist. Das ganze positive Recht aber wird an dem Maßstab dieser sich der natürlichen Einsicht des gefallenen Menschen erschließenden natürlichen Ordnung gemessen. Es gewinnt nur wahre Verbindlichkeit, soweit sein Inhalt mit den natürlichen Grundsätzen menschlicher Gerechtigkeit übereinstimmt. Die Fähigkeit des Denkens aber, die auch dem gefallenen Menschen noch eine Teilhabe an der natürlichen Vernunft der Weltordnung zuspricht, wird von Thomas als ein eingeborener habitus, eine Anlage des Menschen verstanden 3). Darin tritt deutlich hervor, wie in der ganzen thomistischen Lehre das Recht als „aliquid rationis”, als ein Ausdruck der die Ordnung der Welt durchwaltenden göttlichen Vernunft verstanden wird; damit wird in den Gottesbegriff selbst ein Element rationaler Gesetzlichkeit hineingetragen und auf diese Weise durch die ratio der Abstand zwischen Gott und Mensch überbrückt 4). Auch der Begriff der Schöpfung unterliegt diesem Moment rationaler Gesetzlichkeit. In der Schöpfung hat Gott eine ewige unwandelbare Ordnung aufgerichtet. Nicht Thomas, aber die spätere Scholastik hat daraus die Vorstellung abgeleitet, die naturrechtliche Ordnung sei der Welt unveränderlich eingeschrieben, „selbst wenn Gott nicht bestände”. Es ist bekannt, daß Grotius diesen Gedanken übernommen und wiederholt hat 5). An diesen rationalen Grundzug des scholastischen Naturrechts knüpft die spätere Naturrechtslehre des 16. und 17. Jahrhunderts an; sie gibt in säkularisierter Form noch den Boden ab für das Vernunftrecht des 18. Jahrhunderts. Dieses geschlossene Bild einer festen Ordnung und Gesetzlichkeit der Welt mußte umgekehrt aber tiefstens


1) Sauter, Die philosophischen Grundlagen des Naturrecht, 1932, S. 1ff., 65ff.; Alessandro Passerin d’Entrèves, La Filosofia politica medioevale 1934, S. 62ff. E. Reibstein, Die Anfänge des neueren Natur- und Völkerrechts, Bern 1949, S. 36ff.
2) Dom Odon Lottin, Le droit naturel chez Saint Thomas d’Aquin et ses prédécesseurs 2e éd. Bruges 1931 S. 11ff.
3) Dom Odon Lottin a.a.O.., S. 69f.
4) Passerin d’Entrèves, Filosofia medioevale S. 73. Ders., The Medieval Contribution to Political Thought, Oxford 1939, S. 118.
5) De jure belli ac pacis Buch I, Kap. 1, § 10 und Prol. § 11. Vor ihm etwa Suarez, De Legibus ac Deo Legislatore I c. 6 n. 3. und II c. 15.

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erschüttert werden, sobald der Begriff des Rechts als ratio aufgegeben und statt dessen das Gesetz als voluntas, das Naturrecht als Ausfluß des souveränen und unbegreiflichen göttlichen Willens aufgefaßt wurde, wie es in der nominalistischen Lehre geschah.

Dieses harmonische Gebäude des mittelalterlichen Naturrechts mag auf die praktische Rechtsanwendung nur einen begrenzten Einfluß gehabt haben. Aber wir dürfen doch diese Einwirkung, die kanonistisches Rechtsdenken und die eng mit ihm zusammenhängende romanistische Theorie der Rechtswelt vermittelten, nicht zu gering anschlagen. Unter den vielerlei Quellen, die den Strom mittelalterlicher Rechtsübung speisen, ist das theologisch-scholastische Denken und die ihm nahe verschwisterte romanistisch-kanonistische Rechtslehre nicht von geringer Bedeutung. Nach drei Richtungen insbesondere hat sich dieser Einfluß naturrechtlichen Denkens, wo nicht als alleinige Grundlage, doch als entscheidender Beitrag zur Ausbildung grundlegender Züge mittelalterlicher Rechtsauffassung erwiesen. Einmal liegt es in der Idee eines natürlichen Rechts, daß alle menschliche Macht vom Recht überhöht und gebändigt wird. Auch soweit das Prinzip des princeps legibus solutus von der mittelalterlichen Lehre anerkannt wird, gilt das Gesetz des Fürsten doch nur, soweit es regula rationale ist; bei allen Autoren des 16. Jahrhunderts ist kein Zweifel, daß der Herrscher dem Naturrecht unterworfen bleibt 6).

Das mittelalterliche Naturrecht erfüllt aber auch ein zweites Anliegen, dessen Bedeutung der heutigen Rechtslehre wieder sehr zum Bewußtsein gekommen ist. Sie gab dem positiven Recht einen festen inhaltlichen Maßstab, an dem seine Übereinstimmung mit den für alle Zeiten und Völker als verbindlich angesehenen Sätzen der Gerechtigkeit gemessen werden konnte.

Drittens aber lag in dieser Natur der mittelalterlichen lex naturae als einer für alle geltenden Ordnung ein Element der Gemeinsamkeit für die Staaten und Völker des abendländischen Bereiches, das seither, vor allem seit der Entwicklung des 19. Jahrhunderts verloren gegangen ist. Es ist eine der tiefsten Ursachen der Rechtsnot unserer Tage, daß eine solche als verbindlich anerkannte Basis des rechtlichen Denkens in den tiefen Gegensätzen der heutigen internationalen Staatenwelt mehr und mehr aufgelöst wird.

 

2. Die Wirkung der Reformation

Das System der mittelalterlichen Naturrechtslehre wurde von der Reformation im Kern zersprengt. Es bedarf keiner weiteren Ausführung, daß Luther der thomistischen Auffassung des Gesetzes als ratio durchaus fernstand. Wie für ihn in seinem Gottesbegriff das rationale Element zugunsten des


6) Passerin d’Entrèves, Contribution S. 39f.; ferner A.J. Carlyle, A History of Medieval Political Theory in the West, 1936, S. 511ff.

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voluntaristischen zurücktritt 7), wird damit an einem entscheidenden Punkte das rationale Denkbild der Hochscholastik aufgegeben. Der Konzeption eines lebendigen und unbegreiflichen göttlichen Willens entspricht ferner eine Ansicht der Schöpfung, in der sie nicht als Aufrichtung einer ewigen gesetzlichen Ordnung der Welt, sondern als fortwirkende schaffende und gebietende Wirksamkeit Gottes, nicht als fertiges System, sondern als bewegender schöpferischer Wille erscheint 8). Nicht weniger wird von Luther die Vorstellung eines natürlichen habitus des Menschen zur Erkenntnis der Gerechtigkeit zugunsten des „sola gratia” aufgegeben 9). Im Gegensatz zur scholastischen Lehre vom lumen naturale, von der dem Menschen gebliebenen restlichen Erkenntnisfähigkeit, ist für Luther die Entfernung des gefallenen Geschöpfes vom Schöpfer eine absolute, die imago Dei gänzlich entstellt. Allein durch die Gnade, ohne Mitwirkung einer natürlichen Erkenntniskraft, kann dem Menschen eine Einsicht der Gerechtigkeit zukommen. Mag Luther also auch gelegentlich selbst die Vorstellung einer natürlichen Gerechtigkeit verwenden, sie hat im Gesamtgefüge seiner Anschauung einen ganz anderen Platz als in der thomistischen Konzeption 10). Luthers Anschauung der irdischen Gerechtigkeit ist vielmehr ganz auf Gott und seine Gnade bezogen. Den Maßstab der iustitia civilis aber gewinnt Luther in seiner Lehre von den zwei Reichen in der Rückbeziehung des irdischen Rechts auf die göttliche Gerechtigkeit, das als solche aber der menschlichen Erkenntnis unzugänglich bleibt 11).

Die spätere lutherische Lehre hat dann bekanntlich die Rückwendung zu einer Ethik des Naturrechts wieder vollzogen. Sie wird namentlich von Melanchthon vorbereitet, dem der Dekalog zur Quelle des natürlichen Rechtes wird 12). Daneben wirken Einflüsse der Spätscholastik und namentlich romanistische Gedanken ein 13). Es vollzieht sich also in dieser Erneuerung naturrechtlicher Lehren eine gewisse Abwendung von Luther und eine erneute Betonung des rationalen Elementes der göttlichen Ordnung, die zugleich der späteren rationalen Naturrechtslehre den Weg bereitet.


7) Der Zusammenhang dieser Anschauung mit nominalistischen Lehren wird seit jeher von katholischer Seite besonders betont. Vgl. Jaques Maritain, Trois Réformateurs 1925, S. 39ff.
8) Gustav Törnvall, Geistliches und weltliches Regiment bei Luther, Übers. von Karl-Heinz Becker, 1947, S. 58.
9) Törnvall, S. 176ff.
10) Über die Fortverwendung naturrechtlicher Vokabeln bei Luther vgl. Franz Xaver Arnold, Zur Frage des Naturrechts bei Luther, 1937. Aber diese Äußerungen müssen doch im Zusammenhang des Ganzen lutherischer Anschauung interpretiert werden.
11) Vgl. Törnvall, S. 155.
12) Siehe Trillhaas, „Melanchthon der Ethiker der Reformation” in: Evang. Theologie, 1947, S. 397ff.; Karl-Heinz Becker das. 1946, S. 209.
13) Romanistische Einflüsse siehe z.B. bei Reinkingk, De regimine saeculari et ecclesiastico 3. ed 1641 II c. 4.

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Bei Calvin nimmt dagegen die Anerkennung eines Naturrechts einen breiteren Raum ein; man kann hier von einer wirklichen Naturrechtslehre sprechen 14). Aber auch sie ist keine Fortführung der mittelalterlichen Auffassung. Wenn sie von einer natürlichen Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis der Gerechtigkeit ausgeht, so ist das nicht im Sinne der theologia naturalis der Scholastik verstanden, sondern diese natürliche Gabe ist allein in Gott begründet, der sie dem menschlichen Herzen einschreibt 15). Der Ansatz einer Naturrechtslehre bei Calvin wird ferner verstärkt durch seine Anschauung von der großen Aufgabe der weltlichen Obrigkeit, als Statthalterin Gottes an der Förderung des Gottesreiches auf Erden mitzuarbeiten. In dieser Hinwendung zum aktiven Handeln in der Welt, in dem Aufruf des christlichen Staatsmannes zum Dienst und zur Verantwortung in der bürgerlichen Gemeinde liegt ein Grundzug des reformierten Glaubens, der immer wieder zu einer Stellungnahme auch in den Fragen sozialethischen Urteilens und Handlens hinleitet 16).

Ebenso wie bei Luther gehen bei Calvin auch die Nachfolger über die anfänglichen Ansätze weit hinaus. Wo Calvin selbst nach Möglichkeit den Konflikt eines neuen Glaubens mit der weltlichen Macht zu vermeiden suchte, bringt nun ein kämpferischer Calvinismus in Frankreich, in den Niederlanden und in Schottland den Gedanken des natürlichen Rechts zu einer neuen Kraft. Hier wird das Naturrecht, dem die Scholastik die Rolle einer bewahrenden und stetigen Ordnung zuwies, zu einer Macht des Widerstandes, der Freiheit und der Durchsetzung neuer religiöser und politischer Ideen.

In das Naturrecht der weltlichen Welt, wie es auf dem Boden der calvinistischen Lehre im 17. Jahrhundert Gestalt gewinnt, sind aber auch starke scholastisch-thomistische Traditionen hineinverflochten. Drei Linien kommen hier namentlich in Betracht. Einmal ist hier der bedeutenden Einwirkungen der spanischen Spätscholastik zu gedenken. Vitoria, Vasquez, Covarrubias, Suarez und andere haben nicht zuletzt auch auf Hugo Grotius einen nachhältigen Einfluß geübt. Das grotianische Naturrecht, ganz gegründet auf die Idee einer absoluten Gesetzlichkeit der Welt und einer natürlichen Erkenntnisfähigkeit des Menschen, nimmt in seinem objektiven Charakter durchaus die ältere Lehre auf, die es freilich durch die Einführung des Moments der sozialen Natur des Menschen als Quelle des Rechts bereits ins Säkulare und Vernünftige zu wenden beginnt 17). Ein zweiter Strom thomistischen Einflusses führt über Richard Hooker. In seinem Werk sind die rationalistischen und hierarchischen


14) Bohatec, Calvin und das Recht, S. 3ff. Ders., Calvins Lehre von Staat und Kirche, 1937, S. 19ff.
15) Institutio 1536 c. I.
16) Vgl. Karl Barth, Amsterdamer Fragen und Antworten (Theologische Existenz heute N.F. 15), 1948, S. 13. Vgl. auch Nürnberger, Die Politisierung des französischen Protestantismus, 1948, S. 16/17.
17) Über die Einwirkungen der spanischen Schule auf Grotius vgl. Sauter a.a.O, S. 91ff. James Brown Scott, The Spanish Origin of International Law S. 104. Ders. The Catholic Conception of International Law, 1934, S. 60. Reibstein passim.

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Elemente der scholastischen Naturrechtslehre erhalten. Seine Definition des Naturrechts deckt sich fast wörtlich mit der des Thomas, und er hält ebenso an der Suprematie der lex naturae über das positive Recht wie an dem Charakter des Gesetzes als ratio, als consilium fest. Nur in der stärkeren Berücksichtigung der Wandelbarkeit der menschlichen Gesetze klingt bei ihm im Verhältnis von Naturrecht und positivem Gesetz die spezifisch englische traditionale Gesinnung an 18). Auf den Gedanken Hookers aber hat John Locke weitergebaut, dessen Naturrechtslehre von unermeßlicher Auswirkung im ganzen angelsächsischen Rechtskreise gewesen ist. Der dritte Weg, auf dem mittelalterliche Überlieferung in das weltliche Naturrecht eindringt, ist das römische Recht, dessen als ratio scripta angesehene Regeln und Begriffe eine Fülle scholastischen Denkens in die Folge hinüberleiten 19).

 

3. Die Epoche des rationalen Naturrechts

Bedeutet so die Reformation in ihren Folgen trotz der grundlegenden Abweichung vom mittelalterlichen Denkbilde noch keine volle Auflösung der Grundlagen der traditionellen Naturrechtslehre, so vollzieht sich seit dem 17. Jahrhundert ein wachsender Prozeß der Säkularisation innerhalb des Naturrechts. Eingeleitet schon bei Grotius, wird bei Pufendorf und Thomasius das Naturrecht immer mehr von der religiösen Basis gelöst und ganz auf die menschliche Vernunft gegründet. Auch in dieser Gestalt bleibt aber bis tief ins 18. Jahrhundert die Verbindung nach rückwärts zu der mittelalterlichen Tradition noch erhalten 20). Auch im rationalen Vernunftrecht enthält das Naturrecht noch maßgebende Elemente eines Platonismus, einer Rechtsauffassung, die den Charakter des Rechts nicht als eines gewillkürten Gesetzes, sondern einer gegebenen stetigen Ordnung festhält 21). Von großer Bedeutung aber wird die in dieser Epoche sich vollziehende Umwandlung des Sittengebotes aus einer objektiven moralischen Ordnung zu einem Gebot des inneren Bewußtseins. In der kantischen Wendung zum Verständnis des Sittengesetzes als der Selbstgesetzgebung der menschlichen Vernunft liegt dann eine weitere tiefe


18) Über die Zusammenhänge Hookers mit der thomistischen Lehre grundlegend Alessandro Passerin d’Entrèves, La teoria del diritto e della politica in Inghilterra all’inizio dell’età moderna, Memorie dell’Instituto Giuridico della R. Università di Torino, Serie II Mem. IV 1929, S. 17. Ders., Riccardo Hooker 1932, S. 37ff. Ders., Contributione S. 117ff.
19) Über diesen Zusammenhang siehe Kosters, Les fondements du droit des gens, Bibl. Visseriana Bd. 4, 1925, S. 113f.
20) Es darf hier an die bekannten Verbindungen verwiesen werden, die den geistigen Werdegang von Christian Wolff mit einer scholastischen Erziehungstradition verknüpfen. Vgl. Sauter, a.a.O, S. 179, Anm. 1 und namentlich Herbert Schöffler, Deutscher Osten im Deutschen Geist, 1940, S. 184ff., 200ff.
21) Über den antivoluntaristischen Charakter des aufklärerischen Naturrechts siehe Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, 1932, S. 321. Reibstein a.a.O. S. 65.

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Wandlung der ganzen Problemstellung. Denn mit dieser Verlegung der entscheidenden Grundlagen der Rechtsordnung in das subjektive Bewußtsein wird die Transzendenz der ethischen Fundamente des Rechts aufgegeben. Zugleich geht in der kantischen Ethik eine Formalisierung vor sich, die die inhaltliche Bestimmung der sittlichen Norm aufgibt.

Bis zum Ausgang der naturrechtlichen Epoche aber hat jedenfalls das Naturrecht jene Aufgaben weiter erfüllt, die wir schon als Leistung des mittelalterlichen Naturrechts gekennzeichnet hatten. Es richtete eine feste rechtliche Ordnung über den Staaten und ihren Herrschern auf, es gab dem positiven Gesetz Schranke und Maßstab und es verband alle europäischen Länder untereinander in einer festgeschlossenen Gemeinschaft auf der Grundlage gleicher Rechtsgrundsätze. Noch im Ausgang des 18. Jahrhunderts berief sich sogar die internationale Staatenpraxis wiederholt auf das Naturrecht. Es wird zum Ausgang genommen in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, und aus ihm leitete das revolutionäre Frankreich die Freiheit der Scheldemündung ab 22).

Die Nachwirkungen der naturrechtlichen Anschauungen reichen tief in das 19. Jahrhundert hinein. Wie Hans Thieme gezeigt hat, ist bereits die letzte späteste Phase des Naturrechts gekennzeichnet durch eine Abkehr von der generalisierenden deduktiven Methode, die Christian Wolff und seine Schule noch einmal so erfolgreich und beherrschend repräsentiert hatten. Jetzt wird der Anspruch der Unabänderlichkeit und rationalen Allgemeingültigkeit aufgegeben, die Verschiedenheit der rechtlichen Bedingungen von Volk und Zeit anerkannt, das natürliche Recht an die vernünftigen Bedürfnisse der praktischen Rechtsgestaltung angepaßt 23). Aus diesen Anschauungen erwuchs die Kraft zu unmittelbar aktiven gestaltenden Handeln. In ihr prägt sich das Selbstvertrauen der Epoche aus, die zu großen kodifikatorischen Leistungen, dem Preußischen Allgemeinen Landrecht, dem österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch, den französischen Gesetzbüchern befähigt war. Die Wirkung dieser im Grund nach naturrechtlichen Rechtsideen erstreckt sich aber auf das 19. Jahrhundert und trägt in Strafrechtsreform und Gewerbefreiheit, wie im Verfassungsdenken ein gutes Stück der gesetzgeberischen Aktivität dieses reformfreudigen Jahrhunderts. Denn im letzten ruhen diese ganzen sich schon positivistisch gebenden Gesetzeswerke doch auf dem begrifflichen System und den idealen rationalen Überzeugungen des 18. Jahrhunderts 24).


22) Kosters a.a.O., S. 107, 110.
23) Hans Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, Ztschr. d. Savigny-Stiftung f. Rechtsgesch., Germ. Abt. 56 (1936), S. 229ff. Ders., Die preußische Kodifikation, daselbst 57 (1937), S. 365ff. Ders., Das Naturrecht u.d. europ. Privatrechtsgeschichte, 1947, S. 38ff.
24) Über die Nachwirkung des Naturrechts im 19. Jahrhundert (Einfluß auf die Gesetzgebung) siehe Heinrich Mitteis, Über das Naturrecht, 1948, S. 27; Meinecke, Die Entstehung des Historismus, 1936, S. 3f.

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4. Die Heraufkunft des geschichtlichen Denkens und die Auflösung des Naturrechts

Im Schoße des 18. Jahrhunderts wuchsen aber bereits die Kräfte heran, die die Grundlagen der naturrechtlichen Anschauungen des Rationalismus überwinden sollten. Es war das die Erkenntnis der wesenhaften Geschichtlichkeit allen menschlichen Seins und dit hiermit zusammenhängende Entdeckung der Individualität, insbesondere der individuellen Struktur auch der großen menschlichen Gemeinschaften Volk und Staat. Bei Giambattista Vico, bei David Hume bricht sich eine Einsicht in die geschichtliche Wandelbarkeit der menschlichen Natur Bahn, die die Idee einer stetigen vernünftigen Gesetzlichkeit von innen her zerbrach. Dazu gesellt sich, vorbereitet durch Montesquieu und seine Verfolgung der Zusammenhänge von Recht und Landschaft, von nationaler Tradition und Sitte die Entdeckung des besonderen Eigenart jedes Volkes und seiner schöpferischen Kraft durch Herder. Aus diesen Wurzeln erwuchs in der romantischen Welt und im Denken der historischen Schule eine grundsätzliche Kritik an der Vorstellung bleibender genereller Gesetzlichkeiten und die Zurückführung des Rechtes auf die Volksindividualität und ihre geschichtliche Entfaltung im Volksgeist.

Nicht weniger bedeutet aber auch die idealistische Philosophie eine grundsätzliche Entfernung von der Basis naturrechtlich-rationalen Denkens. Die Einsichten der klassischen deutschen Epoche, ihre Erkenntnis der Geschichtlichkeit des Daseins, ihr Bild vom Menschen und ihre Ideen über die überindividuellen Strukturen des objektiven Geistes sind freilich im Westen Europas nur sehr teilweise begriffen oder gar angenommen worden und sind so zu einer der wichtigsten Quellen einer Entfernung des deutschen Denkens von der westlichen Gedankenwelt geworden. Das deutsche Denken gewann hier eine Abwendung von der Linie rationaler und allgemeiner Gesetzlichkeit und individualistischer Struktur, an der der Westen auch im 19. Jahrhundert vorwiegend festgehalten hat. Für die Naturrechtsentwicklung sind innerhalb der idealistischen Philosophie in Deutschland vor allem zwei Momente bedeutsam geworden. Die subjektive Wendung der Ethik in der kantischen Autonomie des Sittengesetzes beendet alle Möglichkeit, den sittlichen Geboten den Charakter einer dem Menschen transzendenten Ordnung zu geben, und entzieht damit einer mit der natürlichen Vernunft eingeborenen Moral den Boden. Allerdings verweist Kant die sittliche Vorstellung gerade auf das Allgemeine, was jeder als Richtschnur des Handelns annehmen solle, aber es liegt hier nur mehr ein Hinweis auf den transzendentalen Ort der Sittlichkeit, aber keine inhaltliche Bestimmung mehr vor. Auf dieser Grundlage ist ein mit Inhalt erfülltes Naturrecht nicht mehr möglich. Nicht weniger folgenreich ist aber auch die Philosophie Hegels geworden. Auch Hegel steht in grundsätzlichem Gegensatz zu einer von allgemeinen ethischen Gesetzen ausgehenden Anschauung. Aber er sucht die Lösung nicht in der subjektiven Autonomie, sondern in der Einfügung auch des sittlichen Bereiches in den Prozeß der Entfaltung des absoluten Geistes in der konkreten

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geschichtlichen Wirklichkeit. Damit ist der Weg gewiesen, um den geschichtlichen Wandel der ethischen Vorstellung zu begreifen. Vor allem aber ist die Tatsache entscheidend geworden, daß Hegel die individuelle ethische Haltung einfügt in den überindividuellen Zusammenhang der Gemeinschaften, daß er in der umfassenden Einheit des Staates die Vollendung der sittlichen Wirklichkeit sieht. Damit rückt der Staat, der bei ihm idealisiert wird, gegenüber dem Recht in eine beherrschende Stellung; er ist keinem anderen Maßstab mehr unterworfen, als seiner eigenen Natur als Moment der geschichtlichen Bewegung des Geistes. Lagen bei Hegel die Schranken des Staates in der ganzen Konzeption dieser Staatsphilosophie, so mußte jede isolierende Übernahme seiner Gedanken über den Staat schwere Gefahren in sich bergen. Sie sind im weiteren Fortgang des 19. Jahrhunderts sichtbar geworden, als eine nicht mehr an Hegels Geschichtsoptimismus und an seinen metaphysischen Vorsehungsglauben gebundene Ansicht dem Staate die Souveränität gegenüber dem Recht, die Lösung auch aus der Gebundenheit individueller Sittlichkeit zugestand und ihm als sittliches Gesetz die eigene Selbstbehauptung und Selbstentfaltung setzte. So konnte die Lehre vom Staat als Macht und vom Machtstreben der Staaten als geschichtlich-sittlicher Notwendigkeit entstehen, die unter Aufnahme von biologischen und organizistischen Elementen dem Staat und den Staatszwecken einen absoluten Wert zusprach. Das Endergebnis war jene Hypertrophie des Nationalstaatsgedankens, zu dem von anderen Gesichtspunkten her, von der Volkssouveränität und vom Vertragsgedanken aus, auch der Westen sein Teil beitrug. In dieser Erhebung von Staat und Volk zu höchsten sittlichen Werten, die den späteren Positivismus begleitet, sind aber die dämonischen Gefahren der Macht verkannt, ist auch das Problem der innerhalb der überpersönlichen Gemeinschaften doch fortbestehenden persönlichen Verantwortung der leitenden Männer übersehen. In diesem Irrweg liegt, wohl mehr noch als in dem Positivismus, die Wurzel vielen Fehlgehens der Gegenwart.

 

III. Die Auswirkungen der positivistischen Lehre

1. Grundlagen der positivistischen Anschauung

Der Positivismus ist, wie alle geistigen Erscheinungen des 19. Jahrhunderts, eine sehr komplexe Erscheinung, keineswegs aus einer Quelle allein gespeist. Seine Grundlagen sind die Wendung zur konkreten Wirklichkeit, die Ablehnung aller Metaphysik, die Anlehnung an die Methodik der naturwissenschaftlichen Kausalerkenntnis. Damit hängt zusammen die induktive Methode des Erkennens, die Beschränkung auf Tatsachen und ihre Verarbeitung. In dem Bereich der Rechtswissenschaft bedeutet das eine Verknüpfung des Rechts mit der Macht. Für die deutsche Rechtslehre tritt noch hinzu, daß sie aus der idealistische Philosophie mit dem Freiheitsgedanken auch eine Verbindung des Rechts mit dem Willen übernimmt. Nach dem Ablauf der historischen Schule, die das Recht auf überindividuelle geistige Kräfte zurückführt, wird das Recht

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nunmehr als Ausdruck des Willens, als Abgrenzung zwischen individuellen Willenssphären verstanden.

Es ist richtig, daß die positivistische Wissenschaft ein erhebliches Erbe aus dem Naturrecht bewahrte und daß sie im Weiterdenken der Rechtsbegriffe sich keineswegs dem Staate ganz unterwarf. Aber wenn das Naturrecht dem Recht einen vom Staate unabhängigen Grund gegeben hatte, nun wird der Begriff der Souveränität, an sich ein politischer Begriff zur Bezeichnung oberster Herrschaft, zum Ausdruck der Verfügung des Staates über das Recht. Über dem souveränen Staat gibt es keinen Richter mehr. Die Rechtstechnik, so sagt mit Recht Jacques Ellul 25), steht damit demjenigen zur Verfügung, der sich ihrer zu bemächtigen weiß.

 

2. Konsequenzen

Dem Recht geht mit dem Verlust des Naturrechts der inhaltliche Maßstab verloren. Der Staat beansprucht nun, das oberste Kriterium über gerecht und ungerecht in seinen Händen zu halten, wiewohl seine Gesetze manchmal nur Ausdruck von Mehrheiten und Parteirichtungen oder von herrschenden Gruppen sein können. Die Rechtsidee wird in den den späteren Positivismus begleitenden neukantischen Lehren zu einem rein formalen Begriffe. Schließlich wird in einer Entartung die Zweckbestimmung des Rechts überhaupt nicht mehr in der Verwirklichung der Gerechtigkeit gesucht, sondern in dem Dienst für andere außerhalb der Rechtssphäre liegende Werte, die man als „Wohl des Volkes”, in dem, „was dem Volke nützt”, oder in der Erfüllung eines politisch-weltanschaulichen Ideenprogramms findet 26). So wird aus dem Recht ein instrumentales Werkzeug der Staatsmacht. Der Geltung des Rechts wird die Rückbeziehung auf Gerechtigkeit und Sittlichkeit genommen, sie wird ein reines soziales Faktum der Macht oder der gesellschaftlichen Gesetzlichkeit. Der Positivismus wird auf diese Weise der totalitären Staatsgestaltung leicht dienstbar. Es darf freilich nicht übersehen werden, daß der totalitäre Staat auch sehr stark mit einem revolutionären Naturrecht des Volkes oder einer Klasse arbeitet 27).

Aus der Bindung des Rechts an den Staat folgt seine beliebige Veränderlichkeit, zugleich auch seine volle nationale Aufspaltung. Die überlieferten humanitären Grundlagen der abendländischen Entwicklung entschwinden. An die Stelle wirklicher gemeinsamer Rechtsanschauungen, eines echten ius gentium, tritt der feindliche Gegensatz verschiedener Rechtssysteme. Aus diesem Zerfall der rechtlichen Einheit resultiert die tiefe Krise des heutigen Völkerrechts, die das Zusammenleben der Nationen aufzuspalten droht 28).


25) Die theologische Begründung des Rechts, Übers. v. Otto Weber, 1948, S. 24.
26) Vgl. Erik Wolf, Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, S. 11.
27) Darauf weist hin Hans Fehr, Die Ausstrahlungen des Naturrechts der Aufklärung in die neue und neueste Zeit, 1938, S. 24ff.
28) H.A. Smith, The Crisis in the Law of Nations, 1947, S. 10ff.

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Diese Mängel des Positivismus, schon früher sichtbar, hielten sich doch in Grenzen, solange das humanistische Menschenbild der älteren Tradition und im Ausland das Erbe der Menschenrechte der französischen Revolution noch fortwirkende Kraft besaß. Darunter freilich lauerte, wie neuestens der Wiener Kunsthistoriker Hans Sedlmayr auch am Phänomen des künstlerischen Schaffens sichtbar gemacht hat 29), ein tiefer Antihumanismus, eine Tendenz zum Mechanischen, zum Bewußtmachen des Dämonischen und der Disharmonien des modernen Menschen. In den totalitären Staaten sind diese antihumanistischen Züge am deutlichsten ausgeprägt. Von dem Mißbrauch, den sie mit der formellen Legalität des Gesetzes treiben, von der Irreführung des gewohnten Gehorsams gegen das Recht geht die heutige Forderung nach einer Erneuerung unverbrüchlicher fester Grundsätze des Rechts aus.

 

IV. Möglichkeiten eines Naturrechts in der Gegenwart

1. Philosophische Grundlagen

Soweit nicht theologisch bestimmte Lehren des Naturrechts in Betracht kommen, möchte man in gewissem Sinne schon die Lehre von Rudolf Stammler vom richtigen Recht als einen Vorläufer bezeichnen. Seine Lösung der Frage blieb allerdings, vom Boden der neukantischen Philosophie aus unternommen, ganz im Formalen. Stammler lehnte eine inhaltliche Bestimmung des Rechtsideals ab. Sein „soziales Ideal” blieb daher nur eine Bezeichnung des transzendentalen Ansatzes zur Bestimmung der Gerechtigkeit und es fehlt ihr für ein wirkliches Naturrecht jede inhaltliche Fülle 30). Vielleicht folgerichtiger hat sich Hans Kelsen vom Boden der neukantischen Rechtslehre aus zum reinen Positivismus bekannt.

Die neueren Ansätze einer Naturrechtslehre haben sich daher auch von diesem philosophischen Grunde gelöst. Sie stehen vielmehr unter dem Einfluß der materialen Wertethik, wie sie Max Scheler und Nicolai Hartmann entwickelt haben 31). Es möge genügen, hier auf Beispiele dieser Richtung hinzuweisen. Helmut Coing geht in seinem Versuch von dem Gedanken aus, daß das Recht als soziale Friedensordnung seine Grundlage nicht in der Macht, sondern im sittlichen Bewußtsein der Menschen findet. Die sittlichen Werte werden als objektiv, als transzendent gegeben angesehen, auch wenn der jeweilige Umfang ihrer Erkenntnis durch die subjektive Fähigkeit der Menschen einer bestimmten Zeitepoche begrenzt wird. Aus der Erkenntnis sittlicher Werte ergeben sich inhaltlich bestimmte Rechtssätze, die gegenüber dem positiven Recht den Wert


29) Verlust der Mitte, Salzburg, 1948, S. 151ff.
30) Zur Kritik Stammlers siehe Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, 1921, S. 11ff. Siehe auch die kritische Bemerkung bei Ellul, a.a.O., S. 20, Anm. 10.
31) M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 3. Aufl. 1928. N. Hartmann, Ethik, 3. Aufl. 1949.

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von Leitsätzen und Richtlinien haben. Sie können aber auch, wenn äußerste Grenzen überschritten sind, die Legitimation zum Widerstand gegen Unrecht in sich schließen 32). Die Werte, von denen diese neuere Richtung ausgeht, erweisen sich als Erbe der abendländischen humanistisch-christlichen Tradition, die als gemeinsam anerkannte Werte die Völker verbinden. Ob man hier von Naturrecht oder, um sich gegen Mißverständnisse zu sichern, nur von höheren Rechtsgrundsätzen spricht, begründet nur einen terminologischen Unterschied.

Mit diesem philosophischen Ansatz sind diese neueren Richtungen in der Lage, den geistigen Wandlungen Rechnung zu tragen, die seit dem Abbruch des rationalen Naturrechts unser Denken verändert haben. Mit der Einsicht in die Geschichtlichkeit allen Seins ist die Idee eines unabänderlichen Naturrechts nicht mehr vereinbar. So geht denn auch Eduard Spranger in seinen tief eindringenden Ausführungen zu unserem Problem von dem Gedanken eines historisch-elastischen Naturrechts, von der notwendigen Standortsgebundenheit jedes Wertsystems aus 33). Das ist ein wichtiger Schritt zur Wandlung unseres Denkens, im Einklang aber auch mit anderen philosophischen Strömungen unserer Tage; denn, wie Martin Heidegger gesagt hat 34), die Zeit gehört zur Wahrheit des Seins. Trotzdem vermag man, wie Nicolai Hartmann gezeigt hat, die Idee einer Unwandelbarkeit der sittlichen Werte festzuhalten. Nicht sie verändern sich, sondern das unvollständige Wertbewußtsein der Menschen vermag jeweils nur einen Ausschnitt der Werte zu erfassen und begründet dadurch den Wandel. Mit dieser Anschauung ist aber zugleich auch der Entscheidung der ethischen Persönlichkeit der ihr zukommende Platz gewiesen 35). Zugleich zeigt sich hier der Punkt, wo die philosophische Theorie an der Grenze angelangt ist. Die von ihr angenommenen materialen Werte vermag sie nur letztlich empirisch oder phänomenologisch zu begründen 36).

Eine andere wichtige Frage, die die neuere Diskussion noch nicht gelöst hat, betrifft die nationale Verschiedenheit des Rechtsdenkens. Wirkt sie sich auch für jene höchsten Rechtsgrundsätze aus? Die Antwort kann nicht aus einer Theorie des Rechts, sondern nur einer Philosophie des Staates und Volkes kommen. Wenn wir im Volke nicht im Sinne einer metaphysisch gegründeten letztlich auf die Romantik zurückreichenden Theorie ein absolutes schöpferisches Prinzip, eine ursprüngliche Kraft sehen, sondern eine historisch entstandene und veränderliche Gemeinschaft, die in steter gegenseitiger Wechselwirkung mit anderen Nationen steht, so entfällt der Anlaß zur Annahme, daß ein jedes Volk für sich ein eigenes grundsätzliches Rechtsdenken ausbildet. Ungeachtet der nationalen


32) Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 54ff. Im gleichen Sinne auch Eduard Spranger, Zur Frage der Erneuerung des Naturrechts in: „Universitas”, 3 (1948), S. 405ff.
33) a.a.O., S. 409f. Hartmann a.a.O., S. 158f.
34) Was ist Metaphysik? 5. Aufl. 1949, S. 17.
35) Vgl. Erich Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz, Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, Heft 3, (1928), S. 12. Hartmann S. 130.
36) Erik Wolf, a.a.O., S. 15f.

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Verschiedenheit des Rechtsdenkens sind vielmehr gerade die Grundlagen des Rechtslebens innerhalb einer Zeitepoche allen Völkern oder doch wenigstens Gruppen von ihnen, gemeinsam. Das gilt auch für die Staaten. Auch innerhalb der Staaten entwickelt sich das Rechtsbewußtsein stets in enger Verbindung mit der gesamten Gemeinschaft der Staaten. Die Vorstellung einer national oder staatlich begrenzten Gerechtigkeit, eines „isolierten Naturrechts”, wie es Hans Fehr genannt hat 37), ist abzulehnen.

Damit hängt ein letzter Gesichtspunkt zusammen. Die im Positivismus herrschend gewordene Vorstellung einer Macht des Staates über das Recht, mit der sich eine unbeschränkte Verfügung des Staates über die Individuen und ihre Rechtsverhältnisse verband, kann nicht allein vom Rechtsdenken her überwunden werden. Hier ist auch eine Erneuerung der Staatstheorie nötig, die mit der Überbewertung der Stellung des Staates bricht, wie sie die Staatsphilosophie des 19. Jahrhundert entwickelt hat. Indem man dem Staate einen höheren, wenn nicht gar absoluten sittlichen Wert beimaß, wurden nicht nur optimistisch die dämonischen Züge des politischen Handelns verkannt, es wurde auch dem Staat eine überpersönliche Moral zugebilligt, die das volle Gewicht der ethischen Verantwortung der Staatslenker minderte oder verhüllte 38). Es wird darauf ankommen, die Einsicht in die überpersönliche Struktur von Gemeinschaften und in den in ihnen lebendigen objektiven Geist mit der Klarheit über die in ihnen aufrecht bleibende individuelle sittliche Verantwortung der in ihnen handelnden Individuen zu verbinden.

 

2. Naturrecht und theologische Begründung

Wir können uns in diesem Zusammenhang kurz fassen, wenn wir von der katholischen Lehre sprechen. Sie ruht auf dem gesicherten Grunde einer Tradition, deren wesentliche Elemente sie unverändert übernimmt: die natürliche Erkenntnis, die Deutung des Gesetzes als ratio und die Herleitung des positiven Rechts aus der inhaltlichen Übereinstimmung mit den sittlichen Geboten. Bemerkenswert ist jedoch, daß die moderne katholische Lehre dabei Anlaß nimmt, nicht nur darauf hinzuweisen, daß auch bei Thomas und in der Scholastik Ansätze für eine Berücksichtigung des historischen Wandels der Anschauungen zu finden sind 39), sondern auch selbst das Problem der geschichtlichen Entwicklung der Rechtsidee anschneidet 40). So geht auch an dem festen Bau des thomistischen Naturrechts die geistige Bewegung nicht spurlos vorüber, ohne ihn freilich in seinen Fundamenten zu berühren.

In der protestantischen Anschauung begegnen wir zwei Grundströmungen. Die eine von ihnen fußt auf der Lehre von den natürlichen Schöpfungsordnungen


37) a.a.O., S. 26ff. Vgl. auch A. de Quervain, Kirche, Volk, Staat, 1945, S. 292ff.
38) Vgl. Gerhard Ritter, Die Dämonie der Macht, 6. Aufl. 1949, S. 134f.
39) Vgl. Passerin d’Entrèves, La Filosofia medioevale 1934, S. 68f.
40) Stadtmüller, Das Naturrecht, 1948, S. 34ff.

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und leitet aus ihnen als einer besonderen Quelle der Offenbarung die Grundsätze einer fundamentalen Sozialethik ab. Neben Althaus hat vor allem in neuerer Zeit Emil Brunner auf diesem Boden der theologia naturalis den Bau einer Ethik unternommen 41). Diese Anschauung, die von der Erhaltungsgnade Gottes und den in der Schöpfung enthaltenen Gemeinschaftsordnungen ausgeht, hat aber strenge Kritik erfahren, vor allem von Karl Barth und der von seinem Denken beeinflußten Richtung der modernen evangelischen Theologie 42). Hier werden die natürliche Theologie und die mit ihr gegebenen weltlichen Grundordnungen abgelehnt. Freilich, auch bei Karl Barth wird das Bedürfnis des in dieser Welt stehenden Christen nach einem Richtmaß nicht gänzlich abgewiesen. Den Naturrechtsgedanken allerdings überläßt Barth dem Staate, der Bürgergemeinde als Ausdruck ihres notwendig fehlgreifenden Versuches, wahre Gerechtigkeit aufzurichten 43). Aber für den Christen und das ihm aufgetragenen Hineinwirken in den weltlichen Raum sieht Barth doch eine Möglichkeit, dem Evangelium zwar kein göttliches Gesetz, kein formuliertes Prinzip der Gerechtigkeit, aber doch ein Maß und eine Richtung zu entnehmen. In ganz ähnlichem Gedankengange hat auch Erik Wolf 44) die Gerechtigkeit nicht in einer natürlichen Gegebenheit des Menschen, sondern allein in Gottes Ordnung begründet und von hier aus die Möglichkeit einer Erkenntnis der geoffenbarten Weisungen als Richtschnur christlichen Handelns anerkannt. In diesen Anschauungen finden wir bereits Ansätze zu einer Lehre der Gerechtigkeit, die den Gegensatz zwischen Positivismus und Naturrecht zu überwinden trachtet. Sie sieht das Naturrecht nur mehr als eine weltliche aus der Vorstellung des Menschen geborene Erscheinung an. Die Gerechtigkeit aber wird auf Gottes Willen selbst zurückbezogen, bleibt freilich menschlicher Kenntnis in ihrer wahren Form unzugänglich.

 

3. Die Lehre von Jacques Ellul

Diese Linie ist nun von Jacques Ellul weiter verfolgt worden 45). Er lehnt ein auf die Ordnung der Schöpfung gegründetes Naturrecht schon aus einem Schöpfungsbegriff heraus ab, der nicht die abgeschlossene Vollendung der Welt, sondern die in ihr fortwirkende göttliche Kraft betont. Im Naturrecht sieht Ellul nur eine bestimmte historische Stufe der Rechtsentwicklung, auf der das Recht nicht mehr religiös bestimmt ist, aber auch noch nicht das rein technische Erzeugnis staatlicher Macht geworden ist. Man wird diesen Gedanken, das Naturrecht als eine historische Erscheinung anzusehen, annehmen können, nicht


41) Emil Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, 1932. Natur und Gnade, 1934. Gerechtigkeit, 1943. Das Menschenbild und die Menschenrechte in: „Universitas”, 2, (1947), S. 269ff., 385ff.
42) Karl Barth, Nein! Antwort an Emil Brunner (Theologische Existenz heute), 1934. Christengemeinde und Bürgergemeinde, Stuttgart, 1946, S. 22f.
43) Christengemeinde, S. 23, 30.
44) Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, S. 20, 29, 56f.
45) Die theologische Begründung des Rechts. Übers. von Otto Weber, 1948.

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aber die mit ihm verbundene Stufentheorie der Rechtsentwicklung, die an verwandte Folgen erinnert,deren wir bei Auguste Comte oder bei Oskar Spengler begegnen. Einer solchen naturwissenschaftlichen Entwicklungskette oder einer Kulturmorphologie entstammenden Stufung werden wir heute andere Bilder des geschichtlichen Laufes entgegenzustellen haben.

Der Mittelpunkt der Lehre Elluls ist die christozentrische Begründung des Rechts aus der Lehre von der Erlösung. Das Recht, so sagt Ellul, ist nicht das Werk menschlicher Vernunft, sondern Handeln Gottes in der Welt. Nur aus der Gnade kann der Mensch zur Gerechtigkeit gelangen. Alles Recht erhält seinen Sinn erst aus dem von Christus eingeleiteten neuen Äon, letztlich also im Hinblick auf die Wiederkehr zum Gericht. Dem Menschen ist daher die Möglichkeit einer Erkenntnis der Gerechtigkeit verschlossen. Er kann nur, ein tiefer Gedanke, in seinem Streben als homo faber versuchen, das wahre Recht zu finden und darauf hoffen, daß sein Bemühen wenigstens teilweise den wahren Prinzipien des Rechts nahekommen möge.

Auch Ellul verzichtet nicht auf Maßstäbe des positiven Rechts. Er findet sie einmal in den von Gott geschaffenen Institutionen, die von Gott gewollte Lebensformen darstellen, wie Ehe, Staat, Volk. Wie scharf auch Ellul diese Institutionen von jeder natürlichen Theologie abhebt, es scheint, als ob doch diese Vorstellung eines gewissen Anklanges an die Idee der natürlichen Ordnungen nicht entbehrt. Sodann aber findet Ellul einen Maßstab, in den Menschenrechten, den aus Würde und Freiheit des Christenmenschen abgeleiteten grundlegenden rechtlichen Eigenschaften des Menschen.

Die Lehre Elluls ist voll von wertvollen Anregungen für eine Erneuerung der protestantischen Lehre von Sittlichkeit und Recht. Sie führt zunächst zu einer klaren transzendenten Begründung der Gerechtigkeit in Gottes Setzung. Sie beläßt der weltlichen Gemeinschaft ihren Glauben an naturrechtliche Satzungen, zeigt aber deren notwendig fehlerhaften und auch historisch wandelbaren Charakter auf. Interessant ist, daß Elluls Auffassung der Gerechtigkeit stark voluntaristisch begründet ist. Nicht eine rationale Gesetzlichkeit stellt das Recht dar, sondern es entspringt dem Willen Gottes. Gerechtigkeit und Schöpfung sind bei Ellul niemals statisch gedacht. Sie sind immer wieder auf die Gegenwart bezogen.

Eine Lücke im Gebäude der Theorie Elluls bildet seine weitgehende Vernachlässigung der Probleme des Staates. Ellul folgt hier der von Léon Duguit begründeten Schule vom fait social, die die in den gesellschaftlichen Gruppen sich bildende Gesetzlichkeit als Quelle des Rechtes ansieht. Soweit der Einfluß dieser Ideen reicht, die soziale Fakten in normative Gebote transponieren, wird daher auch eine kritische Stellungnahme geboten sein 46).


46) Von einer positivistischen Basis aus, die E. Kaufmann, Recueil du Cours de l’Academie de la Haye. 1936, S. 9 hervorhebt, kommt Duguit zur Annahme einer inneren Gesetzlichkeit der sozialen Körper, die H. Fehr, Ausstrahlungen, S. 23 nicht mit Unrecht als naturrechtlich bezeichnet. Vgl. A. Nußbaum, A Concise History of the Law of Nations, New York 1947, S. 284f.

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Im Ganzen aber sind in Elluls Arbeit eine Reihe wichtiger Gedanken erhalten, die in der Problematik einer protestantischen Naturrechtslehre weiterhelfen. Die theologische Seite seiner Zurückführung der Gerechtigkeit auf die Erlösung will ich hier beiseite lassen, ebenso wie die anderen theologischen Probleme. Vom rechtswissenschaftlichen Standpunkt aus aber können wir Ellul die Vorstellung entnehmen, daß das Naturrecht nicht notwendig als absolute Verwirklichung der Rechtsidee verstanden werden muß. Wenn man nicht der Auffassung einer natürlichen Theologie folgt, so bietet sich doch der Weg, das Naturrecht als eine geschichtliche gegebene menschliche Vorstellung vom wahren Recht zu verstehen. Sie muß notwendig, da dem Menschen die Erkenntnis wahrer Gerechtigkeit verschlossen ist, ein unvollkommener und fehlsamer Versuch bleiben, die Gerechtigkeit zu erkennen und zu gestalten. Naturrecht in diesem Sinne kann also nur als historisches Phänomen, als Ausdruck des menschlichen Strebens nach der Gerechtigkeit verstanden werden. Auch auf diese Weise aber gewinnt es gegenüber dem positiven Recht eine unabhängige, tiefere Begründung. Dieser Gedanke eröffnet die Möglichkeit, das Naturrecht als eine jeder Epoche gegebene geschichtliche Möglichkeit der Aufstellung allgemeiner Sätze des Rechts aufzufassen, die keine absolute Geltung beanspruchen können, in denen aber nach menschlichem Streben so weit wie möglich eine — im theologischen Sinne unvollkommene — Vorstellung der Gerechtigkeit zur Geltung kommt. Naturrecht weist danach zurück auf eine transzendente Ordnung, ist aber nur ein relativer Ansatz jeder Zeitepoche, ihr gerecht zu werden.

Mit dieser Anschauung vom Naturrecht, die den tiefen Unterschied protestantischer Rechtsanschauung von der thomistischen Zuversicht des lumen naturale, die die Entfernung des gefallenen Menschen von Gott und von der iustitia aeterna wie die allein aus der Gnade wiedergeschenkte Möglichkeit einer Erkenntnis der Gerechtigkeit sichtbar macht, ist ohne weiteres auch der Gedanke eines historischen Wandels der rechtlichen Grundvorstellungen zu verbinden. Sie befriedigt das Bedürfnis der Rechtswissenschaft, zu höheren über dem positiven Recht stehenden Sätzen zu gelangen, die auch die Lenker der Staaten verbinden. Denn man wird diese Prinzipien, stellen sie auch nur eine zeitgebundene und unvollkommene Verwirklichung der Rechtsidee dar, und mag man sie Naturrecht bezeichnen oder bescheidenere Namen bevorzugen, doch als Richtmaß des positiven Rechts ansehen dürfen. Es darf freilich nicht der Versuch unternommen werden, sie positiv zu formulieren, sie in Deklarationen und Satzungen zu fassen; eben dadurch würden sie die ihnen eigentümliche Kraft höherer Geltung, die innere Lebendigkeit nicht formulierten, nicht positiven Rechts einbüßen.

Die Erkenntnis dieser Prinzipien ist eine apriorische. Sie geht aus der Fähigkeit des Menschen zur Werteinsicht hervor, so begrenzt wir sie halten müssen. Sie kann aber eine Unterstützung und Bestätigung finden in einer Beobachtung tatsächlicher Art. Das, was in einer Epoche als allgemeine Rechtsüberzeugung der Völker erscheint, was unter ihnen oder unter einer

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Gruppe von ihnen wie der abendländischen Gemeinschaft, als wirklich gemeinsame rechtliche Basis, als echtes ius gentium erscheint, mag als Ausdruck der natürlichen Prinzipien des Rechts angesehen werden.

Darüber hinaus aber wird christliches Denken aus geoffenbarter Weisung und christlicher Erkenntnis zwar keine absoluten Gebote, auch keine formulierten Sätze der Gerechtigkeit, aber doch einen inneren Anhalt für Recht und Gerechtigkeit in den Fragen weltlichen Handelns finden können. Mit diesen Möglichkeiten der Findung naturrechtlicher oder fundamentaler Prinzipien des Rechts wird sich die protestantische Lehre, will sie nicht den Boden der natürlichen Theologie betreten, begnügen müssen. Sie bietet, wenn man Zeitgebundenheit und Unvollkommenheit menschlichen Strebens nach der Gerechtigkeit würdigt, aber dennoch genügend Ansatz, um in der Rechtsnot der Gegenwart das Recht unabhängig zu stellen vom Staate, ihm einen inhaltlichen Maßstab zu weisen und hierbei die Gemeinsamkeit der rechtlichen Grundlagen zwischen den Völkern und Staaten zu betonen. Eine solche Lehre wird also keine Rückkehr zu älteren naturrechtlichen Darstellungen bedeuten, aber doch eine Überwindung des Positivismus und ein Ansatz, von dem aus es möglich sein wird, auch zu inhaltlichen Aussagen sozialethischer Art zu gelangen. Ihnen wird kein absoluter Geltungsanspruch zugeschrieben; aber sie können doch dem Christen ein Halt sein um seine Aufgaben im öffentlichen Leben in allem Vorbehalt der Zeitgebundenheit und Schwäche seiner ethischen Erkenntnis zu genügen.