Wolf, Ernst

Rechtfertigung und Recht

1950

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Rechtfertigung und Recht

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Von Ernst Wolf

„Rechtfertigung und Recht” umschreibt eine Fragestellung, die inzwischen bereits den Charakter auch einer Parole angenommen hat, innerhalb einer bestimmten theologiegeschichtlichen Situation und zugleich auf dem Hintergrund des Rechtszerfalls in dem wesentlich positivistisch gestalteten Rechtsleben der abendländischen Moderne. Es wird sich im folgenden darum handeln, den Ort und die Tragweite jener Fragestellung und Parole „Rechtfertigung und Recht” näher zu bestimmen 1).


*) Nachträglich durch Anmerkungen erweitert.
1) Es handelt sich bei den zu erörternden Fragen um das Problem von Kirche und Recht nicht nur angesichts der gegenwärtigen Rechtsnot, sondern vor allem im Hinblick auf die Grundfragen und Grundpositionen der Rechtswissenschaft.
Hans Liermann hat im Jahrbuch des Martin Luther-Bundes von 1948 (S. 119 bis 129) einen Aufsatz über das Thema „Christentum und Rechtswissenschaft” veröffentlicht. Es geht ihm um eine in katholische und evangeliche Rechtswissenschaft besonderte „christliche Rechtswissenschaft” und um ein von Rechtswissenschaft, Theologie und Philosophie in gemeinsamer Arbeit zu gewinnendes „christliches Rechtsideal”. Diese Allgemeinheit der Blickrichtung erklärt wohl, warum Liermann ohne Bedenken den Satz formulieren kann, daß das Christentum der Alten Kirche das römische Rechtsdenken rezipieren konnte, „ohne damit seinem Wesen untreu zu werden” (S. 121), weil nämlich das römische Recht „keineswegs eine Angelegenheit rein diesseitigen Denkens” gewesen sei, sondern mit dem praktischen Denken der Römer die im wesentlichen stoische Philosophie verbunden habe und damit die Idee von der Verwurzelung des Rechts in einer jenseitigen Welt. Dieser „feste Standpunkt” jenseits des innerweltlichen Geschehens verbinde Christentum und römische Jurisprudenz!
Während sich nach der Säkularisierungswelle der Aufklärungszeit und besonders nach dem ersten Weltkrieg eine erstarkende katholische Rechtswissenschaft mit ihrem naturrechtlichen Denken entwickelt habe, sei die evangelische, von Anfang an (aus dogmatischen und historischen Gründen) behindert, das gesamte Rechtsleben in christlichen Schau zu begreifen, seit dem Kirchenkampf, d.h. seit dem ersten tiefgreifenden Konflikt mit der staatlichen Welt, im Aufbruch; nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Ökumene. „Barmen” und die juristische Auswertung der theologischen Positionen der evangelischen Kirche im Kirchenkampf „muß zur Folge haben, daß sich eine evangelisch-christliche Rechtslehre herausbildet”. Erste Symptome sieht Liermann in der theologischen Arbeit, für die er freilich — und erstaunlicherweise — nur P. Althaus und im Abstand von ihm E. Brunner nennt. Die entscheidenden programmatischen Arbeiten von K. Barth und J. Ellul werden nicht erwähnt.
Wie sehr jedoch diese werdende evangelische Rechtslehre noch in den Anfängen steckt, lehren die mehr zufälligen, aber in der Selbstverständlichkeit ihrer Redeweise bezeichnenden Gelegenheitsäußerungen dazu: so wird z.B. über eine Juristentagung der Hermannsburger Akademie berichtet: „Das Gespräch machte deutlich, in ➝

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Die theologiegeschichtliche Situation ist gekennzeichnet durch Probleme, die mit den Stichworten „natürliche Theologie”, „Schöpfungsordnung”, „Gesetz und Evangelium”, „Lehre von den zwei Reichen oder Regimenten”, „politische Theologie” materiell, „Uroffenbarung und Wort Gottes in Christus” formal bezeichnet werden können und die ihrerseits geweckt und dringlich gemacht sind durch die Frage nach der sozialethischen Wirksamkeit der evangelischen Botschaft. An dieser Stelle begegnet heute der Fragestellung der Theologie die Fragestellung der um die theoretische Wiedergewinnung der Fundamente des Rechtslebens bemühten Jurisprudenz, also die Frage nach dem „richtigen Recht”, nach den „ewig gültigen Rechtsgrundlagen”, nach einem formal wie inhaltlich verschieden aufgefaßten „Naturrecht”, nach der — mit dieser Fragestellung zumeist voreilig identifizierten oder mit ihr verwechselten — metaphysischen Begründung des Rechts, nach der grundlegenden Beziehung des Rechts zur formgebenden Idee der Gerechtigkeit, nach Wesen und Wirklichkeit des Rechts im Licht der Frage nach Wesen und Wirklichkeit der Gerechtigkeit.

Auf der Ebene einer Theologie der sog. Schöpfungsordnungen suchte man die Antwort zu geben durch die Umrißzeichnung eines mehr postulierten als ausgestalteten „evangelischen Naturrechts”, das nur zu bald die Form eines ein


➝ welches Spannungsverhältnis sich heute jeder Jurist gestellt sieht, der es mit dem Christentum ernst nimmt. Die Rechtsordnung ist notwendigerweise eine vom Menschen errichtete Notordnung, welche mit der Schöpfungsordnung, wie sie im Evangelium wieder sichtbar wurde, in Widerspruch geraten muß” (Nachrichtendienst der Pressestelle der Evang. Kirche im Rheinland, Nov. 1949, S. 232). — Noch harmloser redet von „der Schöpfungsordnung” als dem vorgeblichen Grundbegriff der „Rechtslehre” der evangelischen Kirche ein Bericht über eine Tagung in der Akademie Christophorusstift, Hemer i.W., unter dem Titel: Mann und Frau im Bundesgesetz. Der Staat als Ehebrecher (Rhein-Neckar-Zeitung vom 20. Okt. 1949): „Wie weit greift die im Artikel 2 (richtig Art. 3, Abs. 2) des Grundgesetzes festgelegte rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau in die derzeit noch bestehende Rechtsregelung ein und wie weit würde die konsequente Durchführung dieser Bonner Rahmenbestimmung die gottgewollte Schöpfungsordnung umstürzen? ... Von kirchlicher Seite wurde ... darauf hingewiesen, daß im Falle einer rücksichtslosen Durchführung dieser Bestimmung die Möglichkeit eines Streites zwischen Staat und Kirche gegeben sei, da eine rechtliche Gleichsetzung von Mann und Frau den göttlichen Geboten entgegenstehe...” Diese — auf ihre sachliche Richtigkeit hin noch zu prüfende — Berichterstattung in der Tagespresse erweckt den Eindruck von einer bestimmten, durch eben diese Formulierungen gekennzeichneten kirchlichen Rechtslehre. Man darf das nicht unterschätzen! Irgendetwas wird an diesem Bericht immerhin nicht ganz unzutreffend sein. Erinnert man sich aber daran, wie sehr gerade durch die neueren Bemühungen um eine sachgemäße Auslegung von Gen. 1 und 2 die „schöpfungsmäßige Untergeordnetheit” der Frau unter den Mann in Frage gestellt wird (Zimmerli, K. Barth, G. von Rad, Ch. von Kirschbaum u.a.) — dann spürt man noch deutlicher, wie derartige Gedankengänge die ganze Unsicherheit der evangelischen Kirche gegenüber Grundfragen der Rechtswissenschaft enthüllen. Ihr Anspruch und ihre Naivität wirken geradezu peinlich. Das Versagen solcher „Theologie” vor der Wirklichkeit des Lebens wird offenkundig.

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wenig modifizierten scholastischen Naturrechts etwa des Thomismus annahm 2). Es ist nicht biblisch, sondern bestenfalls biblizistisch, ist nicht „evangelisch”, sondern „nomistisch”. Es ist „naiv”, nicht nur sofern es die Bibel nach ihr entnehmbaren und verfügbaren Rechtsgrundsätzen befragt, sondern auch sofern es bewußt oder unbewußt an ein Normalschema von ideal gerechtem Recht glaubt. Es gerät von da aus — zumal es latent deistisch und mehr oder minder ausgesprochen „weltanschaulich” orientiert ist — sehr bald (wie auch der jüngste Entwurf von E. Brunner grade mit seiner eindrucksvollen Geschlossenheit und durchsichtigen Systematik zeigt) in dieselbe Situation, der das „klassische”, das stoisch-christliche Naturrecht als Ausdruck der „abendländischen Gerechtigkeitsidee” (Brunner) entstammt:

Die Botschaft des Evangeliums erwies sich nämlich, wie wiederholt richtig beobachtet wurde, bereits in der Frühzeit ihrer Missionsgeschichte als religiös lückenhaft, d.h. sie enthielt zu wenig Gebote. Von da aus setzt alsbald das Bestreben ein, das Gesetz des NT im Zusammenhang mit der es erfüllenden Christusbotschaft zu einem „Gesetz Christi” zu ergänzen und auszubauen, wobei dieses „Gesetz Christi” als das durch Christus gereinigte, legitimierte und so „wiederhergestellte” Naturgesetz mit aristotelisch-stoischen Inhalten ausgestattet wurde, befähigt, auch eine Fülle anderer rechtlicher Anschauungen und Sätze in sich aufzunehmen. Wenn z.B. E. Brunner nicht beim Zeugnis der Bibel einsetzt, sondern an der aristotelischen Gerechtigkeitsidee, dem „richtigen


2) Vgl. für die Postulate z.B. Erik Wolf, Richtiges Recht und evangelischer Glaube = Die Nation vor Gott, 1933, S. 243ff.; ders., Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, S. 29ff.; allerdings rückt Verf. in der dritten Fassung seiner Erwägungen in einem Memorandum von 1950 für die Studienabteilung des Ökumen. Rates: „Die Weisung der Heiligen Schrift für die menschliche Rechtsordnung” sehr viel näher an die sog. christologische Rechtsbegründung heran! — Für den modifizierten Thomismus: E. Brunners Theorie der „Urordnung” in: Gerechtigkeit, 1943. — Zum Ganzen: Ernst Wolf, Naturrecht und Gerechtigkeit = Evgl. Theol. 1948, S. 233ff. — Zur Restauration naturrechtlichen Denkens aus der Fülle neuerer Aufsätze und Broschüren: O. Veit, Die geistesgeschichtliche Situation des Naturrechts = Merkur I/3, 1947, 390ff., H. Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts. Ein Versuch zur Neugründung des Naturrechts. 1947. G. Küchenhoff, Naturrecht und Christentum. 1948. E. Spranger, Die Frage der Erneuerung des Naturrechts = Universitas III/4, 1948; dazu H. Coing, Um die Erneuerung des Naturrechts = Universitas III/10. F.A. von der Heydte, Existenzialphilosophie und Naturrecht = Stimmen der Zeit 74/3, 1948/49, S. 185ff. — Zur allgemeinen Kritik am Naturrecht u.a.: A. Arndt, Die Krise des Rechts = Die Wandlung III/5, 1948, 421ff.; dazu H. Coing, Kultur-gebundene oder ungebundene Entscheidung im Recht? = Die Wandlung IV/6, 1949, 508ff. J. Ellul, Die theologische Begründung des Rechts (Deutsche Übers. von O. Weber). 1948. H. Wenz, „Christologisches Naturrecht” und Wirtschaftsordnung = Evgl. Theol. 1948, 175ff. Neuerdings: F. Delekat, Kirche und Recht, Theol. Lit. Ztg. 1949, Nr. 10, Sp. 599ff. F.K. Schumann, Die Frage der Menschenrechte in der Sicht des christlichen Glaubens = als Mskr. gedr. Studienheft des Christophorus-Stifts, Evang. Akademie, Hemer (1949).

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Zuteilen des Gehörigen”, wenn er im NT und noch weniger im AT nur geringes Material für eine christliche Lehre von den weltlichen Ordnungen auf dem Grund der Idee der „Unordnung” findet, dann verdeutlicht das eben die behauptete Wiederholung der Situation: hier wie dort, heute wie damals eine christliche Naturrechtslehre, die nur durch schmale biblizistische Brücken mit der evangelischen Botschaft und ihrer Mitte, der Verkündigung von der Versöhnung der Welt mit Gott in Christus, verbunden ist 3).

Dieser „naiven” Fragestellung nach letzten christlichen Rechtsgrundsätzen in einem „christlichen” und im besonderen „evangelischen” Naturrecht tritt die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Rechtfertigung sozusagen als kritische Fragestellung gegenüber. So wie das Evangelium die kritische Infragestellung aller Religion ist, so bedeutet die Botschaft von dem neuen Leben des Menschen „in Christus”, von dem „neuen Menschen” als dem darin gerechtfertigten Sünder, die Infragestellung eines jeden der „natürlichen” Religion, Theologie und Ethik entsprechenden und zugeordneten „natürlichen Rechts” in der Form des „Naturrechts”, mag es auf der „Natur” des Menschen oder auf der „Natur” des Rechts begründet, religiös rezipiertes „göttliches” oder rein rationales „Vernunftrecht” sein 4).

Die Problemstellung „Rechtfertigung und Recht” macht hier die paulinische reformatorische Theologie geltend, die sich um eine möglichst sachgemäße gedankliche Verantwortung der Christusbotschaft bemüht. Und sie bedeutet heute zugleich den Versuch einer Fortführung der reformatorischen Erneuerung paulinisch-neutestamentlicher Theologie an einem Punkt, an dem die Reformatoren noch nicht zu eindeutigen und ihren Grundeinsichten voll entsprechenden Erkenntnissen vorgestoßen waren.

„Ziel und Ende des Gesetzes ist Christus, auf daß, wer da glaubt, gerecht werde” (Röm. 10, 4) — dieser Satz umschreibt die zentrale Erkenntnis des Apostels und stellt zugleich die konkrete Antwort dar auf die Frage, auf den hypothetischen Satz, in dem sich die pharisäische Vergangenheit dieses Theologen meldet: „Wäre uns ein Gesetz gegeben mit der Macht, lebendig zu machen, so käme aus dem Gesetz Gerechtigkeit” (Gal. 3, 21). — Der pharisäische Rabbi Saulus und der Apostel Paulus verhalten sich auf der in ihrer formalen Struktur gleichbleibenden Ebene theologischer Gedankenführung zueinander wie die beiden „Lebensformeln” ἐν Χριστῷ und ἐν νόμῳ. Wo beim Pharisäer das „im Gesetz” stand, steht beim Apostel das „in Christus”. Christus ist ihm als die „Erfüllung” (und das „Ende”) des Gesetzes, d.h. als seine lebendige,


3) Charakteristisch für diese Wiederholung ist der Entwurf von Küchenhoff, der in seinem Buch und an anderer Stelle (Rückkehr zum Naturrecht = Die Lücke, 1948, S. 22) als Weg einer heutigen „Fortentwicklung des Naturrechts” angibt: „Indem, wie die im Alten Testament verkündeten zehn Gebote Gottes durch das im Neuen Testament erlassene Liebesgebot umfaßt und überhöht werden, das von jenen zehn Geboten im wesentlichen gespeiste Naturrecht hinausgesteigert wird zu einem aus dem Gebot der Nächstenliebe folgenden Liebesrecht” (vgl. auch Anm. 11).
4) Vgl. Erik Wolf, Rechtsgedanke, S. 21.

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Leben setzende Wirklichkeit an die Stelle getreten, die er früher dem Gesetz zusprach.

Gesetz, das war ihm „die Form, in der Gott auf Erden wirklich wird, und ebenso die Form, in der Menschen Gott zugeordnet sind” 5), einzige Quelle alles Heils, das in „Erkenntnis und Wahrheit” besteht. Gesetz war ihm die Bekundung des Willens Gottes von universaler Gültigkeit, die einen bestimmten geschichtlichen Träger in Form einer kirchlichen Gemeinschaft, des „Volkes Gottes” fordert. Dem Ringen um die religiöse und sittliche Reinheit dieser Gemeinschaft galt der ganze Eifer des Pharisäers Saul. Die „Werke des Gesetzes” sind Grund und Ziel aller jüdischen Frömmigkeit. Es ist ein gottsuchender Eifer, der den ganz gehorsamen Diener des Gesetzes heimlich zum Herrn über das Gesetz sich wandeln läßt, der die Ehre Gottes in den Nationalismus des jüdischen Volkes verfälscht. Die Bekehrung des Paulus, die ihm als ein Widerfahrnis begegnet, besteht in diesem Zusammenhang in der Erkenntnis dessen, daß das Gesetz als solches nicht das Leben selbst in sich trägt. So begegnen die Fragen nach Gesetz und Gemeinde nach der Bekehrung in neuer Einsicht: „Gesetz ist nur dann göttliche Offenbarung, wenn ihm von Gott her in einer ihm zugeordneten Gemeinschaft die Wirklichkeit und Erfüllung seines Anspruches verliehen wird, und Gemeinschaft Gottes ist dieses ,Volk’ nur dann, wenn seine konstituierende Norm nicht mehr nur Aufgaben setzt, sondern Gaben spendet” 6): „Ziel und Ende des Gesetzes ist Christus, auf daß wer da glaubt gerecht werde”.

Als Ziel dieses Gesetzes ist Christus Begründung eben des Gesetzes, dessen universale Gültigkeit er selbst durch seinen — des Präexistenten (Phil. 2, 6) — Gehorsam, durch sein Unter-das-Gesetz-getan-Sein bekundet hat; Ende des Gesetzes aber, sofern in ihm die Erde und ihre Geschichte eschatologisch vollendet sind. Daß sie es sind, das lehrt Paulus als seine Deutung von Tod und Auferstehung Jesu: „Die Welt ist neu seitdem und dadurch, daß Jesus da war; jetzt ist die Versöhnung zwischen Gott und Mensch gestiftet und das Wort eingesetzt, das diese Versöhnung verkündigt” 7). Christus ist „gerade in seinem Kreuzestode die göttliche Wirklichkeit zu jener göttlichen Norm, das ewige und gültige Sein zu dem ewigen und gültigen Sollen des Gesetzes” 8). Dem rabbinischen Urteil über das Gesetz als Mittel und Prinzip aller Schöpfung entspricht das paulinische, das diese Aussagen auf Christus bezieht. Und „Glaube” ist das neue „religiöse Prinzip”, die durch Gottes Heilstat in Christus geschenkte neue Möglichkeit des Seins zu Gott als gehorsames Hören auf das Wort in radikalem Verzicht auf jenes Selbst-Sein-Wollen, hinter dem der heimliche Anspruch stand, sein zu wollen wie Gott.

Damit ist in knapper und entsprechend ungesicherter Andeutung der biblisch-theologische Hintergrund der zunächst theologisch gemeinten und hier theologie-


5) E. Lohmeyer, Grundlagen paulinischer Theologie, 1929, S. 26.
6) E. Lohmeyer, a.a.O., S. 199.
7) R. Bultmann, Art. Paulus, R.G.G. 2. Aufl. IV, 1029.
8) E. Lohmeyer, a.a.O., S. 91.

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geschichtlich zu verdeutlichenden Problemstellung „Rechtfertigung und Recht” umrissen. Sie ist entscheidend durch Karl Barth in einer prinzipiellen Studie aufgeworfen worden, durch die er 1938 seine theologische Stellungnahme zu den politischen Ereignissen zugleich als eine predigende und seelsorgerliche Stellungnahme sich und anderen zu begründen suchte:

„Die Frage lautet zunächst: Gibt es eine Beziehung zwischen der Wirklichkeit der von Gott in Jesus Christus ein für allemal vollzogenen Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben und dem Problem des menschlichen Rechtes: eine innere, eine notwendige, eine solche Beziehung, durch die mit der göttlichen Rechtfertigung auch das menschliche Recht in irgendeinem Sinne zum Gegenstand des christlichen Glaubens und der christlichen Verantwortung und damit auch des christlichen Bekenntnisses wird? . . . Gehört das Problem der Ordnung, die nicht mehr oder noch nicht die des Reiches Gottes, das Problem des Friedens, die nicht mehr oder noch nicht der ewige Gottesfriede, das Problem der Freiheit, die nicht mehr oder noch nicht die Freiheit der Kinder Gottes ist — gehört das Alles mit hinein in den Bereich der Wirklichkeit der neuen Zeugung des Menschen durch Gottes Wort, in die Wirklichkeit seiner Heiligung durch den Geist? Gibt es bei aller Verschiedenheit in irgendeiner inneren und notwendigen Zugehörigkeit neben dem . . . Gottesdienst der christlichen Existenz und . . . neben (dem) . . . ,Gottesdienst’ der Gemeinde . . . auch so etwas wie einen politischen Gottesdienst, d.h. . . . einen Dienst Gottes, der . . . in irgendeiner Anerkennung, Förderung, Verteidigung, Verbreitung menschlichen Rechtes nicht trotz, sondern gerade wegen der göttlichen Rechtfertigung bestehen würde?” 9)

Um diese Frage nach einer bei aller Unterschiedenheit doch bestehenden und zu erfassenden inneren und notwendigen Zugehörigkeit geht es von menschlichem Recht zur göttlichen Rechtfertigung, von Amt der Obrigkeit zum Glauben an Christus, von bürgerlichem Dasein in der politischen Welt zum verborgenen Leben des Christen in Gott.

Die Reformation hat immer wieder betont, das es beides gebe, daß das eine das andere nicht ausschließen solle und könne, daß beides auf eine ordinatio divina, auf eine göttliche Anordnung zurückgehe, sie hat aber die Frage, inwiefern beides zusammengehöre und in welcher Beziehung beides zur zentralen Mitte der christlichen Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders stehe, nicht mehr eindeutig beantwortet, sondern nur im prinzipiellen Ansatz ihrer Glaubensethik angedeutet. — Man hat die Lücke, die damit in ihrer Theologie (und Ethik) an dieser Stelle klafft, später durch verschiedene Theorien beseitigen wollen, etwa durch die Unterscheidung der in ein und demselben Individuum verbundenen Personen- und Amtsmoral. Man hat die „weltliche” Ordnung durch das Naturrecht zum Gebot Gottes vermittelt und die „geistliche” durch die Tat Christi zur Liebe Gottes. Oder man hat der Liebe selbst ein „eigenes”


9) K. Barth, Rechtfertigung und Recht, Zollikon 1938, S. 3 (wieder abgedruckt in K. Barth, Eine Schweizer Stimme 1938/1945, Zollikon, 1945; dort auch die verschiedenen politischen Stellungnahmen seit 1938).

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und ein „fremdes” Werk zugesprochen, die Barmherzigkeit und die Strenge der Schwertgewalt, indem man behauptete, daß die Reformation, zumindest Luther, den Gedanken des Naturrechts abweise (Holl gegen Troeltsch). Keine dieser und verwandter Deutungen der reformatorischen Position trifft völlig zu 10); und keine von ihnen sagt offen, daß die reformatorische Theologie an dieser Stelle die Nachjahren — zunächst wenigstens — im Stich lasse. Noch einmal soll durch diese Andeutungen betont werden, daß es sich bei der Frage „Rechtfertigung und Recht” um eine bestimmte theologische Fragestellung handelt, deren rechtsphilosophische Bedeutung vielleicht geahnt, aber noch nicht eindeutig geklärt worden ist, von ihrer Bedeutung für die praktische Gestaltung des Rechtslebens ganz zu schweigen.

Aber diese Bedeutungen treten als Problemstellung alsbald hervor, wenn man sie auf die Frage nach der Rechtsbegründung bezieht. Es geht also nicht um die Frage nach letzten, ideal-axiomatischen Rechtsgrundsätzen, nach den „letzten Normen” vorfindlichen positiven Rechts (wobei keine Diskussion darüber aufkommen sollte, daß, was noch nicht die Gestalt des positiven Rechts angenommen hat, auch nicht eindeutige Richtschnur der Rechtsprechung sein könne). Es geht um die Frage nach Wesen und Wirklichkeit des Rechts überhaupt.

Das sog. klassische Naturrecht sucht beide Frage, die nach der metaphysischen Rechtsbegründung und die nach den ideal-axiomatischen Rechtsgrundsätzen, in einem zu beantworten, sofern es die lex naturalis über die Idee der lex aeternae mit der lex Dei verbindet; in diesem „klassischen” Naturrecht, in dem die Scholastik so die aristotelische Gerechtigkeitslehre und die stoische Theologie mit dem in der Bibel geoffenbarten Gebot des Schöpfergottes und seinen Schöpfungsordnungen in einem großen sachlichen Zusammenhang verknüpft, wird bei näherem Zusehen hinter einer biblizistischen Fassade auf einem anderen Fundament gebaut, für das die Christusoffenbarung jedenfalls nicht wesentlich ist 11). Und an die reformatorischen Väter ist hier — mit Karl Barth — durchaus


10) Vgl. E. Wolf, Politia Christi = Evang. Theologie 1948/49, S. 46ff.; ders., Zur Selbstkritik des Luthertums = Evangelische Selbstprüfung, 1947, S. 113ff.
11) In seiner Kritik zu E. von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 1947, sagt H. Schauf (Trierer Theol. Zeitschr. 57, S. 372) zu Hippels Satz: „Die lex aeterna enthält das Ideal des Rechts, welches der Vater im Sohn offenbart” vom kirchlichen Lehrstandpunkt her: „Es schwingt in dieser Begriffsbestimmung die Auffassung der tatsächlichen übernatürlichen Ordnung der Offenbarung in Christus mit, ja erscheint als ein Wesenselement. Wir zweifeln, ob dies dem festliegenden Begriff der lex aeterna entspricht. Die Scholastik jedenfalls faßt den Begriff weiter. Die historische Offenbarung gehört hier nicht wesentlich zur lex aeterna. Dagegen wird wohl die lex naturalis, insofern sie in Gottes Wesen seinshaft gründet, zur lex aeterna gezählt . . .” — Noch deutlicher Küchenhoff in seinem programmatischen Versuch, das Naturrecht „vom Christentum her gleichsam zu einem getauften Naturrecht” hinaufzusteigern, „ein über das bisherige Naturrecht hinausgehendes, es aber als Wurzel behaltendes Liebesrecht zu entwickeln” (S. 6f.): bei der Untersuchung des Liebesrechts „ist nicht allein wie im Naturrecht die natürliche Offenbarung oder Offenbarung durch ➝

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die Frage zu richten, ob sie nicht trotz ihrer Erkenntnis von Christus als der Mitte des Bibelworts und trotz ihrer grundsätzlichen Ablehnung einer spekulativ-apologetischen natürlichen Theologie bei ihrer Lehre etwa von der gottgeordneten Obrigkeit, von den Ordnungen der Stände, von der Ehe, vom Eigentum usw. nur scheinbar biblisches Gut zu vertreten behaupten, in Wirklichkeit aber eine christliche Weltanschauung an die Stelle des in der Rechtfertigungslehre formelhaft zusammengefaßten Christuszeugnisses treten lassen; ob sie „auch das Recht auf die Rechtfertigung, auch die politische Gewalt auf die Gewalt Christi” begründet haben 12).

Es sieht in der Tat so aus, als ob die wachsende Entfremdung zwischen christlichem Dasein und weltlichem Leben Ausdruck eines sich verhängnisvoll


➝ das Sein der Welt, sondern auch die ausdrückliche Offenbarung heranzuziehen. In dieser findet die Formung des Liebesrechts” — das als „Rechtsgeist” den „Rechtsstoff” zu formen hat (S. 78) — mehr als eine Stütze (S. 71). „Es geht über das reine Naturrecht nur so hinaus, wie durch die Hervorhebung der Gebote der Nächstenliebe und der Gottesliebe die Gesetze des alten Bundes erweitert werden, ebenso wie auch die natürlichen, auf das eigene Ich abstellenden Kräfte der Menschennatur durch den Gedanken an ,den anderen’, den Nächsten über sich selbst hinaus entwickelt und erhöht werden” (S. 86). Dabei gilt aber die Hypothese, „daß das Liebesrecht ein so tief im Menschen wurzelndes Anliegen ist, daß man dazu von den verschiedensten religiösen und philosophischen Auffassungen gelangen kann” (S. 88). Das Liebesrecht ruht zuletzt in der „zentralen ungeteilten Innenkraft des Menschen”, dem Gewissen (S. 89)! Es formt „die Achtung vor dem Leben und dem Lebendigen” (S. 94), fordert die genossenschaftliche Natur im Recht der Gemeinschaften (S. 104ff.) — entsprechend der in der Enzyklika Quadragesimo anno geforderten sozialen Liebe (S. 124) usw. Die anthropologische Grundlage des katholischen Naturrechts wird hier wieder ganz deutlich innerhalb eines Programms auch rechtsgestaltender „Heimkehr zum Menschen” (S. 136).
12) Diese Frage ist auch an die beachtlichen Thesen von P. Brunner zu richten, „Der Christ in den zwei Reichen” (Für Kirche und Gemeinde. Ev. Sonntagsblatt für Baden, 4. Jgg. Nr. 10, S. 62, 1949. Vgl. Evang.-luth. Kirchenzeitung 1949, Nr. 21), besonders an Thesen 9-12: „9. Gott erhält das leibliche Leben der Menschen durch sein weltliches Regiment. Das weltliche Regiment besteht aus denjenigen Anordnungen und Stiftungen Gottes, durch die Gott allen Menschen, Heiden und Christen, Guten und Bösen, Gläubigen und Ungläubigen das leibliche Leben jetzt und hier schafft. — 10. Diese Anordnungen und Stiftungen Gottes gründen in der Schöpfung des Menschen im Anfang aller Dinge, begegnen uns aber jetzt nur in der Form, wie sie nach Gottes Willen für unsere Welt gestaltet sind, die infolge des Sündenfalles unter den Auswirkungen der Sündenmacht steht. — 11. Diese Anordnungen und Stiftungen Gottes, durch die Gott das weltliche Regiment ausübt, sind: a) die Ehe, die Familie, das Haus; b) die Arbeit, der weltliche Beruf, die Wirtschaft (und die Technik); c) die Obrigkeit, der Staat, das zwingende Recht, die Schwertgewalt; d) Wissenschaft und Kunst. — 12. Diese institutionellen Gemeinschaftsformen des Miteinanderseins der Menschen in der Welt werden in ihrem Wesen erst dann recht erkannt, wenn sie nicht als Produkte des kulturschaffenden Menschengeistes, sondern als durch Gottes allmächtiges Wort gesetzte Stiftungen Gottes verstanden werden.”

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verselbständigenden Nebeneinander von Rechtfertigung und Recht sei; eines Nebeneinander, in dem vor lauter Christlichkeit auf der einen Seite die Welt mit ihrem Fragen nach Recht und Unrecht sich selbst überlassen bleibt. Das Leben in zwei Bereichen, das daraus resultiert, bedeutet den Verrat an jedem von beiden und die Leugnung dessen, daß der Mensch als ganzer von Gott in Christus beansprucht und in Dienst genommen ist, gewiß in der im irdischen Dasein unaufhebbaren Spannung des simul iustus — simul peccator, aber eben in der die Herrschaft Gottes über diese Welt signalisierenden Einheit dieser Spannung.

Mit all dem soll darauf hingewiesen werden, daß und wo die Problemstellung „Rechtfertigung und Recht” ihren theologiegeschichtlichen Ort hat, nämlich in den Versuchen, den biblisch-reformatorischen Lehransatz in einer freien Neubegegnung mit ihm nun auch lebensmäßig (nicht nur als „Lehre”) wieder theologisch ernstzunehmen vor der ganz schlichten Frage, mit welchem Recht wir uns, sofern wir es tun, eben Christen nennen. Diese Neubegegnung muß jene Umbiegungen, wie sie durch die Weiterführung der Traditionslinie im Protestantismus seit der Orthodoxie und ihrer Scholastik erfolgten, kritisch prüfen. Neubegegnung und Revision des unmittelbar Überkommenen greifen notwendig ineinander.

Die Antwort, die Karl Barth in seinen „politischen” Schriften, von der Schrift „Rechtfertigung und Recht” bis hin zu dem Vortrag „Christengemeinde und Bürgergemeinde” (1946) zu geben versucht, kann und braucht hier nicht im einzelnen und in ihren theologischen und exegetischen Begründungen wiedergegeben zu werden. Es ist klar, daß sie polemisch eine christliche Naturrechtsideologie ablehnen muß und daß sie thetisch die positive Bedeutung der christlichen Existenz in ihren spezifischen Lebensformen, also die positive Bedeutung der Gemeinde als Produkt der geistgewirkten Bruderschaft, als des mit Autorität ausgestatteten lebendigen Leibes Christi, für das Zusammenleben der Menschen als Menschen in dieser Welt, für den Bestand des Staates als Staat in ihr, für die Geltung des Rechts als Recht auf ihr behaupten muß 13). Wie diese positive Bedeutung zu verstehen ist und wie sie im besonderen von K. Barth gemeint ist, das ist allerdings mannigfachen Mißverständnissen ausgesetzt 14).


13) Für die theologische Begründung sei im besonderen verwiesen auf die Lehre von der Schöpfung und auf die Anthropologie in Bd. III, 1 u. 2 der Kirchlichen Dogmatik K. Barths (1947. 1948).
14) Als Beispiel A. Arndt, a.a.O., S. 438: K. Barth sei in „Bürgergemeinde und Christengemeinde” „in den gerade von seinem Ansatzpunkt her unverständlichen Irrtum zurückgefallen, daß der Nichtchrist ,rechtsblind’ sei, und daß es Aufgabe der Christenheit sei, gleichsam als weltliche Spiegelung des Gottesreiches exemplarisch zu existieren. Damit kehrt nicht nur die Lehre von der analogia entis wieder, sondern zugleich die gemeinschaftsauflösende Hybris, daß es Aufgabe des Christen sei, nicht allein rechtlich ein Vorbild, sondern Vorbild des Rechts zu werden, was den Anspruch in sich schließt, daß sich die Nichtchristen den Christen zu fügen hätten, und den Ausspruch, daß allen Heiden und Vorchristen ein rechtliches Sein überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Es muß angenommen werden, daß Barth diese Folgerungen weder gemeint noch gewollt hat . . .”

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Dieses Wie hat eine ontologisch zu erfassende Seite: die weltliche Wirksamkeit des Daseins gründet in der schöpferischen Wirklichkeit Gottes; sofern aber diese sich wirkend in der Wirklichkeit Christi manifestiert („in ihm und durch ihn und zu ihm alle Dinge”), kommt hier der schon von den altkirchlichen Apologeten vertretene Satz in Sicht, daß die Welt allein um der Christen willen, und das heißt jetzt freilich jenseits aller moralischen Argumentation: um Christi willen, um der mit ihm eingetretenen Endvollendung willen „Bestand” habe. Die Welt „lebt” sozusagen von ihrem Ende her, weil sie auf das Gericht Gottes hin aufbewahrt wird.

Wenn jene positive Bedeutung, sagen wir der Christengemeinde für die Bürgergemeinde, zweitens neben jenem ontologisch zu erfassenden Grund als „exemplarisch” bezeichnet wird, dann heißt das auf jenem zugleich eschatologisch zu begreifenden Hintergrund nicht, daß die Christengemeinde das kopierbare und zu kopierende „Modell” der Bürgergemeinde sei, ihre Bruderschaft etwa das „Modell” echter Demokratie. Wenn die Christengemeinde der Bürgergemeinde ihr rechtes Dasein „vor”-lebt, dann tut sie es nicht als Schulmeister, sondern als die immer wieder getrübte, verdunkelte Demonstration dessen, daß in ihr dank ihrem in Christus gelegten Grund je das Wirklichkeit ist, was die Welt als ihr Sollen von sich aus nicht zu verwirklichen vermag. Eben darum schließt aber dieses exemplarische „Vor”-leben, als Wirkung des der Christengemeinde von ihrem Herrn vorgegebenen wahren Lebens drittens die Verpflichtung in sich, auch für die Welt zu leben. Es muß ihr daran gelegen sein, daß der Staat ihr die Freiheit ihrer irdischen Existenz gebe, um in sachgemäßer Weise eben Staat zu sein, weil auch er nur lebt von der Verkündigung der göttlichen Rechtfertigung durch die Kirche. Es kommt darauf an, „daß die Christen den irdischen Staat nicht nur erdulden, sondern wollen müssen, und daß sie ihn . . . nur als Rechtsstaat wollen können: daß es also ein äußeres Entfliehen aus jenem anderen, dem politischen Bereich, nicht gibt, daß sie, indem sie ganz in der Kirche, ganz auf die zukünftige Polis ausgerichtet sind, ebenso ganz in Schuld und Verantwortung auch der irdischen Polis verfallen und verpflichtet, eben so ganz zum Arbeiten und (es sei denn!) zum Kampf wie zum Gebet für sie aufgerufen sind, daß für den Charakter des Staates als Rechtsstaat ein jeder von ihnen mit haftbar ist” 15). Das ist das wahre „Untertan-Sein”, „Sich-Unterziehen” des Christen gegenüber der Obrigkeit (Röm. 13): jenes zugleich kritische und verantwortliche sich Einordnen in ihren ihr von Gott erteilten oder belassenen Auftrag.

„Wir wissen, der irdische Staat ist weder berufen noch fähig, das ewige Recht des himmlischen Jerusalem auf Erden aufzurichten, weil dazu überhaupt keine Menschenhand berufen und befähigt ist. Er ist aber berufen und fähig, menschliches Recht aufzurichten. Und was menschliches Recht ist, das mißt sich nicht an irgendeinem romantischen oder liberalen Naturrecht, sondern schlicht an dem konkreten Freiheitsrecht, das die Kirche für ihr Wort, sofern es das


15) Rechtfertigung und Recht, S. 44.

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Wort Gottes ist, in Anspruch nehmen muß. Dieses Freiheitsrecht bedeutet die Begründung, die Erhaltung, die Wiederherstellung alles — wirklich alles Menschenrechtes! . . . Wo dieses Freiheitsrecht anerkannt ist und wo von der rechten Kirche der rechte Gebrauch davon gemacht wird, da gibt es — die freie Predigt von der Rechtfertigung wird dafür sorgen, daß die Dinge an ihren Ort zu stehen kommen — in gegenseitiger Bestimmung und Begrenzung legitime menschliche Autorität und ebenso legitime menschliche Selbstbestimmung, . . . da steigt auf die Ordnung der menschlichen Dinge, die Gerechtigkeit, die Weisheit und der Friede, die Billigkeit und die Fürsorge, die zu dieser Ordnung vonnöten sind. Nicht als der Himmel auf Erden!” — kein naturrechtlicher Idealzustand also! — „Nur so, wie sie auf Erden und in dieser Zeit aufsteigen können, aber so, wie sie tatsächlich schon auf Erden und in dieser Zeit in einer Welt der Sünde und der Sünder aufsteigen können.” Die Definition des menschlichen Rechts „als Zusammenfassung der Funktionen des rechten Staates”, das ut suum cuique salvum sit et incolume, „beruht . . . auf der Rechtfertigung des sündigen Menschen in Jesus Christus” — als der radikalen Befreiung des Menschen von seiner unheilbaren, alles rechte Verhältnis zu Gott und dem Mitmenschen verkehrenden Ichbezogenheit — „und also auf der Ausrichtung der zentralen Botschaft der christlichen Kirche” an alle Dimensionen der weltlichen Vorläufigkeit 16).

Eine breite, z.T. anders begründete und auch etwas anders angelegte Ausführung des bisher angedeuteten Antwortversuchs auf die Frage „Rechtfertigung und Recht” im Blick auf das Problem der Rechtsbegründung bietet der reformierte Jurist J. Ellul mit seiner Studie über „die theologische Begründung des Rechts” 17). — Auch er lehnt eine christliche Naturrechtslehre wie überhaupt die Meinung von der Existenz eines sog. „christlichen Rechts” ab. Ebenso die in den ökumenischen Verhandlungen der sozialethischen Wirksamkeit der Kirchen wiederholt begegnende These 18), daß eine Naturrechtslehre als gemeinsame Basis für ein Zusammenwirken von Christen und Nichtchristen „unvermeidlich” sei. Auch ihm geht es darum, das Naturrecht nicht „als Lehre, als Interpretation von Rechtstatsachen oder als Rechtsphilosophie”, sondern als unbestreitbare Tatsache der Rechtsgeschichte, als eine bestimmte Form — nicht „Auffassung”! — des Rechts mit dem biblischen Offenbarungszeugnis zu konfrontieren: „weil alles Bestehende, und also auch das Recht sich innerhalb der Herrschaft Jesu Christi befindet, und weil andererseits diese Herrschaft kraft ihres konkreten Charakters nicht bloß eine Theorie ist, sondern in bestimmten Tatsachen ihren Ausdruck findet, die man nicht unter dem Vorwand beiseitelassen darf, sie seien nicht orthodox” (S. 12). Zu diesen Tatsachen gehört auch das Recht; es kann keinen christlichen Gehalt besitzen, denn es ist


16) Rechtfertigung und Recht, S. 46f.
17) 1948, durch O. Weber besorgte deutsche Übersetzung von Jacques Ellul, Le Fondement théologique du Droit, Neuchâtel und Paris, Delachaux et Niestlé, 1945.
18) W. Horton, Natural Law and International Order. 1945.

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„tatsächlich für alle da, für Gläubige und Ungläubige”. Es ist etwas Weltliches, gehört in den weltlichen Bereich, „aber damit in einen Bereich, in dem Jesus Christus König ist” (S. 11). Was diese These für die Frage nach Wesen und Wirklichkeit des tatsächlichen Rechts bedeutet, das eben soll der Entwurf einer theologischen Begründung des Rechts ermitteln.

Es geht Ellul um eine „theozentrische” Interpretation des Rechts, und die Frage, „was die menschlichen Institutionen, die menschliche Gerechtigkeit usw. im Blick auf Gott zu bedeuten haben”, denn „die wirklichen Beziehungen zwischen Gott und den Institutionen der Welt müssen die möglichen Beziehungen zwischen diesen und dem Menschen bestimmen” (S. 11). Dabei ist mit „Gott” der trinitarische Gott des christlichen Bekenntnis gemeint, der nicht, wie bei den christlichen Naturrechtstheorien, „deistisch” auf den „Schöpfer” am Uranfang reduziert werden darf als auf die notwendige Voraussetzung der Theorie. Man nimmt nämlich bei dieser, „um die Einheit zwischen Christen und Nichtchristen aufzurichten, seinen Standort bei der Vorstellung einer durch die Schöpfung begründeten ursprünglichen Identität. Daß inzwischen Gottes neue Tat geschehen ist und alle Bezogenheiten umstößt — nämlich die Inkarnation —, das wird durchaus außer Betracht gelassen!” (S. 10).

Die Verwandtschaft der Fragestellung Elluls zu derjenigen von Karl Barth ist bereits spürbar. Man kann diese Fragestellung von vornherein ablehnen und sich empirisch, pragmatisch, historisch, philosophisch mit der Problematik der Rechtstatsache beschäftigen. Man muß dann zusehen, wie weit man kommt und das dabei herauskommt. Man kann auch „als Christ” an diese Problematik herantreten. Dann aber wird man sofort zu fragen haben, wie man das legitimerweise tun könne und dürfe: ob der Weg einer so oder so gestalteten „christlichen” Naturrechtslehre der erlaubte und gewiesene sei — oder ob gerade dieser Weg verboten sei, etwa als eine sich eben nur als „christlich” ausgebende Modifikation jener anderen rechtstheoretischen Unternehmungen, die zu bestimmten Zeiten — z.B. in der stoischen Philosophie, bei den späteren römischen Juristen, in der Scholastik, in der Aufklärungszeit — je ihr „Naturrecht” entwarfen. Es ist das gemeinsame Anliegen von Barth und Ellul (und manchen anderen), ihrer durch das Problem „Rechtfertigung und Recht” oder durch die Absicht einer „theozentrischen” (und d.h. christozentrischen) Interpretation geleiteten Beschäftigung mit der Rechtstatsache und der Frage nach der Rechtsbegründung, die mannigfachen Versuche einer christlichen Naturrechtslehre aus dem Bereich legitimer christlicher Existenz und theologischer Arbeit hinauszuweisen. Zu jenen Versuchen wird ein deutliches und begründetes „Nein” gesagt.

Die Stellungnahme zu diesem „Nein” schiebe ich vorerst auf; zunächst sollen — der diesem Einleitungsreferat gestellten Aufgabe gemäß — die Thesen von Ellul in Kürze angedeutet werden. Dabei kann auch abgesehen werden von einer Reproduktion seiner Kritik jeglicher Naturrechtsideologie und sonstiger ideologischer Rechtsbegründung, wie er auch in seiner Auseinandersetzung mit

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den Nürnberger Prozessen an einem konkreten Fall die juristische Unhaltbarkeit solcher Konstruktionen (etwa aus dem Ideal der „Humanität”) aufgezeigt hat 19). Das „natürliche Recht” als Phänomen, als geschichtliches Produkt „einer vom Menschen verarbeiteten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lage” ist für ihn lediglich „das Recht, welches dem Menschen die eigentliche Frage nach dem Recht stellt” (S. 54), und ein Beweis für das Bestehen bestimmter Relationen zwischen dem Recht der menschlichen Gesellschaften und der Gerechtigkeit Gottes. Diese Relationen können aber nicht in einer Theorie von einem absoluten (oder relativen) Naturrecht erfaßt werden, denn, und das ist Elluls Grundthese: die Gerechtigkeit Gottes ist allein in Jesus Christus erfüllt; deshalb ist Jesus Christus Grund und Herr auch des irdischen Rechts. Es steht zwischen dem Bund, den Gott mit dem Menschen schließt, in dem er, Gott, seine Gerechtigkeit kundtut, und der Mensch wie ein zum Tode Verurteilter den Spruch der Gnade empfängt — und dem Endgericht, in dem der Unterschied zwischen zedakah und mischpath, göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, aufgehoben wird. Anfang und Ende sind aber nach dem Zeugnis der Bibel beschlossen in Jesus Christus, in dem die Begegnung Gottes mit der Welt der Menschen Geschichte wird. Das heißt dann im einzelnen: es gibt, was der biblische Sprachgebrauch von zedakah (für die Gerechtigkeit Gottes) und mischpath (für die Gerechtigkeit des menschlichen Richters) in der Beziehung dieser Begriffe aufeinander und in ihrer gelegentlichen Auswechselung lehrt 20), nur eine einzige Gerechtigkeit, die die Gnade einschließende Gerechtigkeit Gottes, vor der alle „Gerechtigkeit” des Menschen Unrecht ist, und die im Vollzug von Gottes Weltregiment auf sein Endgericht hinweist. Die Widersprüche, die zunächst in diesen Verhältnissen von zedakah und mischpath auftauchen, bringt die Person Jesu Christi zur Synthese. „Er hat die Sünden des Volkes getragen und damit der auf Genugtuung gerichteten Forderung der Gerechtigkeit Gottes Genüge getan — zu gleicher Zeit hat er aber Gottes Gnade offenbart! Er hat — zum Beispiel in seinem Prozeß vor Pilatus — die Gerechtigkeit der Menschen in ihrer radikalen Ungerechtigkeit enthüllt, aber er hat sie gleichzeitig legitimiert, indem er sich ihr unterwarf!” (S. 31). In Christus ist so die ewige Gerechtigkeit Gottes zur zeitlichen geworden; er ist „um seiner Fleischwerdung willen der Ort . . ., wo Gottes Gerechtigkeit mit der Gerechtigkeit des Menschen zusammentrifft” (S. 32). Zugleich offenbart er Gottes Gerechtigkeit als „stellvertretende Gerechtigkeit”. Diese Erkenntnis besagt: „daß in Jesus Christus, weil er das Urteil in seiner Hand hat, die Gerechtigkeit Gottes stellvertretend für die menschliche eintritt und damit selber in einem gewissen Maße menschliche Gerechtigkeit wird, in dem Maße nämlich, wie der Mensch vor Gott mit der Gerechtigkeit Christi umkleidet ist” (S. 33). Gottes Gerechtigkeit aber ist so allein im Akt des


19) Note sur le Procès de Nuremberg = Verbum Caro I/3, 1947, 97ff.
20) Dazu S. de Diétrich, Le Fondement biblique du Droit = Le Semeur. 1945, S. 40ff.

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Urteils zu finden, das von Gott aus ergeht — am Kreuz! —, „um wiederherzustellen, was verdorben worden ist” (S. 35). Das gilt auch für das Rechtsleben. „Wie wir in Jesus Christus die Wiedereinsetzung des Menschen in seine wahrhafte Geschöpf-Situation haben, so wirkt sich das Urteil Gottes auf dem Gebiet des Rechts dahin aus, den Menschen wieder in seine Rechte einzusetzen, in seinen wahrhaft menschlichen — und also geschöpflichen — Zustand” (S. 35). Darauf zielen auch alle biblischen Aussagen, in denen Gott als der Wahrer des Rechts eines Menschen angerufen wird. Gott richtet nämlich „nach dem Recht des Menschen”, den er durch seinen als Akt freier Gnade geschlossenen Bund zu seinem rechtsfähigen „Partner” erwählt (wohlgemerkt: „erwählt”, d.h. schöpferisch setzt!). „Die Wiedereinsetzung des Menschen in seinen echten Geschöpfzustand, die Gott im Akt des Bundes vollzieht, hat zwei Seiten: Gott erhält dem Menschen das Leben und richtet seine Herrschaft über ihn auf” (S. 39). D.h.: „damit Gottes Bund wirklich Bund sei, gewährt Gott dem Menschen Rechte und versetzt ihn in einen rechtsfähigen Zustand” (S. 41).

Wirklichkeit hat dies alles nur durch die Erfüllung des Bundes in Christus zum „Neuen Bund”, der zugleich der letzte Bund ist. Der Bund Gottes „setzt die Menschenrechte schlechthin”, und im neuen Bund ist Christus „der einzige Mensch, den Gott gelten läßt; durch ihn hindurch sieht Gott die ganze Menschheit: das ist das Wunder der Stellvertretung, und in diesem bekräftigt Christus die Menschenrechte” (S. 42). Christus nimmt es auf sich, sich auch „dem (ungerechten) Richterspruch dessen zu fügen, der das Recht vertritt! Und aus diesem Recht macht er ein Werkzeug der — Rechtfertigung des Menschen! Indem er sich unterwirft, begründet er dieses Recht und gibt ihm eine Bedeutung, die es von sich aus nie haben könnte” (S. 43, in gewissem Anschluß an K. Barth behauptet). Der Bund als „Gottes-Gerechtigkeit-in-Bewegung” macht deutlich, daß das Recht ein „Akt Gottes” ist. Er „schlägt gleichsam die Brücke zwischen Gottes Gerechtigkeit und der Erde, er ist eines der Bande” — das andere ist die Parusie und das Endgericht — „. . . die zwischen göttlichem und menschlichem Recht bestehen. Er ist aber zugleich der Ort, an dem der eigentliche Kern des menschlichen Rechts konkret und einsichtig wird” (S. 43). Und zugleich läßt er hervortreten, daß das Recht Gnade ist. Aus all dem folgt gerade auch gegenüber jeglichem Naturrecht — „die Lehre vom Naturrecht ist danach in keinem Punkte christliche Lehre” — erstens: „Der Mensch besitzt keinerlei natürliche Erkenntnis der Gerechtigkeit; denn diese ist ausschließlich Gleichgestaltung mit dem Willen Gottes, und dieser Wille wird durch die Erlösung in Jesus Christus erfüllt.” — Zweitens: „Der Mensch erkennt die Gerechtigkeit nur durch die Offenbarung, die Gott ihm durch den Bund gewährt. Dieser ist die Begründung des Rechtes, aber nicht ein angeblich ideales oder übergeordnetes Recht.” Drittens: „Das Recht kann also nicht nur im Zusammenhang mit Gottes schöpferischem Handeln im Anfang gesehen, sondern es muß zu dem fortdauernden Handeln Gottes in Beziehung gesetzt werden, das vom Anfang bis zum Ende der Welt währt. Während das

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Naturrecht nur auf die Schöpfung zurückgreift, ist das göttliche Recht gleichermaßen in der Lehre von der Schöpfung und von der Eschatologie verankert.” Viertens: „Das Recht ist in seinem ganzen Umfang christozentrisch.” Fünftens: „Basis des objektiven Rechtes ist das subjektive Recht, das Gott dem Menschen zuerkannt hat. Die Naturrechtslehren teilen sich demgegenüber in zwei Strömungen: für die einen geht die Existenz des Naturrechts objektiv jedem Handeln und Wollen des Menschen voraus, für die anderen ist das Individuum vermöge seiner menschlichen Natur Inhaber der Rechten.” Und sechstens: „Das Naturrecht kann keinesfalls ein Treffpunkt von Christen und Nichtchristen sein” (S. 52).

Ellul macht so Ernst mit dem Gedanken der neuen Schöpfung, der ja als solcher alle christlichen Naturrechtstheorien im Sinne ursprünglicher Schöpfungsforderungen grundsätzlich in Frage stellen muß. Der Bundesschluß Gottes mit dem Menschen, in Christus bekräftigt und erfüllt, dieser Bundesschluß, der das Wesen der neuen Schöpfung ausmacht, gilt allen Menschen, für die Christus kraft seines stellvertretenden Eintretens die „Menschenrechte” behauptet. „Der Mensch kann hinfort nicht mehr sagen, er sei ohne Recht; denn er kann sich auf Jesus Christus berufen. Das kann jeder Mensch tun; denn Christus ist für jeden Menschen gestorben. Es ist also nicht so, daß es hier Rechte für die Christen gäbe und ein rechtliches Nichts für die anderen: vielmehr sind alle in Christus Brüder, und in ihm empfangen alle Menschen Rechte. Das erste von ihnen ist ein Recht vor Gott: daß sie sich eben auf Christus berufen können! Um seinetwillen ist die Person des Menschen weder dem Zufall der geschichtlichen Ereignisse, noch dem Zufall des Rechtsdespotismus ausgeliefert. Um seinetwillen gibt es nun Rechte des Menschen, hinter welche weder Gott zurückkann, der sie auf ewig begründet hat, noch die Menschen, die die Tatsache des Sterbens und Auferstehens Christi nicht mehr aus der Geschichte tilgen können. Diese Tatsache aber begründet kraft des Bundes die Menschenrechte” (S. 42). Weil in solcher Universalität Jesus Christus zur Gerechtigkeit Gottes gemacht ist, gibt es „außerhalb Jesu Christi schlechthin keinerlei Gerechtigkeit, auch keine relative” (S. 31). Und als die stellvertretende Gerechtigkeit Gottes bedeutet und bewirkt die Person Jesu Christi für das menschliche Recht ein Dreifaches:
„Die Grundlage des menschlichen Rechtes liegt in ihm,
die Verwirklichung des menschlichen Rechtes ist von ihm vollbracht,
die Qualifikation des menschlichen Rechtes ist durch ihn bewirkt” (S. 33).

Die im Recht des Menschen vorfindlichen Elemente, die laut dem Schriftzeugnis zugleich durch die Offenbarung als die einzigen und wesentlichen bezeichnet werden, sind: 1. Institutionen, die von Gott — in Christus! — geschaffen sind, d.h. „von Gott gewollte Lebensformen” (S. 58), die dazu da sind, „daß das Heilswerk sich vollziehen kann”, und die infolgedessen nicht dem Verfügen des Menschen ausgeliefert sind; 2. Menschenrechte, die als „Setzungen” Gottes vermöge seines Bundes zu verstehen sind, und nicht als Ausdruck einer vorfindlichen „natürlichen” Struktur der Gesellschaft — die

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Freiheit des Menschen ist immer ein Geschenk aus der Freiheit Gottes; ihr Inhalt ist (im Unterschied zu den Institutionen) „kontingent und wandelbar” (S. 60), sofern in ihnen die gesellschaftliche Verantwortung des Menschen zum Ausdruck kommt; und 3. Gerechtigkeit. Das sind die drei Elemente menschlichen Rechts. Die Gerechtigkeit aber ist und bleibt dem Menschen weder erkennbar noch verfügbar. Dennoch soll er — auch im Bereich des Rechts homo faber — in Richtung auf Gerechtigkeit handeln, das Recht halten und Gerechtigkeit üben (Jes. 56, 1), d.h. eine vorläufige, eine höchst relative, praktisch durchführbare Ordnung seines Daseins als Mensch in Gemeinschaft wahrnehmen, die über sich hinweg auf ihr Urteil am Ende der Zeit blickt. Dann, in der eschatologischen Erfüllung, wenn Gott „nach dem Recht des Menschen” richtet (Mt. 7, 2; Lk. 19, 22; Röm. 2, 12-16), kommt alles unrechte Recht an sein Ende, geht alle echte Gerechtigkeit ein in die Gerechtigkeit Gottes. So ist das Recht „als zwischen Bund und Endgericht eingeschlossen zu verstehen; es ist eine Zwischengröße, die von Gottes Gerechtigkeit durch Bund und Urteil überdeckt wird” (S. 70). Der Mensch „tut sein Werk, und dies kann nach Gottes Willen gerecht sein, es kann aber ebensogut ungerecht sein” (s. 67), Gott aber nimmt das ganze Recht mit seinen Irrungen und Ungerechtigkeiten auf. Und „weil dieses Recht Gottes Gerechtigkeit und Gottes Bund zum Ausdruck bringen soll, darum ist es, wenn es ein ,Nicht-Recht’, wenn es Sünde geworden ist, nun der Maßstab für die Sünde . . . Dies Recht nun, das Gott ebenfalls auf sich nimmt und nach dem er richtet, wird von ihm nicht (für die neue Schöpfung) beibehalten. Andererseits: soweit nun aber das Recht mit dem Bund im Zusammenhang steht und ihm entstammt, wird es, wie andere Werke des Menschen, von Gott im Himmlischen Jerusalem beibehalten” (S. 71). Das Recht hat Geltung nicht kraft seines — etwa schöpfungsordnungsmäßigen — Ursprungs, auch nicht auf Grund seines Zusammenhangs mit dem Bunde, sondern „weil Gott es schließlich in seinen Dienst nimmt” (S. 72). — „Im Kommen des neuen Aeon finden wir wesentlich die gleichen Grundtatsachen wieder wie im Bunde: Urteil, Gnade, Wiederaufrichtung der Herrschaft Gottes in Jesus Christus”, aber ein Urteil, das nicht mehr abgewiesen werden kann, eine Gnade, die alles ans Licht bringt, eine Herrschaft, die sich durchsetzt, kurz: die endgültige Erfüllung aller Bundesschlüsse. Die Vollendung bestimmt so den Ursprung des Rechts, dessen Funktion „in der menschlichen, bruchstückweisen, kontingenten Verwirklichung eines Bundes besteht, der erst am Ende der Zeiten seine Erfüllung findet” (S. 73f.). „So ist also das Recht ausschließlich in Jesus Christus begründet 21) und in seinem Wert und Wirkungsumkreis schlechthin begrenzt” (S. 74).


21) Das geht noch wesentlich hinaus über die Feststellung, die Erik Wolf, Rechtsgedanke und biblische Weisung, S. 36f. trifft: „Vom Sühnetod Jesu her bekommen wir erst den rechten Begriff für die Heiligkeit und Majestät des richtenden göttlichen Rechts . . . Von hier aus, von dem göttlichen Ursprung der Gerechtigkeit her, empfängt auch die Bedeutung des Rechts in der Welt ihr strenges Maß und Gewicht; darin hat sie ihren eigentlich verpflichtenden Sinn.” Viel näher zur Position Elluls ➝

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Gegenüber dem Vorfindlichen an Recht hat der Christ im Wissen sowohl darum, daß es von Gott zum Dienst bestimmt ist, wie auch darum, daß es aber auch als Gegenteil von Recht dem Verdammungsurteil unterstellt sein kann, die „spezifische Aufgabe, . . . die gültigen Forderungen des natürlichen Menschen hinsichtlicher seiner Rechte anzuerkennen und ihnen ins Recht Eingang zu verschaffen, ohne daß dies unter dem Druck des Zwanges oder der Vergeltungsforderung geschieht” (S. 74), d.h. „das menschliche Recht muß derart gefaßt sein, daß der Mensch, der in ihm existiert, alle notwendigen Rechte genießt, die ihn in den Stand setzen, das Bundeswort zu vernehmen, das Gott an ihn richtet, und darauf zu antworten” (S. 76). Das schließt die Verpflichtung zur Erhaltung des Lebens ein, mithin „daß die vom Recht geschaffenen Daseinsbedingungen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Art so beschaffen sein müssen, das der Mensch nicht von vornherein in den Tod getrieben wird” (S. 76). Alles Recht auf Erden dient als „Element der Geduld Gottes gegenüber der Welt” (S. 67) der Erhaltung dieser Welt auf das Endgericht; darum ist es „weltlich”, seiner Substanz nach nicht religiös, seinem Vollzug nach nicht Anwendung ewiger Prinzipien, sondern offene, wandelbare, entwicklungsfähige, situationsbedingte konkrete Entscheidung. Die Ordnung, die dieses Recht „formuliert”, ist daher weder in der Natur noch in der Vernunft zu suchen und infolgedessen ohne allgemeine und dauernde Gültigkeit. Auch Begriff und rechtliche Form des Eigentums z.B. können sich wandeln.

„Wie der Mensch um des Bundes willen seine Rechte empfangen hat, so wird die Welt um des Gerichtes willen erhalten!” (S. 77) 22). Und sofern das Wort das Gericht vollzieht, „das Gericht durch die Verkündigung des Wortes mitten in dieser Welt erfahren” wird, „wird also die Welt in Wirklichkeit dazu erhalten, daß das Wort in ihr ausgerichtet, das Heil in Christus ihr verkündigt werde” (S. 77). Institutionen und Menschenrechte erweisen sich also zwischen Bund und Parusie so als die „Zeichen der von Gott gewährten Permanenz” (S. 81), als solche immer wieder gegenüber aller Bedrohung und Gefährdung dieses ihres Charakters durch Urteilsakte zu sichern, die der Herausarbeitung von Recht im Hinblick auf die christozentrisch bestimmte Wirklichkeit der Erhaltungsordnung Gottes dienen. „So wird nun dem Menschen, wenn er vom Recht Gebrauch macht, unaufhörlich seine eigene Verantwortlichkeit in Erinnerung gerufen, und eben dies ist die


➝ steht allerdings E. Wolfs Memorandum von 1950, das hier das „Königtum” Christi in der „Welt” grundlegend geltend macht.
22) Vgl. Erik Wolf a.a.O., S. 64: „Christliche Existenz haben, heißt also nicht nur, aus der Welt hinausstehen, sondern von diesem ,Transzendieren’ her in die Welt hineinwirken. Christliches Rechtsverständnis weiß sich deshalb nicht nur in einer Welt, die bis zum Jüngsten Tage im Unrecht bleibt; es weiß auch, daß dieses Im-Unrecht-bleiben vor Gott eine tägliche Mahnung für die Kirche Christi sein muß, zu beten und zu arbeiten, damit wenigstens so viel Recht geschehe und so viel Ordnung walte, wie es innerhalb der gefallenen Schöpfung dem Menschen möglich ist.”

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Bestimmung des Rechtes. Verantwortlich ist der Mensch, in diesem Akt, weil er eine Macht wirksam werden läßt, die Gottes Bereich ist — die Gerechtigkeit —, weil er eine Funktion einnimmt, die Gott gehört — die des Richters —, und weil er einen Akt vollzieht, der Gott zusteht — das Urteil” (S. 86). Jedes gerechte Urteil ist so ein Zeichen dafür, „daß die absolute Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit Gottes, in die Welt eingreift”, ist „eine Verheißung des Sieges Jesu Christi” (S. 86). Zugleich auch „eine Verheißung vom Kommen und von der Gegenwärtigkeit des absoluten Urteils Gottes” (S. 87) in seiner Objektivität, daß nämlich „Gott im Urteil über den Menschen weder das Wohl noch das Wehe dieses Menschen im Auge hat, sondern sein Recht”, und d.h. zuletzt: Jesus Christus. „Die Objektivität der Gerechtigkeit Gottes besteht darin, daß er Jesus Christus anschaut in jenem Gericht, und nicht den Menschen. Und jedesmal, wenn ein Richter auf das Recht des Menschen Bedacht nimmt und also objektiv richtet, verkündigt er jene gute Botschaft von der Objektivität des Urteils Gottes” (S. 87). Und der Schutz des Armen durch das Recht verweist auf die vom Recht unabtrennbare Barmherzigkeit Gottes. „Ein Schutz für den Schwachen und eine Rettung für den Elenden muß integrierender Bestandteil des Rechtes sein; ohne dies hat das Recht keinen Sinn. Und auch das ist Verkündigung des Heils in Jesus Christus, der die wahre Gerechtigkeit ist” (S. 88).

Der Staat ist nach biblischer Lehre „dem Recht untergeordnet”; er ist „für das Recht geschaffen”, gibt dem Recht „Ausdruck”, wenn auch nicht ausschließlich und notwendigerweise. Unerläßlich hingegen ist, daß er das Recht sanktioniert und daß er Hüter des Rechts ist, als solcher und dadurch für die Erhaltung der Nation verantwortlich. — Die Kirche als Rechtssubjekt mit dem einen grundlegenden Recht, der Freiheit zur Verkündigung des Wortes Gottes, ist berufen, die von Christus in uns gewirkte Gerechtigkeit „gleichzeitig anzukündigen und als bestehend zu bekunden” (S. 99). Sie ist „Zeugin der Gerechtigkeit Gottes dem Staat gegenüber”, denn „sie und sie allein weiß, worin die wahre Wert des menschlichen Rechtes besteht, was seine Grundlage und was sein Ziel ist, und in welchem Zusammenhang es mit der Gerechtigkeit Gottes steht” (S. 100). Sie darf das freilich „nicht wie ein Gesetz, wie eine freibestehende Ethik lehren, sondern streng als Predigt des Evangeliums, weil nämlich Christus König ist”. Dieses Gegenüber der Kirche, die die Offenbarung verkündigt, zum Staat erweist nicht nur, daß der Staat nicht beanspruchen kann, Schöpfer des Rechts zu sein, sondern daß das Recht unabhängig ist „vom Staat, von der Kirche und letztlich vom Menschen überhaupt” (S. 102). Um des Rechtes als Recht willen kann die Kirche nicht dem Menschen allein die Sorge überlassen, „seine Rechte zu erkennen, und die Aufgabe, für ihre Anerkennung einzutreten”, muß sie das Rechtsgefüge der Gesellschaft beurteilen, die Grenzen des Rechts geltend machen, erforderlichenfalls das Recht berichtigen. Sie tut das wesentlich als Unterweisung gegenüber den Christen. „Jeder Christ muß dahin kommen, daß er versteht, warum er Gehorsam leisten und warum er Gehorsam verweigern muß. Er muß wissen,

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wann er fordern muß und wann er verzichten muß; er muß wissen, welche Rechte geltend gemacht werden müssen und welche nicht. Und wenn die Kirche es auf sich nimmt, gläubig zu sein, so nimmt Gott sie in seinen Dienst an der Welt” (S 102). — Denn „einzig wenn Christen wirklich ihre Aufgabe und ihre Verantwortlichkeit in der Gesellschaft und gegenüber dem Recht kennen, und wenn ihnen die Macht zum Bewußtsein gekommen ist, die ihnen vom Heiligen Geist übertragen ist, wird auch die Kirche selber reden und handeln können, wie es ihr befohlen ist” — ganz konkret! Sie wird dann sagen „das ist das Menschenrecht, hic et nunc, das kann er fordern, hierin muß er geschützt werden . . . Sie vertritt also die Forderung des Menschen” (S. 101). Sie ist so mit der Welt unzertrennlich verbunden, „weil Christus gekommen ist”. Darum aber, „weil Christus gekommen ist”, ist auch das Recht zu üben, „weil Jesus Christus alles erfüllt hat, so ist der Mensch berufen, in der Gerechtigkeit zu leben” (S. 104). Zwischen Bund und Parusie steht der Mensch im Schatten der göttlichen Geduld und vor dem Licht der letzten Zeiten; daher ist „die Herausarbeitung des Rechtes eine solche drängende Aufgabe . . . Um der Gerechtigkeit Gottes willen, die da kommt, sollen wir unser Recht aufbauen, das da ist!” (S. 104).

 

Man mag zu diesem Entwurf Elluls im einzelnen nicht unerhebliche Fragezeichen setzen, man mag zu ihm als ganzem stehen, wie man wolle, eines wird an ihm unbestreitbar deutlich: es erfolgt hier vor dem Problem der Rechtsbegründung, vor der Frage nach dem wesenhaften Sein von Recht, vor der Frage nach seiner „transzendenten” Verantwortung ein energischer Durchbruch in ein Jenseits von Naturrechtslehre und Positivismus. Und es ist ernstlich zu fragen, ob nicht zugleich damit jene Richtung, in die Barth und Ellul uns gewiesen haben, tatsächlich diejenige sei, in der sich die Auseinandersetzung des Christen mit der Rechtstatsache und dem Problem der Rechtsbegründung legitimer, d.h. evangeliumsgemäßer Weise und ganz konkret, über bloß interessante geistesgeschichtliche oder religionssoziologische Erörterungen hinaus zu vollziehen hat.

Das bedeutet zunächst ein theologisches (und theologiegeschichtlich zu verdeutlichendes) Urteil 23). Seine Annahme bereitet freilich heute noch starke Schwierigkeiten, weil sich Belastungen durch das theologiegeschichtliche Erbe in den Weg stellen. Es ist bezeichnend, daß ein gutes und verständnisbereites Referat über die Thesen von Ellul zum Schluß doch bedenklich wird gegenüber seiner Hauptthese, der Begründung des Rechts in Christus, seiner Verknüpfung mit dem Heilswillen Gottes. „Müßte nicht vielmehr das Recht (und auch


23) H.A. Dombois trifft in seinem wesentlich eine geistesgeschichtliche Analyse darbietenden Vortrag „Menschenrechte und moderner Staat”, 1948, S. 42, die dementsprechend zunächst von außen kommende, aber doch recht beachtliche Feststellung: „Rechtsidee und konkrete Rechtsordnung folgen stets der (religiösen oder pseudo-religiösen) Rechtfertigungsidee, das heißt dem geglaubten Grundverhältnis des Menschen zu Gott oder dem an seine Stelle gesetzten geschichtsphilosophischen Prinzip.”

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der Staat) in den Geboten Gottes, die er zur Erhaltung dieser Welt gegeben hat, begründet werden?” Denn nach dem lutherischen Katechismus seien Recht und Staat wesentlich dem ersten, und nicht dem zweiten Artikel des Credo zugeordnet. Allerdings dürfen diese Artikel nicht voneinander getrennt werden. „Eine theologische Begründung des Rechts wird vielmehr immer trinitarisch zu geben sein” 24). — Die Verlegenheit einer breiten theologischen Tradition gegenüber dem Problem „Rechtfertigung und Recht” wird hier spürbar, die das reformatorische Erbe als im wesentlichen abgeschlossene Größe ansieht, eine heimliche Tendenz zum christlichen Naturrecht, zur Theologie der Schöpfungsordnungen, ein letztes Erschrecken vor den Konsequenzen der theologischen Aussage im Lutherlied: „er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth und ist kein ander Gott” — und zuletzt wie zuerst eine gewisse Unschärfe in der Erfassung des Problems. Diese Unschärfe wird immer dort spürbar, wo man die Frage „Protestantismus und Naturrecht” erörtert. Die protestantische Theologie sei hier, so wird man belehrt, mit sich uneins. Auf der einen Seite lehne man in einem bestimmten theologischen Lager das Naturrecht „von Grund auf” ab, bestreite auch, daß es bei den Reformatoren eine Rolle gespielt habe; auf der anderen Seite sei ein Wiederaufleben der alten naturrechtlichen Problemstellungen bei protestantischen Theologen (gemeint ist E. Brunner) und Juristen (gemeint ist Erik Wolf) heute zu beobachten 25). Dieses Gegeneinander lehre, daß eine Ablehnung des Naturrechts „von Grund auf” eben „nicht mehr möglich sei” 26).

Es ist mit der hier ausgespielten Feststellung starker naturrechtlicher Partien und sogar Motive bei den Reformatoren und in der Orthodoxie aber noch nicht viel gewonnen. Kein Kundiger wird sie leugnen wollen. Es muß jedoch viel genauer gefragt werden, was sie je an ihrem Ort bedeuten: scholastische Reste? oder nüchterne Anerkennung des Naturrechts als rechtsgeschichtliche Tatsache? oder eine verschiedenartige Vermischung von beidem, die zu klären eine echte und wichtige Aufgabe für die theologischen Erben darstellt? Darum handelt es sich angesichts jener Belastungen aus der theologiegeschichtlichen Betrachtung des heutigen Protestantismus.

Die reformatorische Erkenntnis muß von der für sie wesentlichen Christusverkündigung und aus ihrer Sicht des Wesens des Menschen als des Menschen vor Gott in Gemeinschaft mit dem Mitmenschen zur Naturrechtslehre ebenso entschieden Nein sagen wie sie das Naturrecht als rechtsgeschichtliche Tatsache


24) R. Mumm in: Die Zeichen der Zeit, 1948, H. 7/8, S. 260.
25) Vgl. etwa auch die These von H.A. Dombois: es scheine „eine fruchtbare Entfaltung des Rechtsgedankens nur in dem Maße möglich zu sein, in dem eine Hereinnahme natürlicher Theologie in die Offenbarungstheologie erfolgt (Rechtsstaat des Mittelalters und des 19. Jahrhunderts). Je mehr sie ausgeschieden wird, desto stärker ist die Rechtszerstörung (Zerstörung der geistlichen und traditionellen Hierarchien durch den Puritanismus, der bürgerlich-rationalen durch den Bolschewismus). Es bleibt zu untersuchen, wie weit diese natürliche Theologie hier legitim ist.”
26) W. Schulze, Protestantismus und Naturrecht = Begegnung III/12, 1948.

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nüchtern in Rechnung stellen wird, wo es um das praktische Handeln geht. Sie kann kein ideologisches Naturrecht als System, als dogmatische Ordnungslehre vertreten, wohl aber darf sie den Elementen des naturrechtlichen Denkens dort Raum geben, wo es sich nicht um die Frage der metaphysischen Rechtsbegründung, auch nicht um die Gewinnung eines absolut gültigen Systems letzter Normen handelt, wohl aber um die Versuche, einen Bestand praktikabler, normativ-kritischer Rechtsgrundsätze zu ermitteln 27), oder um den mehr oder minder brauchbaren Weg für die Rezeption positiver Rechtssätze aus fremden Kulturkreisen und vergangenen historischen Bereichen, nicht zuletzt also auch aus der Bibel 28). Auf keinen Fall aber dürfen diese Rechtsgrundsätze und Rezeptionshilfen in ihrer jeweiligen Summe den Anspruch erheben, die „christliche” Rechtsbegründung inhaltlich darzustellen.

Jenes Nein zum ideologischen Naturrecht als „christlicher” Rechtsbegründung und dieses relative Ja zur Handhabung der Elemente naturrechtlichen Denkens, zum Eingehen auf den vorfindlichen Menschen als „geborenen Naturrechtsjuristen” bestimmt m.E. die legitime Stellung des Christen zu


27) In diesen Rahmen könnte, wenn die These, daß das Recht „eine Schöpfung des menschlichen Geistes ist”, nur immanent-relativ zu verstehen wäre, der Versuch einer Neugründung des Naturrechts, den H. Coing unternimmt, eingeordnet werden. Für ihn ist (gegen Spranger) das Naturrecht „nicht nur ein formaler Topos, sondern erprobte Einsicht in die Technik sittlicher Handhabung und Bindung sozialer Macht” (Universitas III,10, S. 1179). Die Begründung eines Naturrechts stützt sich hier 1. auf apriorische ethische Grundeinsichten, die gegebne sind a) durch die Idee der Gerechtigkeit „als Selbstbejahung, Bereitschaft, den anderen gelten zu lassen und ihm zu geben, was ihm zukommt”; b) durch die Vorstellung vom Wert des Menschen, die inhaltlich verschieden sein kann, im Abendland aber im wesentlichen durch „die sittlich selbstverantwortliche Person” gegeben ist; 2. auf den Bestand beweisbarer Erfahrungen über die typischen sozialen Probleme und die Möglichkeiten ihrer Lösung im Sinne jener ethischen Werte. Aus beidem sucht Coing ein „System von Rechtsgrundsätzen” zu gewinnen, deren Summe eben das Naturrecht ist. — Freilich, die Gefahr und der grundsätzlicher Kritik im besonderen ausgesetzte Punkt sind deutlich sichtbar: der Apriorismus ethischer Grundeinsichten. — Für eine Kritik von der theologischen Anthropologie in reformatorischer Grundhaltung her vgl. dazu E. Wolf, Menschwerdung des Menschen? = Evang. Theol. 1946, S. 4 ff. Ob sich Coings „System” eine solche Einklammerung in das Rechtfertigungsverständnis wird gefallen lassen können? Auf jeden Fall sind aber in seiner Schrift Elemente des naturrechtlichen Denkens herausgehoben und z.T. neu zusammengefügt, auf die im einzelnen in unserem Zusammenhang angespielt wird. In der Auseinandersetzung mit Arndt (Die Wandlung, IV/6, 508ff.) verzichtet Coing auf ein „System”, hält aber betont an den grundlegenden „Urphänomenen des menschlichen Geistes” fest, an „gewissen Grundforderungen in der Seele des Menschen: Gerechtigkeit und Redlichkeit” (S. 511).
28) Vgl. dazu E. Wolf, Libertas christiana = H.E. Weber, E. Wolf, Gerechtigkeit und Freiheit, Theol. Ex. heute NF. Nr. 18, 1949, S. 22ff. Der Gedanke des „Naturrechts” als Rezeptionshilfe ist m.E. als Frage an Erik Wolfs Ermittlung biblischer Weisungen zu richten.

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diesen Fragen. Denn das Nein wie das Ja entsprechen 1. dem, daß die Botschaft von dem neuen Leben des Christenmenschen in der Freiheit Gottes die radikale Infragestellung alles als Weg zum Heil aufgebotenen natürlichen Rechts, vermeintlichen göttlichen Gesetzes ist. Sie entsprechen 2. der Spannungsreichen Einheit des Daseins des Christenmenschen (und der Gemeinde Christi) in der Welt und für die Welt, und doch nicht von der Welt.

Hier allein bleibt die Einheit von Leben und Lehre in der konkreten jeweiligen geschichtlichen Situation gewahrt; gewahrt gegenüber jenem verhängnisvollen Zerfall in eine nicht mehr christliche Ghetto-Kirche und eine bürgerliche Wohlanständigkeit und Moral mit protestantischer Christlichkeit verwechselnde gesellschaftliche Welt; gegenüber jenem Zerfall in eine Innerlichkeit des Glaubens, die dem Auftrag zu gehorsamen Handelns als „Mitwirker Gottes” in der Welt und an ihr mehr und mehr ausweicht, — und in ein öffentliches, bürgerliches Dasein, das sich durch das Gebäude seiner sog. christlichen Moral und durch seine formale „Rechtlichkeit” gerechtfertigt weiß.

Wir sind heute da und dort dieses Zerfalls auch im Blick auf die Gesamtsituation des Rechtslebens mit Schrecken ansichtig geworden. Es fragt sich, ob wir bereit sind, das Wort des Propheten Jesaia (56, 1) recht zu hören: „So spricht der Herr: haltet das Recht und tut Gerechtigkeit: denn mein Heil ist nahe, daß es komme, und meine Gerechtigkeit, daß sie offenbar werde.” — Dies Wort aber ist nicht an alle Welt gerichtet, sondern an das Volk Gottes. Hier muß es gehört werden, um aller Welt willen.