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Sohms kirchenrechtlichen Schriften1) ist ein Widerhall weit über den Kreis der Fachgenossen hinaus beschieden gewesen. Zur Begründung dieser Wirkung pflegt man drei Momente geltend zu machen. Das erste ist die streng logische Geschlossenheit seiner Gedanken. In den großen Bänden seines Kirchenrechts und seiner Forschungen über Gratian sowohl wie in den sie begleitenden Einzeluntersuchungen ist die Fülle der Tatsachen nicht formlos aufeinander gehäuft, sondern der spröde Stoff wird auf wenige Thesen zurückgeführt und von ihnen aus gemeistert, auf Thesen, die nicht in unbeholfener Weise vorangestellt oder am Ende zusammengefaßt sind, sondern die wie von selbst aus der Ausbreitung des Materials erwachsen. Auf dieser virtuos gehandhabten Verbindung von juristischer und historischer Technik beruhen die Spannung und der oft gerühmte Glanz seiner Darstellung.

Ihre Anwendung wird ihm ermöglicht, weil er eben letzthin nur einige wenige Thesen verficht, die ihrerseits wieder gipfeln in dem Leitmotiv seiner ganzen kirchenrechtlichen Forschung: Das Wesen des Kirchenrechts steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch. In der paradoxen Formulierung dieses Satzes schwingt merklich etwas mit, das in juristischen und historischen Begriffen nicht aufgeht. Die breite Wirkung seiner Schriften beruht an zweiter Stelle, psychologisch vielleicht am meisten, auf der Ergriffenheit religiöser Überzeugung, mit der Sohm seine Thesen vorträgt. Der von ihr ausstrahlende suggestive Bann bleibt seinen Darlegungen selbst an Stellen, die recht trockenen Dingen gewidmet sind. Immer wieder wird hinter den Ausführungen Sohms spürbar, daß ihn nicht nur


[27] 1) [S. 5] Für die Darstellung der Sohmschen Gedankengänge wurden folgende seiner Arbeiten benutzt: 1. Das Verhältnis von Staat und Kirche aus dem Begriff von Staat und Kirche entwickelt, Tübingen 1873. — 2. Kirchenrecht, 2 Bde., München und Leipzig 1892; 1923. — 3. Der Lehrgerichtshof = Der Tag, Berlin 1909, Nr. 274 vom 23. November; Noch einmal der Lehrgerichtshof, ebda. Nr. 297 vom 19. Dezember. — 4. Wesen und Ursprung des Katholizismus2, Leipzig und Berlin 1912. — E. Foerster, Sohm widerlegt? = Zeitschr. f. Kirchengesch. 48, 1929, S. 324 bemängelt, daß G. Holstein, Die Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts, Tübingen 1928, bei seiner Darstellung der Sohmschen Ideen nur sein Kirchenrecht herangezogen habe. Demgegenüber ist darauf zu verweisen, daß dessen zweiter Band die von Foerster vermißten Schriften, teilweise sogar erweitert, enthält, so daß deren gesonderte Benutzung sich erübrigt.

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wissenschaftliches Bedürfnis treibt, sich mit den Problemen des Kirchenrechts auseinanderzusetzen, sondern daß es ihm um höchste und letzte Fragen des Glaubens geht, die er mit heiligem Ernst behandelt. Daraus entsteht das Pathos, die Hingabe des Herzens an die Probleme, die seine Leser ebenso wie nach einstimmigem Urteil seiner Schüler früher seine Hörer nicht bei verstandesmäßig abwägender Stellungnahme stehen läßt, sondern neben der intellektuellen Spannung auch eine Erregtheit des Gemütes erzeugt. Es ist nicht verwunderlich, daß man gemeint hat, der Zugang zu Sohm liege überhaupt an dieser Stelle. Nur seine Frömmigkeit erkläre seine kirchenrechtlichen Anschauungen, sagen die Herausgeber des nachgelassenen zweiten Bandes seines Kirchenrechts, Erwin Jacobi und Otto Mayer2), und Stutz hat ihnen ausdrücklich zugestimmt3).

Dieser Satz hat einen sehr guten Sinn, wenn er bedeuten soll, daß die wissenschaftlichen und religiösen Überzeugungen Sohms an keiner Stelle im Widerstreit liegen. Aber zum mindesten Stutz versteht ihn dahin, daß seine kirchenrechtlichen Ansichten nur die gelehrte Verkleidung, gleichsam der wissenschaftliche Überbau seiner religiösen seien. Von dieser Auffassung ist nur ein einziger Schritt zu der Bewertung des unstreitigen Erfolges der Forschungen Sohms als weniger wissenschaftlich denn gefühls- und stimmungsmäßig bedingt. Holstein betont gerade diesen Gedanken, wenn er sagt: Sohms These, von der Wissenschaft abgelehnt, hat trotzdem „eine ungeheure Bedeutung gehabt: stimmungsmäßig wirkt sie als Motiv der praktisch-religiösen Haltung gegenüber allen kirchenrechtlichen Organisationen und allem Organisatorischen in der Glaubensgemeinschaft gerade religiös sehr ernsthafter Kreise weiter: Gemeinschaften des religiös-sozialen Radikalismus und Anhänger der Theologie der Krisis, Gruppen eines idealistisch gestimmten Liberalismus wie eines pietistisch gestimmten Konservativismus stimmen weithin darin überein”4). Schon eine flüchtige Umschau in der Literatur läßt seine Worte als


[27] 2) [S. 6] Kirchenrecht Bd. 2, S. V.
3) [S. 6] Z3SavRG (= Zeitschr. d. Savigny-Stiftung f. Rechtsgesch., Kan. Abt.) 13, 1924, S. 550.
4) [S. 6] S. 220.

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berechtigt erscheinen, ja man könnte den von Holstein genannten Kreisen noch gewisse katholische Gruppen anschließen. Sie alle huldigen der Meinung, daß Religion und Recht reinlich voneinander zu scheiden sind, und halten das Recht für den Feind der Religion, dem die Kirche höchstens in einem Akt der Notwehr einen gewissen Einfluß verstatten dürfe. In der Übereinstimmung mit dieser Zeitströmung liegt das dritte Moment, aus dem der große Anklang der Sohmschen Thesen erklärt wird.

Indes wird man der wissenschaftlichen Leistung Sohms mit dieser letzten Bewertung nicht gerecht. Man widerlegt ihn nicht mit der Ansicht, daß in seinen Thesen nur Gefühl und Stimmung Gestalt gewonnen hätten, denen zuliebe er die Tatsachen vergewaltige, daß seine Gedankengänge gewiß sehr geistreich, gewiß anzuerkennen seien in dem Ernst ihrer Überzeugung, daß sie aber im Grunde nur das wissenschaftlich belanglose Spiel eines Außenseiters mit Paradoxien darstellten. Man darf im Gegenteil sagen, daß die Forschungen Sohms wohltuend abstechen von den idealistisch-philosophischen oder mystischen Darlegungen der Gegner straffer kirchlicher Bindung. Ein Vergleich ihrer mit großen Worten wie Geistkirche, Liebeskirche, Rechtkirche, Machtrausch usw. arbeitenden, aber gemeinhin recht wenig substanziierten Argumentationen und der auf Fakta aufbauenden, die theoretischen Ausführungen an Fakta messenden, nie nur ad hoc demonstrierenden Ausführungen Sohms zeigt den ganzen Unterschied. Man verzichtet auch am besten auf die Geltendmachung dieses Standpunktes in der schon erwähnten gemilderten Form, daß man sein Kirchenrecht aus seiner Frömmigkeit würdigt. Sohm hat entschieden Verwahrung eingelegt, als v. Walther in seiner Auffassung des Kirchenrechts der ersten Jahrhunderte und in seiner Definition des Katholizismus vom Recht her eine Wiederholung pietistischer Gedankengänge finden wollte5). In der Tat liegt ihm nichts ferner, als die pietistische These von der Zeit der ersten


[27] 5) [S. 7] R. Sohm, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians = Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Dr. A. Wach, München und Leipzig 1918, S. 616 A. 2.

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Liebe mit neuen Beweisen zu wiederholen oder aus ihr sein Ideal der Kirche zu erheben. Ebensowenig wie man die Lutherauffassung Holls aus seinen Predigten erklärt, ebensowenig sollte man in dem Kirchenrecht Sohms nur den Reflex seiner Frömmigkeit sehen. Der Widerspruch gegen seine Thesen kann nur mit den Mitteln einer wissenschaftlichen Diskussion begründet werden.

Diese Diskussion, zu der nunmehr Stellung genommen werden soll, ist nicht so ausgedehnt, wie man angesichts der völligen Verwerfung der bisherigen kirchenrechtlichen Forschung durch Sohm erwarten möchte, wenn man von den zahlreichen kürzeren Besprechungen und den überallhin verstreuten Aperçus absieht. Im Gegenteil, man darf sogar feststellen, daß zum mindesten Sohms historische Thesen, die er in fast stereotypierter Wendung in seinen Schriften der „herrschenden Meinung” gegenüberstellt, heute selbst weithin herrschende Meinung geworden sind. Für die Zeit der Urkirche will die berühmte Abhandlung Holls über den Kirchenbegriff des Paulus im Verhältnis zu dem der Urgemeinde6) im Grunde nur nachweisen, daß Sohm seine Aufstellungen zu Unrecht auf die jerusalemische Gemeinde ausgedehnt hat, daß sie aber innerhalb dieser Grenzen, also für die paulinischen Gemeinden, zu Recht bestehen. Und ein Blick in die Neubearbeitung der zur Zeit repräsentativsten Kirchengeschichte, der von Karl Müller7), zeigt, auf wie weite Strecken dieser für das christliche Altertum den Sohmschen Anschauungen von der Entwicklung des Kirchenrechts und der Kirchenverfassung zustimmt. In der kanonistischen Abteilung der Zeitschrift für Rechtsgeschichte schließlich, also in der vornehmsten Fachzeitschrift, an der mitzuarbeiten Sohm nach der Mitteilung von Stutz fast als eine Sünde wider den Heiligen Geist erschien, und in der Stutz selbst mehrfach Sohms Ansichten im einzelnen wie im ganzen rundweg abgelehnt hat8), bestätigte kürzlich Boye für die deutschen Synoden des 10. und 11. Jahrhunderts die Ansicht


[28] 6) [S. 8] Ges. Aufsätze Bd. 2, Tübingen 1928, 44-67.
7) [S. 8] Kirchengeschichte Bd. 12, 1. Halbband, Tübingen 1929.
8) [S. 8] Vgl. die Besprechungen in Z3SavRG 8, 1918, S. 238-246; 13, 1924, 544-551 und hier S. 546 die erwähnte Mitteilung; die Abhandlung „Die Cistercienser wider Gratians Dekret” 9, 1919, 63-96. In dem dieser Abhandlung S. 96-98 angefügten Nachtrag muß übrigens Stutz auf einen Hinweis von Fr. Heyer hin zugeben, daß bei der Sekretierung des Gratianischen Dekrets im Cistercienserorden doch auch religiös-theologische Interessen mitspielten, und damit seinen Widerspruch gegen die These Sohms, daß Gratian unter theologischen Gesichtspunkten gearbeitet habe, selbst abschwächen.

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Sohms von der rechtlichen Gleichwertigkeit aller Synoden im 1. Jahrtausend der christlichen Kirche9) und stimmte damit einer seiner Fundamentalthesen zu.

Sohm würde also heute keinen Grund mehr haben, sich über mangelnde Berücksichtigung und Anerkennung zu beklagen, und um so mehr gilt das Wort, mit dem Kahl seine Polemik gegen ihn eröffnete: „Es ist unmöglich, daß die weitere Darstellung des Kirchenrechts mit Sicherheit und freudigem Mut fortschreite, wenn in dieser Kardinalfrage (nämlich nach der Möglichkeit des Kirchenrechts überhaupt) eine derartig sich ausschließende gegensätzliche Auffassung zurückbleibt”10).

In der Tat! Schon ein flüchtiger Überblick zeigt, wie sehr sich Sohms Werk allem entgegenstellt, was bis auf ihn als gesicherter Besitz der Kirchenrechtswissenschaft gegolten hatte. Er sieht den großen Mißgriff in der Anwendung der juristischen Methode auf das Kirchenrecht. Sie habe ihm den Begriff des einerlei Kirchenrechts gebracht, also eine Auffassung, nach der das Kirchenrecht immer gleich gewesen sei, von den Zeiten der Apostel bis auf den heutigen Tag, so daß es sich bei seiner Geschichte nur um materielle, nicht um formelle Unterschiede handele. Man könne nach der juristischen Methode dem katholischen und protestantischen Kirchenrecht einen gemeinsamen Teil, ein allgemeines oder christliches Kirchenrecht, ein Kirchenrecht in genere vorausschicken. Diese juristische Methode habe verschuldet, daß man nicht auf die Wandlungen des Kirchenbegriffes und die damit einhergehenden Wandlungen des Kirchenrechts achtete und völlig verkannte, daß das Wesen des Rechts fließt.

Im Gegensatz dazu betont Sohm, daß man ein doppeltes, ein geistliches und ein weltliches Kirchenrecht unterscheiden müsse. Nach einer kurzen Periode pneumatischer Anarchie, in der der Geist die Ordnung bestimmte, sei in der altkatholischen Zeit geistliches, göttliches Kirchenrecht aufgekommen, das bis ins 12. Jahrhundert geherrscht habe, um sich dann in ein


[28] 9) [S. 9] M. Boye, Die Synoden Deutschlands und Reichsitaliens von 922-1059 = Z3SavRG 18, 1929, S. 177-193.
10) [S. 9] W. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik, Tübingen 1894, S. 71.

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unmittelbar göttliches Recht, eben das bisher allein herrschende ius divinum, und ein mittelbar göttliches Recht, das von der Kirche als solcher gesetzte ius humanum, zu spalten. Durch die Reformation wurde dieses göttliche Recht beseitigt; an seine Stelle trat das weltliche Kirchenrecht, schließlich das staatliche Religionsgesellschaftsrecht: das ius utrumque war gefallen.

Gegen diese Thesen hat unter dem methodologischen Gesichtspunkt Einspruch erhoben Schönfeld in einer Abhandlung über die juristische Methode im Kirchenrecht, die er ausdrücklich als rechtstheoretische Auseinandersetzung mit Sohm bezeichnet11). Er wendet sich gegen diese Ausführungen mit der Feststellung, Sohm habe offenbar bei seinem Kampf gegen die juristische Methode eine klare und wohlbegründete Einsicht in ihr Wesen nicht gehabt. Denn die Frage nach der juristischen Methode sei die Frage nach dem juristischen Apriori, nach der Möglichkeit juristischer Erkenntnis, und es liege eben im Wesen der juristischen Erkenntnis, daß sie nur juristische Dinge erfasse. Wenn Sohm also rüge, daß die Kirchenrechtswissenschaft sich bisher nicht um die im Lauf der Geschichte zutage getretenen Auffassungen vom Kirchenrecht gekümmert habe, so weist Schönfeld diese Betrachtungsweise als politische oder psychologisch-historische der Soziologie zu: die Rechtswissenschaft habe nichts mit ihr zu schaffen.

Diese Kritik läuft hinaus auf einen terminologischen Streit. Schönfeld gibt ausdrücklich zu, daß man sehr wohl darüber verhandeln könne, ob dieser Gesichtspunkt bisher genügend beachtet worden sei, aber es sei eben keine juristische Fragestellung. Nun könnte man darauf erwidern, daß Sohm ja auch gerade die rein juristische Methode für unzulänglich hält und ihre Ergänzung wünscht. Inwiefern man ihm dann noch vorwerfen kann, er verkenne das Wesen dieser Methode und mute ihr Dinge zu, die sie nicht zu leisten vermöge, ist nicht einzusehen. Und ferner darf man betonen, daß Sohms Ergebnisse einen völligen Umsturz der bisherigen historischen und


[28] 11) [S. 10] Die juristische Methode im Kirchenrecht. Eine rechtstheoretische Auseinandersetzung mit Rudolph Sohm = Arch. f. Rechts- u. Wirtschaftsphilosophie 18, 1925, S. 58-95. Schönfeld scheint übrigens seine Auffassung Sohms geändert zu haben; vgl. Z3SavRG 19, 1930, S. 684.

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systematischen Auffassung des Kirchenrechts zur Folge haben müßten, falls er recht behält. Den unter dieser Voraussetzung nötigen Rückzug könnte der Jurist nicht decken, indem er seinen siegreich vordringenden Gegner einer falschen Methode beschuldigt. Damit sind auch gleich die mancherlei anderen Stimmen erledigt, die Sohms programmatischen Forderungen zum Betrieb des Kirchenrechts gegenüber darauf verweisen, daß sie nichts weniger als neu seien. Wenn auch die Fragestellung schon früher gelegentlich auftaucht, so sind doch die Ergebnisse neu, und ihnen gegenüber muß man Stellung nehmen, nicht gegenüber der Methode.

Diese Kritik ist auch darum abwegig, weil Sohm nur für das Spezialgebiet der kirchlichen Rechtsgeschichte eine Forderung vertritt, die für die allgemeine Rechtsgeschichte sich immer mehr durchsetzt. Man kann vielfach aus einer rechtsgeschichtlichen Abhandlung die Rechtsanschauung der behandelten Periode nicht rekonstruieren; damit bleibt aber für das Rechtsverständnis ein ungeklärter Rest, den aufzuhellen Pflicht des Rechtshistorikers ist. Es ist damit keineswegs gemeint, daß an die Darstellung der konstruierten Rechtsverhältnisse eine einfache Aufzählung der Begriffe und Forderungen anzuschließen sei, die in bezug auf die den Konstruktionen zugrunde liegenden Tatsachen in den Quellen enthalten sind. Vielmehr geht es um die Aufdeckung dessen, was, dem betreffenden Zeitalter vielleicht unbewußt, als „working conception” hinter den Tatsachen steht; es gilt, diese Tatsachen so zu formulieren, wie es die Menschen jenes Zeitalters getan hätten, wenn sie sich über sich selbst klar gewesen wären. Man mag dieser Methode das Recht absprechen, juristisch genannt zu werden; es ist das unbestreitbare Wahrheitsmoment in der Position Sohms, daß der Jurist sie nicht entbehren kann.

Schließlich aber scheint die Frage, der die Auseinandersetzung Schönfelds mit Sohm gilt, unter einen falschen Aspekt gerückt zu werden, wenn man den Versuch ihrer Klärung in der

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Form einer methodologischen Diskussion unternimmt. Es handelt sich im Grunde bei diesem wie bei jedem „Methodenstreit” nicht um die Methode. Über die juristische wie über die wissenschaftliche Methode überhaupt, das Wort in seiner eigentlichen Bedeutung genommen, zu streiten, ist ein müßiges Beginnen. Die Methode hat nicht einen Sinn, sondern nur einen Zweck, nämlich den, die Wege zur Erkenntnis zu bieten, und die Kategorien, denen ihre Beurteilung unterliegt, sind nicht richtig und unrichtig, sondern zweckmäßig und unzweckmäßig. Die Methode gehört ins Proseminar; den Gegenstand, dem die in ihrem Namen geführten wissenschaftlichen Gespräche gelten, bilden gemeiniglich die Voraussetzungen der in Frage gestellten Gedankengänge. Auch die Darlegungen Schönfelds richten sich gegen die Fundamente, auf denen Sohms Gebäude ruht, nicht gegen die Handgriffe, mit denen er die Steine aufeinanderschichtet. Es ist ein axiomatischer, nicht ein methodologischer Streit, mag auch Sohm selbst seine Angriffe gegen die „Methode” richten.

Diese Angriffe sind diktiert von der Überzeugung, daß das Recht überhaupt, nicht etwa nur das Kirchenrecht, eine nicht material, sondern formal bestimmte Größe ist. Für Sohm ist das Recht nicht eine Provinz neben anderen im Reiche des Geistes, sondern eine, gleich noch näher zu bezeichnende, Struktur von Sätzen, die ihren Inhalt von anderen Mächten des Lebens empfangen. Diese von Sohm als Axiom aufgestellte These ist eine seiner folgenschweren juristischen Intuitionen, die beispielsweise das eigentliche Hindernis angibt, das einer Verankerung der Religionsvergehen im Strafgesetzbuch eines weltanschaulich neutralen Staates entgegensteht; der Deliktscharakter derartiger Handlungen kann nicht vom Recht, sondern nur von der Religion aus begründet werden. Dieses Axiom also bildet die Basis der Sohmschen Kritik am Kirchenrecht. Wenn man ihn so verstehen wollte, als ob der Inhalt des Kirchenrechts dem Wesen der Kirche widerspreche, würde man sich

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den Weg zu ihm völlig verbauen. Kirche und Recht sind darum unversöhnlich, weil religiöse Wahrheiten rechtliche Struktur nicht annehmen können, ohne ihr innerstes Wesen aufzugeben.

Dieses Axiom, das die Möglichkeit der Jurisprudenz als einer Wissenschaft überhaupt zum Problem macht, kann man nicht mit spezifisch kanonistischen Argumentationen bekämpfen. Man lehne es ab; und jede weitere Diskussion des Sohmschen Kirchenrechts erübrigt sich. Will man diese, so muß man jenem Axiom mindestens fiktive Geltung zubilligen. Diesem Sachverhalt entspricht es, auf seine weitere Betrachtung an dieser Stelle zu verzichten und in die Erörterung des Sohmschen Systems selbst einzutreten, dessen Prüfung das wichtigste Stück einer Auseinandersetzung des Kirchenrechtlers mit ihm bilden muß.

Der Punkt, von dem aus diese Prüfung zu geschehen hat, ist der Kirchenbegriff. Sohm selbst hat betont, daß das Kirchenrecht eine Funktion des vorausgesetzten Kirchenbegriffs sei, hat seine historische Kritik des Kirchenrechts von der Kritik des jeweiligen Kirchenbegriffs her durchgeführt, hat schließlich die Berechtigung seines eigenen Systems aus seinem Kirchenbegriff abgeleitet. Die Frage ist also: worin besteht die Eigenart des Sohmschen Kirchenbegriffs? Sohm geht aus von der Unterscheidung einer sichtbaren und einer unsichtbaren Kirche. Die unsichtbare Kirche ist die Vereinigung aller wahren Christen zu einem geistigen Organismus unter einem Haupte: Christus. Die sichtbare Kirche dagegen besteht in der äußerlich erkennbaren Menge der Christen. Sie ist eine Kirche, die mit menschlichen Mitteln faßbar, berechenbar ist; jene ist für die natürliche Betrachtung unsichtbar, nur dem Glauben sichtbar, insofern also doch auch wieder sichtbar. Die Begriffe unsichtbar und sichtbar sind folglich nicht absolute, sondern relative Größen; ihr Inhalt hängt ab von der Wahl des Zurechnungspunktes. Sohm übernimmt mithin keineswegs die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche in der

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landläufigen Form einer „platonischen” Unterscheidung von Kirche und Wirklichkeit12). Für ihn ist auch die unsichtbare Kirche sichtbar; es gibt für den Christen nur eine Kirche, die der Glaube sieht, der Unglaube nicht sieht. Neben ihr als theologischer Größe stehen als juristisches und soziologisches Phänomen die empirischen Kirchen, die mit der Kirche im Glaubenssinn sich nicht notwendig berühren müssen, sondern nur faktisch zu berühren brauchen. Man trifft seinen Gedanken viel besser, wenn man mit einer Terminologie, die er leider nur zuweilen, nicht konsequent anwendet, sagt: es gibt eine Kirche im Glaubenssinn und eine Kirche im Rechtssinn.

Das Verhältnis dieser beiden Kirchen zueinander bestimmen das Urchristentum sowohl wie die katholische Kirche als eines der Identität; beide Kirchen decken sich. Von dieser Position aus ergibt sich notwendig die Folgerung, daß es nur eine einzige Kirche im Rechtssinn geben kann, daß diese und die Kirche im Glaubenssinn auch in Verfassung und Betätigung übereinstimmen müssen. In der Kirche des Glaubens herrschen Gottes Geist und Wort, also müssen auch in der Kirche des Rechts Gottes Geist und Wort das gestaltende Prinzip sein. Dieses Prinzip ist unveränderlich und sichert so der Kirche im Glaubenssinn die Gleichheit mit sich selbst im Laufe der Zeit; mithin muß auch die Kirche im Rechtssinn stets mit sich selbst gleich, unveränderlich sein. Diese Gleichheit und Unveränderlichkeit einer Ordnung bedeuten aber in der sichtbaren Welt, daß sie rechtliche Struktur aufweist. Sohm sieht den in diesem Zusammenhang entscheidenden Wesenszug des Rechtes in seiner Gebundenheit an die Vergangenheit, darin, daß es in der Gegenwart Geltung beansprucht, weil es in der Vergangenheit gegolten hat. Sobald die Tatsache feststeht, daß es einmal in der Vergangenheit Geltung besaß, ist auch über seine Gültigkeit für die Gegenwart entschieden. Diesen Geltungsanspruch erhebt auch die Kirche im Rechtssinn für ihre Glaubensüberzeugungen. Wenn festgestellt ist, daß ein


[28] 12) [S. 14] Vgl. K.L. Schmidt, Die Kirche des Urchristentums. Eine lexikographische und biblisch-theologische Studie = Festgabe für A. Deißmann, Tübingen 1927, 316.

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bestimmter Glaubenssatz in der Vergangenheit galt, dann ist bei der Gleichheit von Kirche im Glaubenssinn und Kirche im Rechtssinn der Geltungszwang dieses Satzes auch für die Gegenwart begründet. Die Kirche im Glaubenssinn legitimiert sich also durch den Besitz des Geistes und die von ihm ausgehenden Wirkungen, die Kirche im Rechtssinn durch die Übereinstimmung mit der Vergangenheit.

Dieser Kirchenbegriff und das aus ihm erfließende Kirchenrechtssystem sind solange ohne Schwierigkeiten anwendbar, als innerhalb der Kirche im Rechtssinn keine Lehrgegensätze entstehen. Eine solche Spaltung trat aber im Urchristentum um die Wende des 1. Jahrhunderts ein, als die Gemeinde von Korinth auf Betreiben einiger Pneumatiker ihre Ältesten absetzte. Die römische Gemeinde erkannte dieses Vorgehen nicht als berechtigt an und protestierte dagegen in dem 1. Clemensbrief. Daraus entsprang eine doppelte Frage. Zunächst: Wie ist das Vorgehen der Korinther rechtlich zu beurteilen? Es schafft, da die Römer ihm grundsätzlich die Anerkennung verweigern, eine rechtlich verschiedenartige andere Kirchengemeinde. Rechtlich existieren also nun zwei Kirchen. So mußte die zweite Frage gestellt werden: Wie lautet das Urteil des Glaubens? Nach diesem kann es nur eine Kirche geben. Nun wirkt sich die Gleichsetzung von Kirche im Glaubenssinn und Kirche im Rechtssinn aus. Die rechtlich verschiedenartigen Kirchen sind rechtlich nicht gleichwertig, weil sie auch dogmatisch nicht gleichwertig sein können. Diese Ablehnung der rechtlichen Gleichwertigkeit war der ersten Christenheit noch unbekannt; für sie standen alle Versammlungen gleichberechtigt nebeneinander. Darin liegt eine Inkonsequenz, die nur dadurch ermöglicht wurde, daß noch keine Spaltungen grundsätzlicher Art sich zeigten. Der Zusammenstoß zwischen Rom und Korinth erzwang die logische Fortbildung der Theorie bis zu dem Satz, daß auch rechtlich nur eine Kirche bestehen dürfe. Von dieser Auffassung aus ergibt sich auch die Antwort

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auf die Frage, ob denn das Vorgehen der Korinther hätte gebilligt werden können, wenn die anderen Kirchen sich einverstanden erklärt hätten. Diese Frage ist ebenfalls zu verneinen. Abweichung von einem früheren Glaubenssatz schafft immer eine neue Kirche, nur würden die verschiedenen Kirchen bei allgemeiner Annahme der Abweichung ausschließlich nacheinander, nicht auch nebeneinander auftreten. Die Vergangenheit entscheidet mithin über die Gegenwart; die förmliche Feststellung eines Satzes als in der Vorzeit geltend stattet ihn auch für die Gegenwart mit Geltungszwang aus.

Damit ist die römische Antwort auf die Frage gegeben, wie die postulierte Gleichheit von Kirche im Glaubenssinn und Kirche im Rechtssinn zu wahren sei. Man konnte entweder auf die Kraft des Geistes vertrauen und der Zuversicht sein, daß die Einheit nicht verloren gehen könne, daß der entgegengesetzte empirische Zustand eben nur Augenschein sei und für das Auge Gottes die Einheit doch bestehe. Oder man verlor dieses Vertrauen auf den Geist, wurde kleingläubig und versuchte die empirische Einheit zu wahren, also mit menschlichen Mitteln die Einheit zu schaffen. Diesen Weg schlug die römische Gemeinde ein, er ist der Weg des Katholizismus.

Was besagt das? Zunächst, daß die Einheit der Kirche gemessen wird nicht an innerer Überzeugung, sondern an äußeren Fakta. Auch der Ungläubige kann auf diesem Wege feststellen, ob eine Ansicht von der christlichen Wahrheit abweicht. Das bedeutet aber weiter, daß die Feststellung der Wahrheit erfolgt ohne Rücksicht auf die innere Überzeugung des einzelnen; auch wenn dieser anders denkt, muß er sich dem in der Vergangenheit einmal Angenommenen fügen. Daraus aber folgt wiederum: einen solchen Anspruch gegenüber dem persönlichen Gewissen kann ein von der Kirche in rechtlicher Form verkündigter Glaubenssatz nur erheben, wenn er wirklich von Gott kommt, wenn also der eventuelle subjektive Zwiespalt zwischen Gewissen und Recht nicht auf einen objektiven

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Zwiespalt zwischen Gottes Wort und Recht zurückgeht: das Recht muß göttlich sein. Diese Folgerung zieht der Katholizismus. Er kennt in der von Sohm sogenannten altkatholischen Periode, im 1. Jahrtausend seiner Geschichte nur göttliches Recht, und als er nach Gratian in der neukatholischen Periode auch menschliches, von der Kirche als solcher gesetztes Recht zuläßt, geht dieses doch mittelbar wenigstens auf Gott zurück, weil die Kirche von Gott als Rechtsquelle konstituiert ist. Dieser Anspruch der Kirche aber, daß ihr Recht göttliches Recht und darum für alle verpflichtend sei, ist wider den Glauben, denn ausdrücklich hat Christus selbst die Gleichwertigkeit aller Christenversammlungen festgestellt mit dem Ausspruch: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.

Diese Lage fand Luther vor, und es war seine große Tat, die aber fast schon zu seinen Lebzeiten in Vergessenheit geriet, daß er diese glaubenswidrige Bindung des Gewissens durch das Recht beseitigte und die Freiheit des Christenmenschen wieder herstellte. Er entzog dem Recht in der Kirche überhaupt jeden Boden, indem er das proton pseudos, die Gleichsetzung von Kirche im Glaubenssinn und Kirche im Rechtssinn beseitigte. Nunmehr konnten die dogmatischen Postulate über die Einheit der Kirche keine rechtliche Wirkung mehr ausüben, weil der Zustand der Kirche im Rechtssinn keinen Schluß mehr auf den Zustand der Kirche im Glaubenssinn zuließ, weil eine eventuelle Spaltung und die daraus erfließende Vielheit von Kirchen im Rechtssinn der Einheit der Kirche im Glaubenssinn nicht mehr präjudizierte. Nunmehr war die rechtliche Gleichwertigkeit aller Christenversammlungen entsprechend dem Willen Christi wieder anerkannt. Luther hat das Wesen der Kirche Christi, das der Katholizismus durch die Verrechtlichung verschüttet hatte, wieder zur Geltung gebracht. Seine Kirchenordnung deckt sich de facto mit der des Urchristentums, weil dieses in glücklicher und durch die Lage der Dinge

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ermöglichter Inkonsequenz aus der Gleichsetzung der Kirche im Glaubenssinn und Kirche im Rechtssinn nicht die rechtlichen Folgerungen zog, die darin angelegt waren. Luther ist größer als das Urchristentum, weil er die Möglichkeit, diese Konsequenzen noch einmal zu ziehen, durch die Unterscheidung von Kirche im Glaubenssinn und Kirche im Rechtssinn beseitigte.

So stellt sich in großen Zügen die Geschichte des Kirchenrechtes dar, wie Sohm sie sieht. Es ist ihm vorgeworfen worden, beispielsweise von Stutz13) und Köstler14), daß diese Geschichte nur die nachträgliche Zurechtmachung des historischen Materials für systematische Zwecke sei. In diesem Vorwurf steckt die schon eingangs hervorgehobene Wahrheit, daß dank Sohms vollendeter Darstellungskunst und eminenter systematischer Fähigkeit die Geschichte das System schon enthält, so daß dieses nunmehr mühelos aus der Geschichte abgelöst werden kann. Der erste, oberste und einzige Satz dieses Systems lautet: Jede Versammlung von Christen ist in der Gestaltung des christlichen Lebens von rechtlichen Instanzen völlig frei und untersteht nur dem Geist; oder, auf den kürzesten Ausdruck gebracht: Alle Christenversammlungen sind rechtlich gleichwertig. Sohm gibt damit die rechtliche Identität der verschiedenen nacheinander und nebeneinander zusammentretenden Christenversammlungen auf und macht so jedes Kirchenrecht unmöglich.

Dieser Abriß des Sohmschen Kirchenrechts war selbst schon Interpretation; wenn man sie annimmt, gewinnt man einen Standpunkt zur Beurteilung seiner Aus- und Widerlegungen. Da ist zunächst die Meinung zu verzeichnen, Sohm habe seine These vom Widerspruch zwischen Kirche und Recht aufgestellt, weil er die Erzwingbarkeit für das konstituierende Element des Rechtes halte, während doch in der Kirche kein Zwang herrschen dürfe. Zwar sagt Sohm an mehr als einer Stelle ganz deutlich, daß die Erzwingbarkeit nicht zum Wesen des Rechtes gehöre, und hält das jetzige Kirchenrecht des


[28] 13) [S. 18] Vgl. die Anm. 8 zitierten Besprechungen.
14) [S. 18] Mitt. d. Österreichischen Instituts f. Geschichtsforsch. 39, 1923, 259-267.

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Katholizismus, dem sicherlich nicht die Erzwingbarkeit im eigentlichen Sinne eignet, für ebenso verwerflich wie irgendeine seiner früheren Formen, aber trotzdem begegnet diese Auslegung sogar bei einem seiner wärmsten Anhänger und Verteidiger, bei Erich Foerster15), der auf diesem Wege Sohms These rechtfertigen will.

Ein Versuch, Sohm zu widerlegen, stützt sich darauf, daß er die Entstehung des Kirchenrechts als eiserne Notwendigkeit bezeichnet. Wenn das Kirchenrecht notwendig ist, wie kann es dem Wesen der Kirche zuwider sein? Wenn es dem Wesen der Kirche zuwider ist, wie kann es notwendig sein16)? In Wirklichkeit beruht nach Sohm die Notwendigkeit des Kirchenrechts auf dem falschen Ansatz; wenn man mit Luther Kirche im Glaubenssinn und Kirche im Rechtssinn unterscheidet, dann fällt diese Notwendigkeit.

Gegenüber diesen und ähnlichen Erklärungen und Kritiken ist also daran festzuhalten, daß vom rechtslogischen Standpunkt aus Sohms System unangreifbar ist und keiner Verengerung des Rechtsbegriffes bedarf, um haltbar zu sein. Sein Kirchenrecht ist in sich völlig geschlossen und konsequent durchgeführt; wenn man die Prämisse zugibt, folgt alles andere von selbst. Diese Prämisse aber ist die Sohmsche Auslegung des Wortes: Wenn zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, so bin ich mitten unter ihnen, im Sinne rechtlicher Gleichwertigkeit aller Christen Versammlungen, solange sie eben über allen Abweichungen das Eine festhalten, daß sie überhaupt Christen sein wollen.

Ungleich gewichtiger als die rechtslogische ist die rechtssoziologische Kritik. Als ihre Vertreter darf man vor anderen zwei im übrigen so verschiedene Forscher wie Harnack und Troeltsch nennen. Harnack findet die Unrichtigkeit des Sohmschen Kirchenbegriffes darin begründet, daß die Kirche, wenn man mit Sohm alles Irdische von ihr abstreife, nur eine Idee sei, an die der Christ in seiner Vereinzelung glaube. Kirche aber


[28] 15) [S. 19] S. 317.
16) [S. 19] J.B. Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Bd. I4, Freiburg i.B. 1925, 11.

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sei Versammlung, sei etwas Gemeinschaftliches, und zwar auf Erden. Das Genossenschaftliche, Korporative könne auch vom sublimsten Begriff der Kirche nicht abgetrennt werden17). Troeltsch führt diese Kritik noch deutlicher ins Soziologische hinüber: Der Kirchenbegriff Sohms sei ein der Faßbarkeit entkleideter, in reinen religiösen Gemeingeist und rein innerliche Gemeinschaft aufgelöster Kirchenbegriff, also gar kein Kirchenbegriff, sondern der Begriff des religiösen, unfaßbaren Lebenszusammenhanges. Dieser Idealbegriff einer Kirche als einer lediglich durch das Wort sich selbst frei bildenden und regierenden Anstalt sei eine Utopie des Glaubens18). Zu diesen Kritikern darf auch Schönfeld gerechnet werden. Nach ihm stellt das Auftauchen einer abweichenden Lehre innerhalb einer Glaubensgemeinschaft diese vor die Wahl, entweder den Dissentierenden als Häretiker auszuschließen oder aber durch die Duldung der abweichenden Lehre auf die Bewahrung der eigenen Identität zu verzichten19).

Diese Angriffe gehören logisch zum Typ der Deductio ad absurdum. Dieser polemische Kunstgriff ist aber in den meisten Fällen nur ein Kunstgriff und ohne sachlichen Wert, denn eine logische Konstruktion, die ihren Namen verdient, hat schon selbst die Konsequenzen gezogen und bejaht. Wenn also Schönfeld seinen Gegner damit zu schlagen vermeint, daß die von Sohm geforderte Zulassung aller abweichenden Meinungen den Verzicht auf rechtliche Geschlossenheit der Kirche bedeutet, so muß darauf hingewiesen werden, daß Sohm ausdrücklich diese rechtliche Geschlossenheit und Einheit als durchaus unnütz und schädlich erklärt hat.

Die Deductio ad absurdum läuft bei soziologischen Thesen im Grunde immer auf eine Konfrontierung des angegriffenen Gedankens, in diesem Falle des Sohmschen Kirchenbegriffs, mit der Wirklichkeit hinaus. Harnack und Troeltsch sehen die Utopie Sohms darin, daß er entgegen allen Tatsachen der menschlichen Natur glaube, ein Gemeinschaftsleben der Christen


[28] 17) [S. 20] A. Harnack, Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den ersten zwei Jahrhunderten . . ., Leipzig 1910, 121-186: Urchristentum und Katholizismus („Geist” und Recht).
18) [S. 20] E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen = Ges. Sehr. Bd. I3, Tübingen 1923; vgl. das Register über die vielfachen Bemerkungen zu Sohm.
19) [S. 20] S. 77-78.

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ohne rechtliche Elemente aufbauen zu können. In der Wirklichkeit, so meinen sie, würde die nach den Ideen Sohms verfaßte Kirche keine Kirche, sondern ein Bündel von Parallelen sein, die sich erst in der Unendlichkeit schneiden. Nun ist es immer mißlich, gegenüber einem auf dem Willen aufgebauten Programm an die Gesetzmäßigkeit oder Trägheit oder wie man es nennen will der menschlichen Natur zu appellieren, weil darin eine Leugnung der menschlichen Freiheit liegt. Jedenfalls aber ist für das Sohmsche Kirchenprogramm der Beweis seiner soziologischen Möglichkeit sehr leicht zu erbringen. Sohm selbst hat mit aller nur wünschenswerten Klarheit den Anstaltsbegriff der Kirche abgelehnt und will die Kirche nur als Genossenschaft gelten lassen. Das heißt aber in den Termini der Soziologie: seine Christengemeinde ist keine Kirche, sondern eine Sekte. Was bedeutet das?

Die Möglichkeit der Sektenbildung ist erst durch die Entwicklung des modernen, paritätischen und toleranten Staates geschaffen worden. Heute steht es jedermann frei, nicht nur aus der Kirche auszutreten, wenn seine Überzeugung nicht mit der Kirchenlehre übereinstimmt, sondern auch eine neue Glaubensgemeinschaft zu gründen. Ist nun dadurch das christliche Gemeinschaftsleben aufgelöst worden? Ein Blick in die einschlägige Literatur20) bietet ein solch buntes Vielerlei von Sekten und zeigt bei ihnen so viel Kräfte auf, daß man sagen darf: Trotzdem die Christenheit — wohlverstanden: nicht die Kirche, sondern die Summe der Christen, das Wort im weitesten Sinne genommen, — trotzdem die Christenheit nicht mehr wie im Mittelalter rechtlich organisiert ist, ist doch das christliche Gemeinschaftsleben in keiner Weise dadurch aufgehoben worden. Das aber ist der Beweis dafür, daß Sohms Kirchenbegriff soziologisch sehr wohl möglich ist.

Diese Feststellung ist keineswegs eine Apologie der Sekten; sie soll auch nicht besagen, daß das Nebeneinander von Kirchen und Sekten das Ideal Sohms verwirkliche, sie soll nur betonen,


[28] 20) [S. 21] Vgl. z.B. W. Köhler, Wesen und Recht der Sekte im religiösen Leben Deutschlands = Aus d. Welt d. Religion ..., hrsg. von E. Fascher und G. Mensching. Religionswiss. Reihe H. 16, Gießen 1930.

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daß Harnack und Troeltsch Unrecht haben, wenn sie christliches Gemeinschaftsleben ohne rechtliche Bindung für unmöglich erklären. Der Fehler ihrer Argumentation liegt darin, daß die vom Standpunkt Sohms aus vorhandene Möglichkeit, daß ein jeder sich seine eigene Kirche zurechtmacht, eben nur eine logische, aber keine soziologische Möglichkeit ist. In der Wirklichkeit, auf die sie sich Sohm gegenüber berufen, zeigt sich im Gegenteil immer wieder, daß dem einzelnen, der eine eigene Auffassung des Christentums vertritt, eine mehr oder minder große Masse entspricht, die ihm folgt. Es möchte vielleicht gegen diese Verteidigung der soziologischen Möglichkeit des Sohmschen Kirchenbegriffs eingewendet werden, daß die Sekten in sich auch wieder rechtliche Struktur aufweisen und teilweise sogar eine recht scharfe Kirchenzucht üben. Aber dieser Einwand geht fehl. Zunächst braucht die Sekte nicht unbedingt rechtlich verfaßt zu sein, und vor allem wäre der Kern des vorgeführten Argumentes verkannt: das Recht der Sekte ist nur Konventionalregel, nicht Rechtsregel. Man kann sich jeder Sekte anschließen. Es bleibt also dabei: das Kirchenrecht Sohms ist gegen soziologische Kritik gefeit.

Dieses Ergebnis ist für Sohm sehr ehrenvoll. Sein Kirchenrecht hat sich als logisch und soziologisch unangreifbar erwiesen; das ist der beste Beweis für die Größe seiner Konzeption. Darum ist es auch nicht möglich, wie eine dritte Gruppe von Kritikern es tut, Sohms kirchenrechtliche Sätze für ein bestimmtes Gebiet der Kirchenverfassung anzunehmen und für ein anderes abzulehnen. Man muß sich entweder für oder gegen Sohm entscheiden: tertium non datur. Jacobi und Mayer, die schon erwähnten Herausgeber des Sohmschen Nachlasses, glauben ihn so verstehen zu sollen, daß die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche durch das Verhältnis von Leib und Seele erläutert werden kann21), und Stutz erweitert das dahin: die unsichtbare Kirche ist die Seele, die sichtbare Kirche ist der Körper, das Kirchenrecht ist sein


[28] 21) [S. 22] Vgl. Anm. 2.

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Kleid22). 5ie interpretieren dann Sohm dahin oder finden den berechtigten Kern seiner Ausführungen darin, daß er sich gegen die Einwirkung des Rechtes auf die Seele der Kirche wehre; an der Ordnung der äußeren Kirche möge sich menschliche Ordnungsweisheit versuchen, wenn sie nur jene Hauptsache nicht meistern wolle. Auf diesem Standpunkt steht auch Holstein, dessen Buch über die Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts wohl die bedeutendste Auseinandersetzung mit Sohm ist, die bislang erschien. Er beantwortet das von Sohm aufgeworfene Problem folgendermaßen: Die Bezogenheit der Rechtskirche auf das religiöse Zentrum, die Wesenskirche, bedeutet, daß jene diese nicht überwuchern darf, daß vielmehr die juristische Betrachtung überall dort aussetzen muß, wo die Wesens- und Geistkirche zu positiver Entfaltung des Christus-gegebenen Lebens kommt, daß also die Rechtskirche von der Geistkirche begrenzt und so in ihrer Gestaltung bestimmt wird23). Das ist nur eine unbildliche Formulierung des Stutzschen Standpunktes, und wie es scheint, hat sie Aussicht, die communis opinio aller evangelischen Theologen und Juristen zu werden, die nicht, wie etwa Foerster, Sohm völlig anerkennen.

Wenn man indes diese Formel Holsteins näher betrachtet, so darf man wohl sagen, ohne die seinem Buche geschuldete Achtung zu verletzen, daß sie im Grunde nur die Formulierung eines Problems, aber nicht seine Lösung ist. Denn es kommt ja gerade darauf an, wie nun diese Grenze zu finden ist, an der die juristische Betrachtung aussetzen muß, um nicht in den Bezirk der Geistkirche hinüberzugreifen. Vor allem aber: es ist nicht die Formulierung oder gar Lösung des Problems, das Sohm gestellt hat. Der Schnitt zwischen Geistkirche und Rechtskirche bedeutet eine Abgrenzung der beiden Kirchen auf gleicher, nämlich christlicher Ebene, und setzt die Aufspaltung der Kirche in eine sichtbare und eine unsichtbare voraus. Für Sohm dagegen ist die Kirche im Rechtssinn eine Konstruktion des öffentlichen Rechts, die auf alle möglichen


[28] 22) [S. 23] Vgl. Anm. 3.
23) [S. 23] S. 228.

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Kirchen und auch auf die Kirche im Glaubenssinn paßt, sei sie rechtlich organisiert oder nicht. Die Kirche im Glaubenssinn ihrerseits kann und muß eine Ordnung annehmen, eine Ordnung, die nicht an einer bestimmten Stelle Halt macht und sich um die Geistkirche legt wie die feste Schale eines Planeten um den ungeformten, feuerflüssigen Kern, sondern die alle Lebensäußerungen der Kirche im Glaubenssinn erfaßt und diszipliniert. Diese Ordnung kann jeden Inhalt haben, könnte sogar das katholische Kirchenrecht mit allen seinen Sätzen übernehmen, sofern sie nur die Freiheit des Christenmenschen nicht antastet. Das aber tut sie, wenn sie unbedingte Geltung beansprucht und auch die aus persönlicher Gewissensüberzeugung hervorgehende Abweichung als dogmatisch unzulässig verwirft. Sohm bekämpft das katholische Kirchenrecht nicht wegen seines Inhaltes, sondern wegen seines Anspruches, von Gott gesetztes und darum aus religiösen Gründen verbindliches und das Gewissen verpflichtendes Recht zu sein; all seine Sätze könnten gelten, wofern sie nur, den Rechtscharakter abstreifend, auf den Geltungszwang verzichteten. An der so formulierten These Sohms gehen die Ausführungen Holsteins vorbei.

Wenn man an diesem Punkte einen Augenblick innehält und zurückschaut, so mögen die bisherigen Ausführungen mehr als eine Apologie denn als eine Widerlegung Sohms erscheinen. In Wirklichkeit sind sie keines von beiden, sondern wollen nur eine exakte Darstellung seiner Lehre bieten. Dieser Darstellung fehlt, um vollständig zu sein, noch eine Voraussetzung Sohms. Für ihn ist die Einheit der Kirche im Glaubenssinn nicht gefährdet, wenn auch die Kirche im Rechtssinn auseinanderfällt. Da nun aber im Laufe der Geschichte innerhalb der Christenheit die verschiedensten Auffassungen des Glaubens vertreten wurden, kann Sohm die identische Fortdauer der Kirche im Glaubenssinn nur halten, wenn er in Glaubens- und Sittenüberzeugungen nicht das intellektuelle, sondern das

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voluntaristische Element für wesentlich ansieht. Das tut er in der Tat. Für die Sittenlehre steht er auf dem Standpunkt, daß es ganz unmöglich sei, die Sätze einer rein menschlichen Sittlichkeit auf Überzeugungen des geschichtlichen Christentums aufzubauen oder umgekehrt die natürliche Ethik zu einer christlichen Moral fortzuentwickeln; wie er einmal drastisch formuliert: der Begriff einer christlichen Ethik ist ebenso unvollziehbar wie der Begriff eines christlichen Schießgewehrs. Das Christentum bringt nach ihm, um es mit den Worten eines modernen evangelischen Theologen auszudrücken, Ethos, nicht Ethik24). Ebenso ist es mit dem eigentlichen Glauben. Für Sohm kommt es bei den Glaubenssätzen nicht auf die Begriffe an, die zu ihrer Bildung verwandt worden sind, sondern auf das Gefühl, den Willen, der sie trägt, oder, wie er sich prägnant ausdrückt: es muß immer Dogmatik geben, aber nie Dogmen. Kurz, er sieht das wesentliche Element des Glaubens im Willen, nicht im Intellekt; für ihn ist die fides, quae creditur, nichts, die fides, qua creditur, alles.

Und damit ist der Punkt erreicht, an dem der katholische Theologe zu Sohm Stellung nehmen kann und muß. Die ganzen bisherigen Erörterungen haben gezeigt, daß Sohms System in sich geschlossen und unangreifbar ist. Es wäre töricht, wollte man um Einzelheiten mit ihm rechten, die bei der Durchbildung seines Systems doch keine konstruktive Bedeutung haben. Wenn wirklich sein Kirchenrecht die Folgerung aus den evangelischen Grundsätzen über die Freiheit eines Christenmenschen ist — und auf diesen Nachweis waren die ganzen Ausführungen angelegt —, dann kann die Entscheidung für oder gegen Sohm nicht auf juristische, sondern muß auf theologische Erwägungen gestützt werden. Sohm betont häufig, daß die rein juristische Betrachtung des Kirchenrechtes keinen Wert hat; das grundlegende Axiom, das an der Spitze seines Kirchenrechts steht, verlangt, daß das Recht an den geistigen Mächten gemessen werde, die ihm erst Inhalt verleihen. Damit


[28] 24) [S. 25] M. Dibelius, Geschichtliche und übergeschichtliche Religion im Christentum, Göttingen 1925, 45.

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spricht er eine Erkenntnis aus, der die katholische Theologie dadurch Rechnung trägt, daß sie dem Kirchenrecht einen selbständigen Platz unter ihren Disziplinen einräumt. Leider vermißt man sie bei vielen Katholiken, die glauben, das Kirchenrecht mit Erörterungen über das Wesen des Rechts, etwa nach dem Schema summum ius summa iniuria oder weil es an die Stelle der Liebe den Zwang setze, diskreditieren zu können. Diese ablehnende Haltung gegenüber dem Kirchenrecht ist nur zu oft geboren aus Ressentiment. Man tut den von diesem Standpunkt aus geschriebenen kirchenrechtlichen Feuilletons zuviel Ehre an, wenn man glaubt, sie mit theoretischen Reflexionen widerlegen zu müssen. Die Verteidigung des Kirchenrechts gegen derartige Angriffe ist eine pädagogische, aber keine doktrinelle Angelegenheit. Diese Gegner des Kirchenrechts verkennen, daß die Entscheidung über Wesen und Wert des Kirchenrechts abhängt von der Auffassung, die man vom Wesen des Christentums hat.

Sohm dagegen hat mit imponierendem Scharfblick richtig gesehen, daß das Kirchenrecht nur um der Kirchenlehre willen besteht, daß es seine Aufgabe ist, die geschichtliche Form der Offenbarung zu wahren. Diese Fixierung des Glaubens ist für Sohm eine unerträgliche Belastung des Gewissens, und darum lehnt er das Kirchenrecht ab; die Kirche hat schon in ihren Anfängen den Riesenkampf gegen die Gnosis geführt, weil sie diese Bindung des Glaubens an die geschichtliche Offenbarung nicht aufgeben wollte, und hat diese Bindung immer wieder verteidigt, sie muß darum das Kirchenrecht bejahen. Der Glaube bestimmt den Kirchenbegriff, der Kirchenbegriff bestimmt das Kirchenrecht. Wer sich zur Glaubensüberzeugung Sohms bekennt, dem fällt es schwer, wie das Beispiel Holsteins zeigt, das Kirchenrecht zu begründen; der Katholik muß von seinem Glaubensstandpunkt aus, nicht um juristischer Überlegungen willen, Sohms Gedanken ablehnen und das Kirchenrecht anerkennen. Die Begründung dieser Haltung, die von

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der Kritik der historischen Thesen Sohms ausgehend das Wesen des Christentums als einer in einem Punkt der Geschichte verankerten Religion zu erweisen hätte, gehört nicht hierhin.

Damit ist das Resultat unserer Erörterungen gegeben. Sie laufen aus in eine Selbstbescheidung des Juristen zugunsten des Theologen. Es ist belanglos, ob man dieses Ergebnis für gering ansieht. Es ist das einzige, das sich gegenüber Sohm erzielen läßt, wenn man auf dialektische Kunststücke verzichtet, und bezeichnet zugleich den bleibenden Gewinn seiner Bemühungen um das Kirchenrecht. Dessen Aufbau verlangt die Hand des Juristen, seine Grundlegung kann nur der Theologe bringen. Der Zweck dieser Seiten ist erreicht, wenn sie gezeigt haben, daß das von Sohm gestellte Problem der Grundlegung des Kirchenrechts nicht in seinen, sondern vor seinen Ausführungen liegt.