Käsemann, E.

Sätze heiligen Rechtes im Neuen Testament

Genre: Literatuur

1965

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Sätze heiligen Rechtes im Neuen Testament *

 

Das so lange und heftig umkämpfte Problem des Rechtes im Neuen Testament scheint mir deshalb nicht in fruchtbarer Weise angefaßt zu sein, weil die Partner dieses Gespräches durchweg moderne Anschauungen und Verhältnisse für die Urchristenheit voraussetzen zu können meinten, gleichgültig ob sie deren Vorhandensein oder Fehlen konstatierten. Aber mit moderner Fragestellung ist diesem Problem nicht letztlich und zentral beizukommen. Das eben entnehme ich der Debatte, die in Deutschland hauptsächlich um die Thesen von Rudolf Sohms 1892 erschienener, aber noch heute bewegender und faszinierender Arbeit über das Kirchenrecht kreiste. Das Neue Testament selber bietet uns einen andern Ausgangspunkt. Denn es enthält in seinen verschiedensten Teilen merkwürdig gebaute Aussagen, die ich vorläufig noch möglichst umfassend Sätze heiligen Rechtes nenne. Was zu solcher Bezeichnung führt und durch sie ausgedrückt werden soll, wird im folgenden schrittweise erarbeitet. Das Gesamtproblem des Rechtes im Neuen Testament kann in einem kurzen Vortrag ohnehin nicht angemessen errötet werden. Daß die Möglichkeit und Notwendigkeit einer neuen Einsatzes in unserer Fragestellung exegetisch begründet und in seiner systematischen Konsequenz aufgewiesen wird, ist mein einziges Anliegen.

Ich beginne mit dem Worte 1. Kor. 3, 17: εἴ τις τὸν ναὸν τοῦ θεοῦ φθείρει, φθερεῖ τοῦτον ὁ θεός. Die seltsame Struktur des Satzes ist genau wie die seiner alsbald zu nennenden Parallelen meines Wissens kaum je beachtet worden, obgleich sie in die Augen springen müßte. Das gleiche Verbum umschreibt in dem Chiasmus des Vorder- und Nachsatzes menschliche Schuld und göttliches Gericht, um auf diese Weise sowohl die präzise Entsprechung beider Sachverhalte wie ihre unzerreißbare und jähe Folge zu charakterisieren. Offensichtlich wird hier das Jus talionis verkündigt: Den Verderber trifft das Verderben. Und gleichzeitig wird in unüberbietbarer Kürze und Deutlichkeit Gott als derjenige bezeichnet, der einem jeglichen nach seinen Werken vergilt.

Auch außerhalb der Neuen Testamentes sind Talio und Chiasmus gelegentlich gepaart worden. In Gen. 6, 9 heißt es: „Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.”


* Erstmals veröffentlicht in NTSt 1 (1954/5), S. 248/260. Nachdruck mit Genehmigung der Cambridge University Press. — Vortrag auf der 9. Generalversammlung der Studiorum Novi Testamenti Societas in Marburg am 8. September 1954.

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Entsprechend formuliert Aeschylos in den Choephoren 312f.: ἀντὶ δὲ πληγῆς φονίαν πληγὴν τινέτω. Daß beide Stellen unverkennbar den Gesetzesstil verwenden, ist ein weiteres Bindeglied zu 1. Kor. 3, 17 hin. Denn dort handelt es sich ja ebenfalls nicht nur um paränetische Warnung oder prophetische Drohung. So gewiß beides vorliegt, so deutlich unterscheidet sich unser Spruch von andern Warnungen und Drohungen nicht allein durch das Motiv der Talio, sondern auch durch seine Form, welche dem Vordersatz die Einleitung des kasuistischen Rechtssatzes εἴ τις, auswechselbar mit ἐάν τις oder ὃς δ᾽ ἄν im Sinne von „gesetzt den Fall, daß” gibt, um mit einer Strafankündigung zu schließen. Man könnte hier geradezu sich an die Verbotstafel vom Vorhof des herodianischen Tempels erinnert fühlen, die mit den Worten endet: ὃς δ᾽ ἄν λἠφθῃ, ἑαυτῷ αἴτιος ἔσται διὰ τὸ ἐξακολουθεῖν θἀνατον,1 und unsern Satz als Pendant dazu, nämlich als Inschrift über dem neuen göttlichen Heiligtum verstehen. Was ihn von den genannten Parallelen trennt, ist einzig dies, daß das hier verkündigte Gesetz nicht durch Menschen vollstreckt wird, sondern das Gesetz des göttlichen Handelns vom jüngsten Tage ist. Das Jus talionis ist, wie das Futur des Nachsatzes anzeigt, auf eschatologische Ebene verlagert, und das ist möglich, weil nach der zugrunde liegenden Anschauung der jüngste Tage unmittelbar bevorsteht. Wie das Vergehen Gottes eigenes Werk antastet, so ist der auf diese Weise Angegriffene nun nicht mehr bloß Quelle und Hüter irdischen Rechtes, sondern der seine Ehre selber Rächende und sein Recht in dem unmittelbar bevorstehenden Weltgericht Durchsetzende. Menschen dienen ihm dabei nur insofern, als sie den Maßstab seiner ἐκδίκησις bereits in der irdischen Gegenwart proklamieren. Freilich ist das nur denen möglich, welche als Charismatiker um solchen Maßstab des Richters wissen und ihn darum mit prophetischer Vollmacht verkündigen können. Dabei bezeugen sie nicht bloß das Nahen einer unaufhaltsamen Nemesis. Denn mag das von ihnen verkündigte Gericht alle Welt treffen, so werden darauf zunächst doch diejenigen angesprochen, die als Glieder der christlichen Gemeinde sich durch solche Zukunft qualifiziert und eben deshalb schon heute „im Angesichte Christi” als des Weltenrichters stehend wissen. Die Proklamation des Gesetzes, nach welchem Gott an seinem Tage handeln wird, bedeutet für sie, daß sie sich dereinst nicht entschuldigen können. Sie sind fortan mit ihrer Schuld behaftet. Die Verkündigung des Gerichts ist darum mehr als eine Androhung. In ihr vollzieht sich bereits ein Gerichtetwerden. Das Wort des Charismatikers, der in der Gemeinde den Maßstab des göttlichen Handelns vom jüngsten Tage aufdeckt, nimmt den Urteilsspruch des letzten


1 K. Galling, Textbuch zur Geschichte Israels, 1950, S. 80f.

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Richters vorweg. Der Zusammenhang unserer Stelle beweist jedoch, daß das eigenartig dialektisch geschieht. Denn es wird ja eben nicht das Tribunal des jüngsten Tages auf Erden inszeniert und Gottes eigenes Handeln überflüssig gemacht. Der Prophet gibt einzig die Sicht auf dieses Tribunal frei und stellt den Schuldigen damit in die Entscheidung und vor die Möglichkeit, dem ewigen Gericht zu entrinnen. Wer sich jetzt richten läßt, wird dem Gericht nicht endgültig verfallen Das durch den Charismatiker erfolgende Gericht steht noch im Dienst der Gnade, ist ein Extrem ihrer Darbietung und zielt, gerade indem es Gottes Recht auf Erden proklamiert, auf die Umkehr und Rettung der Schuldigen und die Bewahrung der Gemeinde.

Die theologische Analyse wird alsbald erneut aufgenommen und weitergeführt werden müssen. Doch gilt es zunächst einmal zu zeigen, daß sie der zugrunde gelegten Stelle nicht zu viel entnommen hat, sondern tatsächlich auf einer breiteren Basis zentraler urchristlicher Verkündigung ruht. Unverkennbar gehört, um vorerst bei Paulus zu bleiben, in den Rahmen des Besprochenen auch das Wort 1. Kor. 14, 38 hinein: εἰ δέ τις ἀγνοεῖ, ἀγνοεῖται. Die Ursprünglichkeit dieses Textes scheint mir unzweifelhaft. Wie das ἀγνοεῖτε in D ist das ἀγνοείτω in P45B Ksy eine begreifliche Korrektur. Der Sinn des seltsamen Passivs war nicht mehr deutlich. So wurde es paränetisch abgeschwächt bzw. dem dekretalen ἐπιγινωσκέτω des vorhergehenden Satzes angeglichen. Aber dieses Passiv umschreibt gut semitisch das göttliche Tun in seiner Auswirkung auf den Menschen. Wer nicht erkennt, wird von Gott nicht erkannt, d.h. verworfen. Wieder wird also die Talio aufgerichtet, welche die Strafe genau der Schuld entsprechen läßt. Wieder bezeugt Paulus als Charismatiker das Gesetz des letzten Richters vor einer Gemeinde, die in Gefahr steht, die Ehre ihres Herrn zu verletzen und die geistbestimmte Ordnung des Gottesdienstes zu zerstören. Wieder liegt mehr als bloß eine Warnung vor. Paulus hat in 1. Kor. 14 ja die Grundzüge einer Gottesdienstpraxis festgelegt. Wie er sich dafür auf den Geist und sein Pneumatikertum berief, so hat er es in jenem dekretalen Stil getan, der für Kirchenordnungen kennzeichnend werden wird. Es geht nun darum, daß erkannt und anerkannt werden muß, gerade der Geist schaffe solche Ordnung, ermögliche auch in der Gemeinde autoritatives Handeln und die Aufrichtung eines bestimmten Rechtes. Der wahre Pneumatiker muß und nur er kann das erkennen. Wer es nicht tut, ist eben nicht Pneumatiker und nicht der Erwählung teilhaftig, die sich im Geistbesitz bekundet. In der Vollmacht des Charismatikers wird also Wiede reine Entscheidung gefällt, an welcher die Geister sich scheiden und Menschen in den Horizont von Segen und Fluch treten. Das ἀγνοεῖται umschreibt drohend und proklamierend die Realität des Fluches und nimmt als Anrede etwas

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von dieser Realität vorweg. Weis es sich so verhält, tritt hier nicht zufällig das Präsenz an die Stelle des eschatologischen Futurs. Die ἀρχὴ θεοῦ des jüngsten Tages wird vom Apostel hier wie in Röm. 1, 18ff. als bereits die Gegenwart bestimmende und den Ungehorsam qualifizierende Macht herausgestellt.

Das Recht solcher Interpretation wird deutlich, wenn wir von da aus auf 1. Kor. 16, 22 blicken: εἴ τις οὖ φιλεῖ τὸν κύριον, ἤτω ἀνάθεμα. μαραναθά. Liebmann2 und G. Bornkamm3 haben uns diesen Satz als Bestandteil der Eucharistieliturgie verstehen gelehrt, in deren Eingang die Gemeinde zur Selbstprüfung aufgefordert wird. Sein Rechtscharakter geht nicht nur aus der folgenden Akklamation und der voraufgegangenen Handlung des hl. Kusses, sondern ebenso aus der Formulierung des kasuistisch gebauten Vordersatzes und dem ihn endenden Fluche hervor. Fluch und Segen sind für den antiken Menschen ja Handlungen, welche den privaten Raum überschreiten, das Leben total und öffentlich bestimmen und im Neuen Testament eschatologisches Urteil vorwegnehmen. Darin liegt nun auch der Unterschied zu den bisher besprochenen Stellen. Von Gottes richterlichem Tun und seiner Vergeltung redet der Nachsatz wiederum. Doch wird die Talio jetzt nicht mehr durch die Entsprechung des Verbums, sondern eben durch den Fluch ausgedrückt. Wie schon 1. Kor. 14, 38 solche Möglichkeit in unsern Blick rückte, so wurde dort auch der Sinn einer derartigen Variation sichtbar. Der Charismatiker warnt nicht bloß, sondern proklamiert die bereits gegenwärtige Macht des Richters, deren Antizipation vor dem jüngsten Tage im Dienst der Gnade steht, nämlich Raum zur Umkehr gewährt. Fast den gleichen Sachverhalt läßt Gal. 1, 9 erkennen: εἴ τις ὐμᾶς εὐαγγελίζεται παρ᾽ ὃ παρελάβετε, ἀνάθεμα ἔστω. Hier tritt nur noch stärker heraus, daß der Apostel als Repräsentant seines himmlischen Herrn die Vollmacht zu Segen und Fluch besitzt und sie als Funktion eines bestimmten Rechtes, nämlich des dem Christus selber über seine Gemeinde eignenden Rechtes, wahrnimmt. Was hat es nun aber mit diesem von uns behaupteten Recht auf sich?

Ich möchte das von 1. Kor. 5, 3ff. her klären. Es kann ja nicht bestritten werden, daß es hier um einen Rechtsvorgang geht, den der Apostel zugleich anordnet und vorwegnimmt. In aller nur wünschenswerten Präzision werden darum die Themata des Forums, des Verfahrens, der Strafe und ihrer Konsequenz wie ihres Sinnes abgehandelt. Freilich steht dieser Vorgang allem, was wir heute Recht nennen, sehr fern. Wohl wird das Zusammentreten der Gemeinde mit dem Terminus


2 Messe und Herrenmahl, 1926, S. 229.
3 Das Anathema in der urchristlichen Abendmahlsliturgie, Th.Lit.Ztg. 1950, Sp. 227.

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συνάγεσθαι bezeichnet, der technisch die Berufung und Versammlung des Demos ausdrückt. Aber wie dieses Zusammentreten in der christlichen Gottesdienstfeier geschieht, so kann man die Gemeinde nur sehr eingeschränkt Trägerin des Prozesses nennen. Im vorliegenden Fall hat sie, nachdem sie ihre Pflicht zunächst versäumt hat, offensichtlich einzig die apostolische Anordnung auszuführen. Sie würde jedoch, selbst wenn ihre Autoritäten die Initiative ergriffen hätten, als solche wohl bloß Akklamationsrecht besitzen. Denn Paulus nimmt ja nun die Rolle wahr, die anders etwa den Propheten zugefallen wäre. Auch er handelt aber nicht selbständig. Schon daß er persönlich gar nicht anwesend zu sein braucht, ist höchst charakteristisch. Worauf alles ankommt, ist dieses, daß durch das Zusammenwirken des Apostels und der Gemeinde der Geist, und das heißt der anwesende Herr selber handelt. Dessen Urteile sind eindeutig und bedürfen weder der Diskussion noch der Überprüfung, so daß von da aus die persönliche Abwesenheit des Apostels irrelevant wird und der Gemeinde einzig die Akklamation übrigbleibt. Wichtig ist nur, daß die Stimme des Geistes durch den Propheten oder Apostel überhaupt zu Gehör kommt und von der Gemeinde mit ihrer Akklamation bestätigt wird. Dem entspricht, daß auch keine Erwägungen über das Strafmaß stattfinden. Es gibt nur eine Strafe, nämlich die Überlieferung des Schuldigen an den Satan, die mit dem Ausschluss aus der Gemeinde identisch ist. Doch hätten wir die Pointe des Ganzen mißverstanden, wollten wir darin nur die Distanzierung von dem Sünder erblicken. Diese Strafe sieht ja nach der Anschauung unseres Textes ganz selbstverständlich den Tod des Schuldigen nach sich. Das hier praktizierte Gericht ist eben nicht in unserm modernen Sinne geistlich, so daß es nur die Innerlichkeit betrifft. Es steht nicht im Gegensatz zum leiblichen Gerichte, sondern schließt dieses in seinen Auswirkungen gerade ein. Begreiflich wird solcher Sachverhalt nur, wenn man sieht, daß die Übergabe an den Satan als καταργεῖσθαι ἀπὸ Χριστοῦ (Gal. 5, 4) das Gegenstück zur Taufe ist, die nach Kol. 1, 13 ihrerseits aus dem Bereich der Finsternis ausgliedert. Satan hat nach Hebr. 2, 14 die Gewalt des Todes inne, wie umgekehrt der Geist die Macht der Auferstehung ist und schon heute die neue Kreatur schafft und zu leiblichem Gehorsam beruft. Die idealistische Antithese zwischen Geistigem und Leiblichem kann Paulus unmöglich gerecht werden. Was wir geistig nennen, äußert sich für ihn gerade leiblich. Darum ordnet die Eingliederung in das Regnum Christi dem Bereich leiblicher Auferstehung zu und resultiert aus der Übergabe an das Regnum Satanae der leibliche Tod. Höchst seltsam muß uns schließlich auch das Ende unseres Stückes erscheinen. Die Übergabe an den Satan bedeutet zwar den Ausschluß aus der Gemeinde, aber keineswegs, daß man den Sünder

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einfach sich selbst überließe. Indem er dem Satan übergeben wird, gerät er nur auf andere Weise als bisher in die Hände seines Herrn, nämlich in den Bereich der ὀργὴ θεοῦ, und auch das sehr paradox zu dem Zwecke, daß er auf solche Weise vielleicht doch noch gerettet werde. Denn wer hier das Gericht erfahren hat, kann, falls er darüber zur Umkehr gelangt, vom ewigen Gericht verschont bleiben. Die Gemeinde scheidet vom Christusleib als dem Bereich der Gnade Gottes. Aber sie kann das Geschehen der Taufe nicht annullieren und das Recht ihres Herrn auf den in der Taufe von ihm Beschlagnahmten — das meint Paulus doch wohl, wenn er vom πνεῦμα spricht! — nicht einschränken. Im Gegenteil, sie gibt, gerade wenn sie in ihrem Handeln das Tun des Weltenrichters vorwegnimmt, dem Deus absconditus Freiheit, sein begonnenes Werk zu vollenden. Der Ausschluss aus dem Christusleib steht noch immer im Dienste des Heils, das sich als Gnade im Gericht offenbart.

Man macht sich die Dinge zu leicht, wenn man unsere Stelle einfach als Dokument der magischen Weltanschauung des Apostels bezeichnet. Ganz gleich, ob sie das ist oder nicht, darf sie jedenfalls nicht als für die paulinische Theologie bedeutungslos unterschlagen werden. Sie hat sogar zentrale Bedeutung. Denn wenn irgendwo, wird hier sichtbar, daß der Apostel unsere Antithesen von Geist und Leib, Gericht und Gnade, dem himmlischen Christus und dem auf Erden durch seinen Geist und dessen Werkzeuge wirkenden Herrn, vor allem jedoch von Geist und Recht nicht teilt. Für ihn gibt es tatsächlich ein in der Gemeinde zu praktizierendes Recht, obgleich es mit den Formen des Rechtes, die wir voraussetzen und handhaben, so gut wie nichts zu tun hat. Es ist sicher ein elementarer Unterschied auch zu dem, was wir im späteren Griechentum und Judentum beobachten können, daß die früheste Christenheit kein Vereins-, Verwaltungs-, Disziplinarrecht besitzt und daß in ihr nicht einmal von einem Sakralrecht die Rede sein kann. Das gezeigt zu haben, bleibt das nicht zu schmälernde Verdienst Sohms, der daraus nur die falsche Folgerung zog, die Urchristenheit habe überhaupt kein Recht besessen und ihre charismatische Ordnung müsse jeder rechtlichen entgegengestellt werden. Solange man seine Fragestellung und ihre Voraussetzungen teilt, wird man ihn nicht widerlegen. So sind denn die Ergebnisse seiner Gegners auch dürftig und unbefriedigend geblieben. Wenn man das in 1. Kor. 5 zweifellos begegnende Recht bestimmen will, muß man in andern Kategorien als denen des Sakral- und Disziplinarrecht denken, genauer in denen, die uns religionsgeschichtlich aus der Sphäre des Ordals vertraut sind. Es geht um ein Gottesrecht, in welchem Gott selber der Handelnde bleibt, und das, sofern Gott es durch Charismatiker verkünden und vollziehen läßt, auch charismatisches Recht

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genannt werden mag. Das für die Urchristenheit Charakteristische aber ist die Bezogenheit auf das jüngste Gericht, also seine eschatologische Orientierung. Der vor der Tür stehende Weltenrichter begründet das hier ins Auge gefaßte Recht und seine Eigenart, das damit zu einer Funktion des Geistes wird. Es ist einer der folgenschwersten Irrtümer der Liberalismus, daß er Geist und Recht voneinander schied. Da Paulus beide einander zuordnet, mußte von da aus die ganze paulinische Theologie modifiziert werden. Jedenfalls können wir jetzt die eigenartigen Rechtssätze, von denen wir ausgingen, einem größeren Zusammenhang einfügen. Das durch Charismatiker vermittelte eschatologische Gottesrecht ist ja auch dadurch bestimmt, daß es irdisch an das alleinige Medium des Wortes gebunden bleibt und sich einig in der Proklamation dieses Wortes vollzieht. Das hebt umgekehrt dieses Wort aus der Sphäre bloßer Mitteilung heraus und erklärt die von uns beobachtete sorgfältige Stilisierung, zu welcher besonders die Einrichtung im Gesetzesstil gehört. Wer es vernimmt, wird dadurch gerichtet oder begnadigt und verfällt dabei immer der darin handelnden Gottesmacht.

Man könnte, selbst wo dem bisherigen Ergebnis zugestimmt werden sollte, einwenden, daß die analysierte Aussagengruppe doch verschwindend gering sei und ihre Überbetonung ein falsches Verständnis des Ganzen erzeuge. Das Gewicht dieses Einwandes läßt sich tatsächlich nicht derart abschwächen, daß man einige weitere Beispiele den früher genannten noch anfügt. Wohl heißt es in 2. Kor. 9, 6: ὁ σπείρων φειδομένως φειδομένως καὶ θερίσει, καὶ ὁ σπείρων ἐπ᾽ εὐλογίαις ἐπ᾽ εὐλογίαις καὶ θερίσει. Und Röm. 2, 12 stellt fest: ὅσοι γὰρ ἀνόμως ἥμαρτον, ἀνόμως καὶ ἀπολοῦνται. Doch werden diese Stellen für uns nur deshalb bedeutsam, weil in ihnen das Schema des Rechtssatzes abgewandelt nun in paränetischer Argumentation auftaucht. Der erste Spruch enthält zwar alle Einzelmerkmale des Schemas, ist im ganzen jedoch und zumal in seinem Zusammenhang bloß eine Sentenz. Das gilt für den zweiten noch viel mehr, sofern dort der Chiasmus rein rhetorisch verwandt wird und nicht mehr auf eine wirkliche Talio hinweist. Gleichwohl ist es nicht belanglos, daß Elemente des ursprünglichen Rechtssatzes in die Paränese übernommen werden. Darin bekundet sich, daß der dem Menschen gegenüber erhobene Anspruch seine Tiefe und Weite durch jenen Herrn erhält, dessen Gnade im Zeichen der Durchsetzung seines Rechtes auf Erden steht, darum im christlichen Gehorsam ihr Korrelat findet und die so häufig von Paulus betonte Vergeltung nach den Werken gerade nicht ausschließt, sondern begründet und ermöglicht. Sohms Formulierung „Liebes-, nicht Rechtspflicht” erweist sich diesem Tatbestand gegenüber als absolut unzulänglich und irreführend.

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Besonders klar tritt das im Bereich der apostolischen Gemeindeordnung zutage, für welche solche Sätze wie 1. Kor. 14, 13, 28, 30, 35, 37 charakteristisch genannt werden dürfen. Hier ist nicht mehr von Schuld und Strafe die Rede, sondern, durch ἐάν oder ein gleichwertiges Partizip eingeleitet, eine Eventualität gottesdienstlichen Handelns herausgestellt, auf die dann im dekretalen Jussiv die paulinische Regelung des Falles folgt. Der eschatologische Aspekt tritt also nicht mehr in Erscheinung. Gleichwohl darf man nicht sagen, er sei nicht vorhanden. 1. Kor. 14, 38 beweist ja, daß eben die hier gefällten Entscheidungen des Apostels unter den Schutz des Gottesrechtes gestellt werden. Gerade über ihnen heißt es: Wer nicht anerkennt, der ist verworfen. Die Wahrung dessen, was wir Ordnung nennen und Paulus nicht zufällig statt dessen als εἰρήνη bezeichnet, ist eine Angelegenheit, mit welcher der jüngste Tag sich befassen wird. Steht darin doch Bestand und Wirksamkeit des Christusleibes auf dem Spiel. Im Horizont des eschatologischen Rechtes fällt der Apostel seine Entscheidungen über dem Gemeindeleben. Auch über ihnen könnte es wie in Act. 15, 28 heißen: „Es hat dem heiligen Geiste und uns gefallen.” Paulus bringt das selber in 1. Kor. 14, 37 zum Ausdruck: εἴ τις δοκεῖ προφήτης εἶναι ἢ πνευματικός, ἐπιγινωσκέτω ἅ γρᾶφω ὑμῖν ὅτι κυρίου (ἐστὶν ἐντολή). Der Geist gibt nicht der Willkür freie Bahn, sondern setzt feste Ordnung als Auswirkung und Bestandteil heiligen Rechtes. Er tut das freilich nicht so, daß er eine unverbrüchliche Organisation schafft, die nach einer beherrschenden Idee gegliedert ist. Dann stände der Mensch im Dienst der Institute. Wohl aber schenkt der Geist Einsicht in das jeweils von der Situation Geforderte und setzt damit der Individualität unüberschreitbare Grenzen durch die Aufrichtung des νόμος Χριστοῦ. Die Anordnungen des Apostels besitzen also Gültigkeit und Notwendigkeit nicht kraft eines Systems vorgegebener und objektiver Werte, die das Leben regulieren, aber sie sind auch nicht auf den guten Willen der Hörer angewiesen, so daß die Liebe einzig die Schranke der Willkür wäre. Dialektisch wird zugleich an die Einsicht der Gemeinde appelliert und über den Ungehorsam der Fluch verhängt. Vom heiligen Geist wird wirklich dekretiert. Die Einsicht der Hörer ist nicht Voraussetzung und Grenze des Gehorsams. Und doch werden diese Dekrete nicht aus formaler Rechtsgewalt erlassen. Nicht bloß der Gehorsam, sondern die Einsicht in dessen Notwendigkeit ist gefordert, und Unverstand wird mit dem Fluch belegt. Gott überläßt dem Menschen nicht zu tun, was ihm gutdünkt, er bindet die Herzen härter, als ein Gesetzgeber es je getan hat. Aber er bindet sie nicht an ein Programm und System und begnügt sich nicht mit leiblich-äußerlichem Gehorsam, sondern beansprucht uns als die Verstehenden und Liebenden, wo er befiehlt. Sein Recht dekretiert die

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totale Hingabe der Freien und ist darin Recht und Gesetz, daß es Widerstand unter den Fluch stellt, und ist darin Geist, daß es den sehenden Gehorsam ermöglicht. Seine Dekrete sind sakrosankt und können nicht problematisiert werden. Aber nur die verstehende Liebe erfüllt sie wirklich. Die Liebe ist hier also nicht Ersatz des Rechtes, sondern  seine Radikalisierung. Sie beschlagnahmt mit dem Leibe zugleich Einsicht und Herz.

Weil es sich so verhält, tritt der Apostel seinen Gemeinden gegenüber nicht zuletzt als Gesetzgeber auf, wie gerade der 1. Kor. aufs deutlichste zeigt. Die Pastoralen haben dann diese Form apostolischer Tätigkeit ausschlaggebend werden lassen. Paulus ist hier fast nur noch derjenige, der kraft seiner Autorität Gemeindeordnung begründet und ein neues kirchliches Recht setzt. Dabei wird die so erlassene Ordnung noch auf den Geist zurückgeführt und Paulus als charismatisches Werkzeug dieses Geistes verstanden. Aber der Geist ist jetzt die Macht der heiligen und apostolischen Tradition, der als solcher Gehorsam gebührt, während er für Paulus selber die Macht des als Herr und Richter der Gemeinde begegnenden Christus war. Das besagt jedoch, daß die Weise seiner Aneignung beide Male verschieden ist. Auch Paulus verlangt den unbedingten Gehorsam, wie umgekehrt die Pastoralen die notwendige Einsicht voraussetzen. Aber solche Einsicht ist nun die Anerkennung der Überlieferung, nach der man angetreten ist und der man sich deshalb zu unterwerfen hat, das Wissen um die bindende Vorgegebenheit des kirchlichen Institutes und seiner Einrichtungen. So kommt es jetzt zu den Anfängen des kirchlichen Verwaltungs- und Disziplinarrechtes, dessen Kennzeichen das Verblassen der eschatologischen Orientierung, die Ersetzung der Christusgegenwart durch die Christusüberlieferung und damit die Verschiebung im Verhältnis von Situation und historischer Kontinuität ist. Umgekehrt wurzelt dieses neue kirchliche Recht unverkennbar in dem heiligen Recht der Urzeit und bestätigt damit auch seinerseits dessen Rechtscharakter. Das Recht hat jetzt nur eine andere Ausrichtung, wenn man will, ein anderes Koordinatensystem erhalten. Recht ist nicht mehr Funktion des Geistes, sondern Geist ist Garant und sanktionierende Instanz des Rechtes.

Doch mag es genügen, so mit kurzen Strichen die Entwicklung in die Folgezeit hinein skizziert zu haben. Wichtiger ist für uns die Frage, wer Paulus den Weg zu seinen Anschauungen geebnet hat. Apc. 22, 18f. geben uns darauf eine erste Antwort. Der Apokalyptiker greift hier auf die bekannte jüdische Kanonisationsformel zurück, welche sich auf Dt. 4, 2 stützt und verbietet, irgend etwas hinzuzufügen oder abzustreichen. Der Rechtscharakter unserer Stelle steht also außer Frage. Neu ist auch nicht der im Nachsatz angehängte Fluch. Das Judentum

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kennt ihn ebenfalls schon. Wohl unterscheidet unser Text sich jedoch von seinen jüdischen Parallelen durch die Formulierung dieses Fluches in der zuerst zu 1. Kor. 3, 17 beobachteten Weise des eschatologischen Jus talionis: ἐάν τις ἐπιθῇ ἐπ᾽ αὐτά, ἐπιθήσει ὁ θεὸς ἐπ᾽ αὐτὸν τὰς πληγὰς … und entsprechend: ἐάν τις ἀφέλῃ ἀπὸ τῶν λόγων τοῦ βιβλίου τῆς προφητείας ταύτης, ἀφελεῖ ὁ θεὸς τὸ μέρος αὐτοῦ ἀπὸ τοῦ ξύλου τῆς ζωῆς. Hier wird sichtbar, daß die prophetische Verkündigung der ursprüngliche Sitz im Leben für derartige Sätze ist. Von dort hat Paulus sie aufgegriffen, wie er sich anderswo der Mittel des Lehrers oder des Apokalyptikers bedient. Man wird diese Feststellung noch dadurch präzisieren dürfen, daß man ergänzt, mit solcher Sprechweise würde die Form bestimmter alttestamentlicher Aussagen nachgeahmt und weitergebildet. Es mag genügen, zum Beweis dafür an drei Pauluszitate zu erinnern, nämlich an Röm. 10, 11: πᾶς ὁ πιστεύων ἐπ᾽ αὐτῷ οὐ καταισχυνθήσεται, Röm. 10, 13: πᾶς γὰρ ὃς ἅν ἐπικαλέσηται τὸ ὄνομα κυρίου σωθήσεται, Gal. 3, 12: ὁ ποιήσας αὐτὰ ζήσεται ἐν αὐτοῖς. Hier wird klar, daß die heilige Schrift den urchristlichen Propheten die Stilform lieferte, in welche sie ihre Sätze heiligen Rechtes kleiden konnten. Sie konnten es um so mehr, als für sie in diesem Buche Gott selber sein Recht kundgetan hatte.

Das gewonnene Ergebnis wird durch synoptisches Material noch erhärtet. Genau die Struktur, die uns bisher immer wieder beschäftigt hat, charakterisiert auch Mk. 8, 38: ὃς γὰρ ἐὰν ἐπαισχυνθῇ με καὶ τοὺς ἐμοὺς λόγους … καὶ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἐπαισχυνθήσεται αὐτόν. Daß es sich dabei nicht bloß um Drohung oder Warnung handelt, sondern um die Proklamation des Rechtes vom jüngsten Tage, also um einen Sachverhalt, der weniger in den Bereich der Paränese als des Segen und Fluches gehört, wird von Matthäus so unterstrichen, daß er an der entsprechenden Stelle des Mk.-Aufbaues in 16, 27 das Kommen des Menschensohnes und die Botschaft von der Vergeltung nach den Werken bezeugt. Seine Variante ist nötig, weil er das Logion selber in kunstvoller Antithese schon in 10, 32f., also einem Zusammenhang durchweg prophetisch bestimmter Verkündigung, gebracht hat: πᾶς οὖν ὅστις ὁμολογήσει ἐν ἐμοὶ ἔμπροσθεν τῶν ἀνθρώπων, ὁμολογήσω κἀγὼ ἐν αὐτῷ ἔμπροσθεν τοῦ πατρός μου τοῦ ἐν τοῖς οὐρανοῖς. ὅστις δ᾽ ἂν ἀρνήσηταί με ἔμπροσθεν τῶν ἀνθρώπων, ἀρνήσομαι κἀγὼ αὐτὸν ἔμπροσθεν τοῦ πατρός μου τοῦ ἐν τοῖς οὐρανοῖς. Jedenfalls ist diese Mt.-Form darin ursprünglicher als die des Markus, als das Verb ἐπαισχύνεσθαι bei Mk. eine gräzisierte und vielleicht nachpaulinische Modifikation des semitischen ὁμολογεῖν und ἀρνεῖσθαι darstellt und die Entscheidung gegenüber dem Menschensohn älter sein dürfte als die gegenüber dem Evangelium. Umgekehrt wird man aus dem gleichen Grunde die Ich-Aussage des Mt. im Nachsatz der Menschensohnprädikation des Mk. gegenüber für sekundär halten. Geht schon aus diesen Modifikation hervor,

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daß das Wort in seiner jetzigen Fassung weder bei Mk. noch bei Mt. auf Jesus selbst zurückgeführt werden kann, so bestätigt das der Inhalt, der das Bekenntnis zu dem Christus als Kriterium des jüngsten Tages wertet, und ebenso die Form des Satzes. Prophetie verkündet Segen und Fluch über den Bekennenden und Verleugnenden in der Gemeinde, indem sie das eschatologische Jus talionis in ihr aufrichtet. Sie tut es genauso in den Worten Mt. 6, 14f., wo Vergebung an unser Vergeben gebunden wird, Mk. 4, 24f., wonach wir selber uns das Maß des göttlichen Gerichtes bereiten, und höchst kennzeichnend in Mt. 5, 19 wo die Auflösung des kleinsten Gebotes mit dem Kleinsein in der Gottesherrschaft bedroht wird. Freilich ist der Ertrag an streng nach dem von uns aufgefundenen Schema gebauten Sätzen geringer, als man zunächst erwartet. Das will beachtet und erklärt werden.

Wenn die bisherige Analyse zutrifft, so haben wir es hier mit ältestem Gut zu tun. Es gehört einem Stadium der Entwicklung an, das zur Zeit unserer Evangelien schon weit dahinten liegt, genauer der in apokalyptischer Naherwartung stehenden nachösterlichen Gemeinde, die von Propheten geleitet wird. Nur hier hat man auf die Gestaltung eines Rechtes der kirchlichen Organisation im Sinne des Verwaltungs-, Disziplinar- und Sakralrechtes verzichten können, um dem Weltenrichter selber und allein die Vergeltung zu überlassen, nur hier in Jesus den wiederkommenden Menschensohn gesehen, nur hier auch im Kampf um die Geltung des mosaischen Gesetzes nach allen seinen Teilen gestanden. Im gleichen Maße, wie die kirchliche Organisation sich festigt und die Naherwartung ihren glühenden Atem verliert, wird jenem eschatologischen Gottesrecht, von dem wir gesprochen haben, notwendig der Boden entzogen. Erhalten bleiben nur solche Fragmente, die man paränetisch, sei es zu dogmatischen oder ethischen Zwecken, verwenden konnte. Von da aus verwundert es nicht mehr, daß die hier betrachtete Stilform in den späteren Schriften des Neuen Testaments so gut wie verloren ging. Selbst Mt. bildet keine Ausnahme. Für ihn ist ja ein antienthusiastisches Ressentiment kennzeichnend, das den Lehrer und christlichen Rabbi die Tätigkeit urchristlicher Prophetie mehr verdecken als aufweisen läßt. So sind die von ihm gesammelten und erhaltenen Gemeindeordnungen ja auch dadurch bestimmt, daß sie entstehende Schwierigkeiten weithin kasuistisch regeln. Immerhin wird man zu sehen haben, daß nicht nur die Gemeindeordnung bei ihm ein unverhältnismäßig großes Gewicht besitzt, sondern ihre Sätze weithin auch durch eine Einleitung im kasuistischen Gesetzesstil und durch eine darauffolgende Verheißung oder Drohung im eschatologischen Futur bestimmt sind. Darauf im einzelnen jetzt einzugehen, würde mich die mit verfügbare Zeit allzusehr überschreiten lassen. So weise ich hier nur auf den

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Sachverhalt als solchen hin und bemerke dazu, daß ich in ihm die Übernahme und Modifikation des prophetischen Erbes durch den christlichen Rabbi konstatiere. Das durch Charismatiker verkündigte eschatologische Gottesrecht hat die älteste Gemeinde aufs stärkste charakterisiert, und es ist zum Ausgangspunkt für alle spätere Gemeindeordnung und das Kirchenrecht selber geworden.

Das verbleibende historische Problem betrifft die eigenartige Verbindung von Prophetie und Recht. Wie ist es zu ihr gekommen? Auch hier muß ich mich damit begnügen, mehr die Frage zu fixieren als eine hinreichende Antwort darauf zu erarbeiten. Sicher scheint mir jedoch zu sein, daß die sehr rasch in Palästina wie später auf dem heidenchristlichen Gebiet vom Lehrstand abgelöste Prophetie nicht nur die Aufgabe wahrnahm, die Parusiehoffnung in der Gemeinde wachzuhalten und die von Verfolgung betroffenen Christen eben damit zu trösten. Sie hat auch die Angefochtenen in den Stand ihrer Berufung weisen, mahnen, waren, strafen müssen. Sie hat das getan, indem sie Gottes vergeltendes Handeln am jüngsten Tage proklamierte. Die Stilform, in Teer sie das tun konnte, wurde ihr vom Alten Testament her angeboten, nämlich in jenen Sätzen, weiche auf eine irdische Bedingung im eschatologischen Futur Verheißung oder Drohung, Segen oder Flucht folgen lassen. Die Johannes-Apokalypse läßt uns solche Aufgabe und wie beispielsweise in den Überwindungssprüchen der Sendschreiben auch die dabei benutzten Stilmittel noch deutlich erkennen. Es ist also die gemeindeleitende Funktion der Prophetie, welche sich in den Sätzen heiligen Rechtes äußert. Sie wird sich allerdings kaum in Jerusalem haben entfalten können, da dort die starke Gemeinde sehr früh eine festere Organisation unter den Aposteln und einem Presbyterium notwendig machte. Gemeindeleitende Funktion kann die Prophetie nur in den kleinen Gemeinden Palästinas besessen haben, wo die bedrängten Gläubigen sich um einen Charismatiker scharen mußten. Lohmeyers Scheidung zwischen Jerusalem und Galiläa könnte so modifiziert und von einem andern Ansatz aus erneut bedeutungsvoll werden. Wie immer es jedoch damit stehe, der eigentliche Sitz im Leben für jenes eschatologisches Gottesrecht ist dort, wo urchristliche Prophetie das messianische Gottesvolk so „richtet”, wie es einst die alten Propheten Israel gegenüber getan haben.

Ich kann nicht schließen, ohne den historischen Befund auch systematisch auszuwerten. Wieviel an meiner Analyse immer problematisch erscheinen mag, das Vorhandensein von Sätzen heiligen Rechtes im Neuen Testament dürfte sich schwerlich bestreiten lassen. Damit fällt jedoch eine grundlegende Anschauung des Liberalismus in sich zusammen: In der frühesten Christenheit sind Geist und Recht nicht geschieden. Der Geist setzt hier Recht, und daß er es tut, ist konstitutiv

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für ihn. Der Geist ist die Macht, welche Gottes Recht auf Erden im Wort der Verkündigung proklamiert, mit dem Handeln des Weltenrichters am jüngsten Tage begründet, und im neuen Gehorsam des Christen verwirklicht. Daß es sich dabei um ein Recht besonderer Art ahndet, das unserm modernen Rechtsbegriff durchaus fremd erscheinen muß, ist mehrfach mit Schärfe betont worden. Aber es ist ein Präjudiz und ein Irrtum, wenn man als Recht allein anerkennt, was unter diesen modernen Begriff subsumiert werden kann. Die Religionsgeschichte und zumal die Exegese des Alten Testamentes weisen uns auf ein Gottesrecht, das in der Form des Ordals noch die europäische Geschichte lange begleitet hat. Es hat auch im Neuen Testament seinen Platz, ehe es in den Anfängen schon dort vom Recht der kirchlichen Organisation abgelöst wird.

Aber was bedeutet es, daß dieses Recht als die früheste Christenheit bestimmend anerkannt werden muß? Doch wohl dieses, daß Gott selber bzw. Christus als der Offenbarer die Gemeinde leitet und richtet. Darin daß er es tut, erweist er seine Gerechtigkeit. Denn mit seinem Recht setzt Gott seine Gerechtigkeit auf Erden durch. Man wird dann von einer Polarität zwischen Gnade und Recht sprechen müssen. Die Gnade ist die Macht Gottes, die Heil schafft, und das doch so, daß Gott Herr und Richter bleibt und Recht behält. Das Recht ist die Macht dessen, der sein Reich unter Rebellen aufrichtet, und Ausdruck dessen, daß Gott nicht Heil schafft, ohne eben damit seine Herrschaft zu verwirklichen. Daß Gott Gott bleibt, selbst wenn er uns gnädig wird, und alle Gnade uns zum Gehorsam führt, das hat die früheste Christenheit bewogen, Geist und Recht zu verbinden. Sie hat umgekehrt auch nicht das Recht von Gottes Heilshandeln gelöst. Noch sein Gericht steht im Dienst seiner Gnade, wie wiederum die Johannes-Offenbarung aufs eindrücklichste bezeugt. Denn daß Gott Herr ist und werden will, läßt sich nicht davon trennen, daß er uns in die Kindschaft ruft. Auch sein Zorn bekundet den Willen dessen, der uns nicht aufgegeben hat.

Der Unterschied dieses heiligen Rechtes im Neuen Testament zum späteren Kirchenrecht liegt darin, daß die Urchristenheit das in ihr geltende Recht als Begründung des Gehorsams verstand. Nicht die Ordnung als solche und in formalem Sinne, sondern die inhaltlich bestimmte Ordnung des rechten Verhältnisses zwischen Schöpfer und Geschöpf ist das Ziel des Rechtes und darum in 1. Kor. 14, 33 als εἰρήνη der ἀκαταστασία entgegengesetzt. Darum ist dieses Recht auf den jüngsten Tag ausgerichtet und von ihm her begründet. Darum sind Menschen zwar seine Werkzeuge, aber nicht seine Exekutoren. Was wir Kirchenrecht nennen, entsteht durch eine Verkürzung, bei welcher die anthropologische Tiefe durch die soziologische Ausdehnung

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in den Schatten gestellt wird. Recht gestaltet jetzt nur noch das Leben in der Gemeinschaft und erhält darum sein Kriterium an einem Ordnungsbegriff, der an dem Bestand der Gemeinschaft orientiert ist. Daß auch dieses Gemeinschaftsrecht weiter als Gottesrecht verstanden wurde, ist selbstverständlich. Gleichwohl hatte sich die Sicht verschoben. Der Geist ist nun nur insofern die Kraft des Gehorsams, als er in der Gemeinde Ordnung schafft. Und die Gemeinde wacht über dieser ihrer Ordnung, indem sie nicht mehr bloß das Wort verkündigt, sondern zugleich pädagogisch und disziplinär das Zusammenleben ihrer Glieder regelt. Das erfordert eine neue Kasuistik, die durch Sachverständige gehandhabt wird. Der Bereich des heiligen Rechtes ist damit verlassen. Die Anfänge solcher Entwicklung lassen sich bereit im Neuen Testament beobachten, und es ist eine lohnende Aufgabe, sie genauer herauszustellen. Doch sollte hier nur der Ausgangspunkt fixiert werden.


Käsemann, E. (1965b)

  • Sätze heiligen Rechtes im Neuen Testament