Käsemann, E.

Amt und Gemeinde im Neuen Testament

Genre: Literatuur

1965

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Amt und Gemeinde im Neuen Testament *

 

Eine Aporie steht auch bei unserm Thema1 am Anfang der Erkenntnis: Das NT hat merkwürdigerweise keinen technischen Begriff für das, was wir als kirchliches Amt zu bezeichnen pflegen, obgleich es ganz unbefangen von dem Amt und den Funktionen der weltlichen Obrigkeit und des alttestamentlichen Priestertums spricht und sogar eine Vielzahl kirchlicher Ämter und Funktionen benennt. Erscheint gelegentlich in der Lutherbibel das Wort „Amt”, so findet sich dafür im Urtext gewöhnlich „Diakonie”. Das ist symptomatisch: Dem technischen Amtsbegriff, der sich etwa in den Worten λειτουργία, τιμή, ἀρχή hätte ausdrücken lassen, scheint das NT geflissentlich auszuweichen, weil damit ein Herrschaftsverhältnis vorausgesetzt und anerkannt werden müßte, das in der Ordnung der Kirche keinen Platz hat, ja etwa in Mt. 20, 25f.; 23, 11; 1. Kor. 3, 5 und 1. Petr. 5, 3 der Polemik gegen Herrschaftsansprüche und Machtpositionen in der Gemeinde unterliegt. Von da aus will ein Sachverhalt begriffen werden, dem die Auslegung nur selten einigermaßen nahegekommen ist, obwohl er zu den neutestamentliche Verkündigung charakterisierenden Phänomenen gerechnet werden muß: Während es im NT kein wirkliches Äquivalent für unsern heutigen kirchlichen Amtsbegriff gibt, findet sich doch in der paulinischen und unmittelbar nachpaulinischen Theologie ein Begriff, der Wesen und Aufgabe aller kirchlichen Dienste und Funktionen theologisch präzis und umfassend beschreibt, nämlich Charisma. Das Gewicht dieses Begriffes für das Verständnis nicht nur der paulinischen Lehre von der Kirche, sondern der gesamten Theologie des Apostels tritt damit zutage, daß wir mit größter Sicherheit behaupten dürfen, erst Paulus habe ihn technisch gebraucht und in die theologische Sprache


* Bisher unveröffentlicht.
1 Der zuerst am 13. 10. 1949 vor alten Marburgern in Herborn gehaltene Vortrag verzichtet auf eine Auseinandersetzung, die nur im Rahmen einer Monographie möglich wäre. Der grundsätzliche Widerspruch zu den von H. Schlier etwa in seinem Aufsatz „Über das Hauptanliegen des 1. Briefes an die Korinther”, EvTheol 1948/49, S. 462ff. vertretenen Voraussetzungen und Ergebnissen wird ohnehin ebenso deutlich sein wie die weitgehende Berührung mit der Darstellung des Problems durch E. Schweizer, Das Leben des Herrn in der Gemeinde und ihren Diensten, ATANT 8, 1946, und durch die Tübinger Dissertation von F. Grau, Der neutestamentliche Begriff Charisma, seine Geschichte und seine Theologie, 1946. Doch ist meine Auffassung aus der exegetischen Arbeit erwachsen, noch ehe ich die vorhandene Literatur kennenlernte.

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eingeführt2. Schon das allein läßt zugleich erwarten, daß sich mit diesem Begriff eine kritische Anschauung gegenüber andern urchristlichen Ansichten vom Verhältnis zwischen Amt und Gemeinde meldet, die eben nur mit neuer Terminologie dargestellt werden kann. Liegen die Dinge aber wirklich so, dann wird nicht nur ein historischer Sachverhalt, sondern eine theologische Problematik sichtbar werden, wenn ich im folgenden mein Thema vom paulinischen Charisma-begriff her anfasse und die Notwendigkeit des Einsatzes gerade von diesem Ausgangspunkt her zu erweisen versuche.

„Das Charisma Gottes ist das ewige Leben in Christus Jesus unserm Herrn”, sagt Röm. 6, 23. Charismen gibt es nur, weil es dieses eine Charisma gibt, auf das alle andern sich beziehen, und allein dort, wo in der eschatologisch aufgerichteten Herrschaft Christi die Gabe des ewigen Lebens erscheint. „Gnadengabe” ist deshalb eine irreführende Übersetzung des griechischen Wortes, weil sie nicht zeigt, daß die Gabe von der sie gewährenden Gnadenmacht unabtrennbar, nämlich ihre Manifestation und Konkretion ist, so wie ewiges Leben nicht eine unter vielen Gaben, sondern die eine und einzigartige Gabe der Endzeit ist. Der Ausdruck wechselt denn auch in Röm. 5, 15ff. mit χάρις, δωρεά und δώρημα, ohne etwas anderes zu meinen als eben das mit Christus erschienene und Menschen erfassende Leben. Der gleiche Sachverhalt läßt in 1. Kor. 12, 6.11 die Charismen als ἐνεργήματα beschreiben, in welchen die φανέρωσις τοῦ πνεύματος von V. 7 erfolgt.


2 Der Begriff begegnet nach W. Bauer, Wörterbuch zum Neuen Testament, 5. Aufl. 1958, Sp. 1737, allerdings sehr selten, im nicht christliche beeinflussten profanen Bereich, was dafür spricht, daß es ihn bereits vorchristlich gegeben hat. Doch ist sein Vorkommen in vorchristlicher Zeit nicht sicher zu erweisen. Der stärkste Beleg bei Philo, leg. all. III, 78, bringt das Wort zwar zweimal, ist jedoch mit L. Cohn, Neue Jahrbücher für klass. Altertumswissensch. 1898, S. 539, 1; J. Heinemann, Schriften der jüdisch-hellenistischen Literatur in deutscher Übersetzung Bd. III, Die Werke Philos von Alexandria, 3. Teil, 1919, S. 110, 3, fragwürdig zu nennen. Die Bezeugung an der zweiten Stelle ist genau wie in Sir. 7, 33 und 38, 30 schlecht. Das schafft ein Präjudiz auch gegen die erste Stelle, zumal der nur hier von Philo verwandte Begriff in den folgenden Sätzen stets durch Charts aufgenommen wird und darin vielleicht wie bei den Sirachstellen die ursprüngliche Lesart zu sehen ist. Jedenfalls bezeichnet das Wort, von der paulinischen Tradition abgesehen, völlig unterminologisch das Geschenk, den Hulderweis. F. Grau hat mit Recht S. 19 das Fehlen hebräischer Äquivalenten hervorgehoben. Auch die apostolischen Väter verwenden den Begriff nur selten und, abgesehen von Did. 1, 5, wohl nur unter paulinischen Einfluß. Überblickt man das alles, wird man sich kaum der These entziehen können, daß erst der Apostel dem wahrscheinlich schon vor ihm geprägten, aber unverhältnismäßig spärlich verwandten Wort terminologische Bedeutung gegeben hat. Hervorgehoben zu werden verdient, daß wir das bei keinem andern paulinischen Begriff mit annähernd gleicher Sicherheit zu behaupten vermögen.

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Der Geist ist unser gegenwärtiger Anteil am ewigen Leben. Jedoch ist er es so, daß wir durch ihn die Habenden nur als die von ihm Beschlagnahmten werden. Ewiges Leben wird nie ruhender Besitz und totes Kapital. Die Charts, die bei Paulus ja konstitutiv als Macht verstanden wird, hat man, sofern sie von uns Besitz ergreift und in ihr die Herrschaft Christi uns zum Dienen bringt. So wechseln in 1. Kor. 12, 4ff. die Charismen mit den διακονίαι und sind schließlich in Röm. 11, 29 wie in 1. Kor. 7, 7.17ff. Charismen und κλῆσις τοῦ θεοῦ verbunden und austauschbar. All das zielt auf das gleiche Resultat: Manifestation der Gnade, des Geistes, des ewigen Lebens, der göttlichen Berufung geschieht eschatologisch ἐν Χριστῷ. Christus ist die Verkörperung des Lebens, der Gnade, des Geistes und ist es als unser Herr. Ein Charisma haben heißt für Paulus deshalb Anteil am Leben, an der Gnade, am Geist haben, weil Charisma der spezifische Anteil des einzelnen an der Herrschaft und Herrlichkeit Christi ist und dieser spezifische Anteil am Herrn sich in einem spezifischen Dienst und einer spezifischen Berufung erweist. Denn es gibt keine göttliche Gabe, die nicht Aufgabe wäre, keine Gnade, die nicht aktivierte. Dienst ist nicht bloß Konsequenz, sondern Erscheinung und Realität der Gnade. Ewiges Leben macht lebendig und bekundet sich irdisch im neuen Gehorsam. Herrschaft Christi macht zunächst mich untertan, und darin, daß ich ihr untertan werde, erstrahlt die Glorie dessen, der sich alle Welt untertan machen will und sich in mir eines Stückes der ihm gehörigen Welt bemächtigt.

Man tut gut, sich sofort daran zu erinnern, daß Judentum und Heidentum, wenn auch nicht die technische Bezeichnung, so doch den Sachverhalt der Charismen in einer freilich eigentümlich abgewandelten Weise kennen. Paulus selber faßt solchen Tatbestand scharf ins Auge. Nur darum kann er in 1. Kor. 12, 1; 14, 1 und wohl auch 2, 13 von den Charismen als πνευματικά sprechen und damit einen terminus technicus des Hellenismus aufgreifen. Daß er es selten tut, ist allerdings bedeutsam und entspricht dem andern Sachverhalt, daß er es nur den korinthischen Enthusiasten gegenüber tut. Hier bedient er sich ihrer Terminologie, die unter πνευματικά die Kräfte des Wunders und der Ekstase begreift, also die Fähigkeiten des θεῖος ἄνθρωπος, denen sie nachjagen, deren sie sich rühmen und auf deren Bedeutung für die Gemeinde deshalb 1. Kor. 12-14 eingehen müssen. Nur sollte man nicht übersehen, daß Paulus den Terminus πνευματικά zumeist und offensichtlich geflissentlich durch den Charismabegriff ersetzt, ja verdrängt und damit eine theologische Kritik vorbereitet. Diese Kritik meldet sich offen in 1. Kor. 12, 2: Auch die Götzen entfalten Macht, von der ihre Diener umgetrieben und hingerissen werden. Doch sind die Götzen stumm. Sie schaffen Besessenheit,

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aber ihnen fehlt das Wort, daß Gott die Welt geliebt hat und die Gottlosen rechtfertigt. Ihnen antwortet so auch nicht das Bekenntnis, daß Christus Herr ist, wie es der dem Christus Unterworfene ausspricht, wenn ihn der Geist erfaßt. Sie begründen nicht persönliche und spezifische Verantwortung, in welcher sich Gnadenmacht bekundet. Vielmehr manifestiert sich in den heidnischen Gegenbildern der Charismen dämonischer Geist, der sie isoliert bleiben läßt und nicht zum Dienste treibt. In ihnen platzt das Numinose und Geniale als Mirakel in die Welt und erzeugt dort ein Chaos, in welchem einer gegen den andern steht. Paulus hat demgegenüber die Fähigkeiten des Wunders und der Ekstase nicht etwa abgelehnt. Mit dem Terminus πνευματικά kann er sich in 1. Kor. 12ff. auch die Schätzung dieser Fähigkeiten aneignen. Doch tut er es, wie gerade die genannten Kapitel zeigen, indem er auch sie in den Dienst des Christus und seiner Gemeinde stellt, mit anderen Worten: sie als Charismen geben läßt. Denn das unterscheidet die Charismen von den heidnischen πνευματικά: Nicht das fascinosum des Übernatürlichen, sondern die Erbauung der Gemeinde legitimiert sie. Zeichen, Wunder und Kräfte weist nach Mt. 24, 24; Mk. 13, 22 und 2. These. 2, 9 auch der Antichrist auf. Selbst vorhandene Charismen können wie in Korinthe mißbraucht werden. Nach 2. Kor. 11, 13 gibt es sogar falsche Apostel. Man muß also die Geister prüfen. Das ist ein ungeheuerlicher Satz und die Exegeten versuchen immer wieder, ihm bei der Behandlung von 1. Kor. 14 auszuweichen. Wie kann man den Geist, der hinreißt, begrenzen und prüfen wollen, wie ihm gebieten? Doch zeigt das Kapitel, daß Paulus gerade das, und zwar in kirchenordnender und mit kirchenrechtlicher Gewalt, getan hat. Für ihn erweist eben nicht die Faktizität des Übernatürlichen, sondern die Modalität des angemessenen Gebrauches ein Charisma als echt. Keine Begabung hat um ihrer selbst willen Wert, Recht und Privilegien. Einzig ihr Dienst legitimiert sie. Kennzeichnenderweise greift der Apostel an dieser Stelle und enthusiastischen Anschauungen entgegen auf Stichworte der Popularphilosophie zurück und macht etwa recht hausbacken, wie es dem ersten Blick erscheint, den Nutzen zum Maßstab himmlischer Energien und Offenbarungen, wobei er unter „nützlich” allerdings die Erbauung der Gemeinde versteht. Eben so wird der Verwechslung von Kirche und Mysterienverband ein Ende bereitet, werden die Schwärmer aus ihren erträumten Himmeln auf die Erde herangeholt. Wohl ist auch für Paulus Pneuma die Macht der Transzendenz und darum die Gemeinde, welche dieses Pneuma empfing, nach 1 Kor. 2, 9ff. die Stätte der Präsenz des Himmlischen in der Welt, von welcher gilt: „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das alles hat Gott

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bereitet denen, die ihn lieben”. Darum verzichtet der Apostel nicht darauf, die Kräfte des Wunders und der Ekstase bis hin zur Glossolalie als Merkmale dieser Gemeinde herauszustellen. Näher als hier kann er seinen korinthischen Gegnern und darüber hinaus sogar dem hellenistischen Mysterienwesen nicht rücken. Gerade hier trennt er sich aber zugleich aufs schärfste von seiner Umwelt und denen, welche ihr Christentum aus dieser Umwelt verstehen, erweist er seine Theologie als radikal kritische Theologie. Ihre kritische Kraft ist das Evangelium, das die Selbstbehauptung und Selbstrechtfertigung des frommen, ja des geistbegabten Menschen zerschlägt: Der Himmel kommt auf die Erde, wenn Gnade Gehorsam und Verantwortung schafft und als Begründung einzig des Dienstes erkannt wird.

So gilt in Röm. 1, 11 die mutua fratrum consolatio als Wirkung der Charismen und manifestiert sich nach 1. Kor. 12, 25f. in der Solidarität der Charismen und Charismatiker die Einheit des Christusleibes, die nichts anderes als die Herrschaft des Christus in und über allen seinen Gliedern ist. Man wird in einer Situation, die sich noch immer nicht völlig vom Idealismus gelöst hat, betonen müssen, welcher Nachdruck in diesem Zusammenhang auf dem Moment des Leiblichen liegt. Für Paulus ist Pneuma eben nicht Geistigkeit und Innerlichkeit, sondern Kraft der Auferstehung, weil Kraft des Auferstandenen. Darum besteht der geistliche Gottesdienst für ihn nach Rom. 12, 1ff. ganz selbstverständlich in der Hingabe unserer Leiber, und die Taufparänese Röm. 6, 12ff. läßt darum solchen leiblichen Gehorsam Zeichen dessen sein, daß wir von der Auferweckung Christi herkommen und zur eigenen Auferweckung hinwandern. Der Christusleib darf eben deshalb nicht als ein erbauliches Bild oder als kühne Idee gedeutet werden. Er ist für den Apostel gerade in seiner Leiblichkeit die Wirklichkeit der Gemeinde, sofern sie als Herrschaftsbereich des Auferstandenen die neue Welt darstellt. Seelengemeinschaft ließe nicht sichtbar werden, daß Christus Kosmokrator ist. Wo das jedoch nicht sichtbar wird — und Paulus kennt noch nicht die Anschauung von der ecclesia invisibilis! —, da ist auch der Geist Christi nicht am Werke, der uns gerade und stets mit unserer Leiblichkeit für den Herrn beschlagnahmt, zu leiblichem Dienst willig und fähig macht und so als Glieder in den Leib Christi hineinzieht. In unsern Leibern bemächtigt sich der Kosmokrator jener Welt, die seine Herrschaft vordem nicht anerkannte, und der Christusleib ist die Realität konkreter Weltherrschaft Christi vor der Parusie. So können in Eph. 4, 7ff. die Charismen als die Gaben des sieghaften Christus bezeichnet werden, der Himmel und Hölle durchmessen hat, um mit seiner Fülle das All zu erfüllen. Er tut es nach seiner Himmelfahrt eben mit den von ihm gespendeten Charismen, die keinen Bereich des Daseins ohne

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seine Kraft und ohne seinen Anspruch lassen und in denen er selbst seine Omnipotent und Ubiquität bezeugt.

Doch bedürfen solche mehr als verwegenen Aussagen, wenn sie nicht als phantastisch erscheinen sollen, der weiteren Klärung und Stütze. Man muß sich daran erinnern, daß nach 1. Kor. 1, 5ff.; Eph. 1, 3 und 1. Petr. 4, 10 für Gottes Offenbarung die Fülle des Reichtums und Segens charakteristisch genannt wird, nach Eph. 2, 7 der überschwengliche Reichtum seiner Gnade, der die Gemeinde zur Stätte der περισσεία und πληροφορία macht, vgl. auch 1. Kor. 14, 12; 2. Kor. 8, 7 und 9, 8; Eph. 1, 8; Kol. 2, 2 und 4, 12; 1. These. 1, 5. Hier kann nicht die Eigenart der verschiedenen Charismen bestimmt werden. Doch ist wenigstens, wenn auch nicht ganz unbedenklich, die Mannigfaltigkeit der genannten Gaben in einer summarischen Gliederung anzudeuten. Zu den kerygmatischen Charismen mögen außer den Funktionen der Apostel, Propheten, Evangelisten, Lehrer und Mahner die der Inspiration und Ekstase gezählt werden. Neben die diakonischen, welche Diakone und Diakonissen, die Almosengeber und Krankenpfleger von Röm. 12, 8 und die Witwen von 1. Tim. 5, 9ff. umfassen, treten die Gaben der wunderbaren Heilung und des Exorzismus. Die kybernetischen Charismen reichen von den Rom. 16, 5 und 1. Kor. 16, 15 erwähnten Erstlingen zu den Vorstehern von Röm. 12, 6 und 1. These. 5, 12, die den Hirten von Eph. 4, 11 entsprechen dürften, und den „Bischöfen” von Phil. 1, 1. Von charismatischen Leiden sprechen besonders deutlich 2. Kor. 4, 7ff. und Kol. 1, 24. Doch ist es überaus wichtig zu sehen, daß nicht bloß die hervorragenden Dienste in der Gemeinde als charismatisch gelten. Schon das merkwürdige Nebeneinander der eben aufgezählten Funktionen, in welchem Apostat und unauffällige Liebestat, Wunderkraft und das, was wir heute unschön „technischen” Dienst nennen, sich verbinden, macht darauf aufmerksam, daß der Kreis sich über das Genannte noch erweitern muß. Von 1. Kor. 7, 17 aus wird das vollends deutlich. Zwar wird hier der Begriff Charisma nicht gebraucht. Doch kann mit den Formeln „jeder, wie ihm der Herr zuteilte, jeder, wie ihn der Herr berief” nichts anderes gemeint sein. Das wird ebenso durch das charakteristische „er teilte aus” von der Charismentafel von Rom. 12, 3ff. wie durch die ausdrückliche Verwendung des Begriffes in 1. Kor. 7, 7 unbezweifelbar erwiesen. Dann muß also, was im Zusammenhang genannt ist, als Charisma gelten können, nämlich das Sein des Beschnittenen und Unbeschnittenen, des Knechtes wie des Freien. Solcher Schluß nötigt sich um so mehr auf, als in V. 7 Ehe und Virginität als Charismen aufgeführt werden. Der Einwand, daß die Ehe nur aus überspitzender Rhetorik mit aufgezählt würde,

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verfängt nicht, obgleich seine Aussage als solche richtig ist. Genau die gleiche Rhetorik liegt ja auch in den parallelen Antithesen vor, und dasselbe Schema läßt in Gal. 3, 28 noch Mann und Weib hinzufügen und wird in Kol. 3, 11 nochmals erweitert. Unverkennbar handelt es sich in all diesen Stellen um einen geläufigen Topos der paulinischen Tradition, mit welchem den menschlichen Unterschieden und Gegensätzen die Einheit des sie übergreifenden und verbindenden Christusleibes gegenübergestellt wird. Breit wird dieser Sachverhalt, und zwar erneut im Zusammenhang mit der Erörterung des Problems der Charismen, in 1. Kor. 12, 13ff. entfaltet. Jene für viele Exegeten so anstößige Rhetorik bringt wie so oft bei Paulus einen paradoxen Tatbestand zum Ausdruck. Sie darf eben nicht als frommer Überschwang abgetan werden, sondern verlangt sachliche Interpretation. Nach 1. Kor. 12, 4ff. sind die verschiedene διαιρέσεις, aus welchen die Mannigfaltigkeit der Charismen resultiert, für den Christusleib konstitutiv, weshalb in V. 14 gesagt wird: Der Leib besteht nicht aus einem, sondern aus vielen Gliedern. Umgekehrt zerreißt solche Mannigfaltigkeit nicht den Leib, sondern ermöglicht erst seine Einheit. Denn während das Gleiche sich nur anödet und gegenseitig überflüssig macht, vermag das Unterschiedene sich gegenseitig zu dienen und in diesem Dienst der Agave eins zu werden. Sofern die Kirche sich als Einheit der Charismen und Charismatiker versteht, kann sie ihre Ordnung nicht in Uniformität und Gleichschaltung finden. Sie darf auch nicht einzelne ihrer Glieder so herausstellen, daß andere darüber in den Schatten treten müßten und zur Passivität verurteilt würden. Anders vergriffe sie sich an der ihr von Gott gegebenen Ordnung, an der Offenbarung der Charis, des Geistes, der die neue von der alten Welt scheidet, an der Omnipotenz und Ubiquität Christi. Die nach 1. Kor. 12, 13; Gal. 3, 28; Kol. 3, 11 mit der Taufe gesetzte Einheit des Christusleibes, die Identität des in und über allen seinen Gliedern herrschenden Christus mit sich selbst, ist nur in charismatischer Mannigfaltigkeit möglich und vorhanden, weil es sie nicht zuständlich und vorbildlich, sondern allein in actu der Agape, des Dienens gibt. In ihr gibt es darum mit einer die Welt erstaunenden Notwendigkeit auch jene äußersten Gegensätze, auf welche die soeben genannten Antithesenpaare abzielen.

Damit stehen wir jedoch am Ende des eingeschlagenen Umweges wieder beim Ausgangspunkt: Die Rhetorik dieser Antithesen entkleidet sie gerade nicht ihrer Verbindlichkeit, sondern macht auf ihre Bedeutung aufmerksam. Wir müssen ihren Wortlaut ernst nehmen, selbst wenn in ihnen Ehe oder Sein des Mannes und Weibes als Charisma angesprochen wird. Paulus begründet, um es kurz zu sagen, die Ordnung der sogenannten Haustafeln sachlich im Charismagedanken

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und spiegelt damit die Weite und den Reichtum dessen, der alles in allen erfüllt, nämlich sich in und über der Vielfältigkeit der tief in die Profanität der Welt hineingreifenden Charismen als Kosmokrator offenbart. Doch ist es damit noch nicht genug. Das von uns beschriebene historische und theologische Phänomen kann nicht klar erkannt werden, wenn es nicht in seiner letzten Konsequenz erkannt wird. Paulus hat nicht nur die Haustafeln, sondern seine gesamte Paränese vom Charisma her begründet. Deshalb sind auch seine Ausführungen in Röm. 14, die das Verhältnis zu Essen und Trinken, zum Fleischgenuß, Vegetarismus und zu den Feiertagen betreffen, dort verankert. Eine solche Feststellung mag erschrecken und fragen lassen, wohin wir auf diesen Wege geraten. Wird nun nicht R. Rothe warnend in unsern Blick treten müssen, wenn wir ihn nicht gar rechtfertigen wollen? Gibt es, wenn das jetzt Behauptete zutreffen sollte, überhaupt noch Grenzen des Charismatischen?

Ich habe auf diese Grenzen bereits hingewiesen, als ich sagte, nicht die Faktizität, sondern die Modalität entscheide über echtes Charisma. Es ist eben nicht so, daß Männlichkeit und Weiblichkeit, Geschlechtlichkeit und Virginität, Familienstand und soziale Verhältnisse, Essen und Trinken, das Stehen unter oder außer der Tora als solche und von vornherein charismatisch wären. Sie können es aber werden, und jede dieser Verhaltungsweisen wird es dann, wenn über sie der Schatten des μόνον ἐν κυρίῳ von 1. Kor. 7, 39 fällt, wenn man nach Rom. 14, 4ff. in ihnen den Herrn steht oder fällt, dem Herrn zuliebe Vorschriften hält oder bricht, ißt oder fastet, lebt oder stirbt. Wieder ist die Spannweite dieser Aussagen zu beachten, die hier nicht zufällig mit sich ausschließenden Gegensätzen argumentieren. Die gesamte Wirklichkeit unseres Lebens soll miterfaßt werden, und zwar deutlich in Polemik gegenüber einem Schwärmertum, welches sich mit Ausschnitten dieser Wirklichkeit oder mit einer illusionären Innerlichkeit begnügt, Verheißung reglementiert, Glauben unter willkürliche Normen und Kriterien stellt, die christliche Bruderschaft uniformieren möchte, damit jedoch Charisma an den Faktizitäten mißt. Das Maß des Charisma ist aber die Modalität des Wandelnd im Herrn und für den Herrn, also der Gehorsam des Christenmenschen. Weil aber das ἐν κυρίῳ die Grenze des Charismatischen ist, muß es nach Rom. 14, 22f. auch das zweifelnde und anklagende Gewissen sein. Nur wenn ich weiß, daß der Herr gegeben hat und ich in seiner Gabe als Beruf und Befehl für mich stehen darf, wird mein jeweiliger Stand Charisma. Da kann alles mir Charisma werden. Es wäre nicht nur töricht, sondern Schmälerung der Ehre Christi, der alles erfüllen will, wollte ich die Bereiche des Natürlichen, Geschlechtlichen, Privaten, Sozialen aus seiner Machtsphäre herausnehmen. Es geht hier

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nicht um Weltverklärung, sondern darum, daß die Kirche nicht mehr mysterienhaft als heiliger Bereich eines Temenos verstanden werden darf. Der Raum der Kirche ist die Welt, weil nur das der Raum des Kosmokrator Christus sein kann. Das Profane ist nicht mehr den Dämonen und Dämonien überlassen. Die Gnade trägt ihren Angriff radikal vor, sie entdämonisiert die Welt. Sie allein vermag das. Darum heißt es Röm. 14, 14: „Ich weiß im Herrn Jesus völlig gewiß, daß nichts an und für sich gemein ist.” Profan ist etwas nur für den, der es dafür hält. Wie nichts an sich Charisma ist, so auch nichts an sich profan. Denn diesen Bereich des „an sich”, also der neutralisierten Zone, der Indifferenz gibt es in eschatologischer Zeit nicht mehr. Regnum Christi und Satanae stehen sich nun gegenüber und manifestieren sich irdisch im gehorsamen oder ungehorsamen Menschen. Alles ist Gabe, was wir nicht entweihen. Alles steht unter charismatischer Möglichkeit und ist insofern heilig, als es die Heiligen Gottes gebrauchen.

Nun bleibt uns noch ein letzter Schritt zu tun. Bisher sagten wir: Das ganze leben mit Einschluss des Sterbens steht unter der Verheißung des Charismatischen, sofern es nur Christen sind, die es leben und sterben. Muß nun nicht hinzugefügt werden: Da zunächst die Christen selber im Schatten des ἐν κυρίῳ stehen und Glieder des Christusleibes sind, sind sie alle, sofern es sich wirklich mit ihnen so verhält, auch Charismatiker? Die Frage stellen, heißt, sie zu bejahen. Das folgt schon aus der Definition von Charisma als Konkretion und Individuation der Gnade oder des Geistes, da ja jeder Christ an Gnade und Geist Anteil hat, weiter aus der Beschreibung des Christusleibes, welche diesen aus lauter Charismen und Charismatikern gebildet sein läßt. In ihm gibt es nicht passive Mitgliedschaft. Jeder Christ steht als Begnadeter und Dienender in der Waffenrüstung von Eph. 6, 10ff. Endlich erklärt sich von da aus jener seltsame Übergang, mit welchem die Aufzählung öffentlicher Gemeindefunktionen in Röm. 12, 9ff. zu einem privaten Tugendkatalog sich zu wenden scheint. Paulinisch ist jedoch solche Charakteristik unmöglich. Befindet sich doch jeder Christ jederzeit „im Angesichte” Jesu Christi als des Kosmokrators und Weltenrichters und darum auch vor jenem Forum von 1. Kor. 4, 9, da Welt und Engel und Menschen auf ihn schauen. Er steht also in eschatologischer Öffentlichkeit, ist aufgerichtetes Zeichen des letzten Siegers und Mandatar seines Herrn auf Erden. Das gilt eben nicht nur von Aposteln, Propheten oder auch Glossolalen, sondern genau so von denen, welche die Heiligen Herbergen, sich der Ehrbarkeit gegen jedermann befleißigen, nicht sich rächen, mit den Fröhlichen fröhlich sind, mit den Weinenden weinen. Röm. 12-15 sprechen, wie zu Kap. 14 schon dargetan, nur von Charismen und charismatischen Möglichkeiten.

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Darum endet dieser Abschnitt mit der Doxologie über jener Kirche, die auch unter den Heiden Gottes Barmherzigkeit rühmen darf. Die Offenbarung der Charismen ist die Prärogative der Kirche aus Juden und Heiden als des wahren vor dem verstockten Israel und Beweis für die Behauptung von Eph. 3, 6, daß die Heidenchristen Miterben und Teilhaber der Verheißung geworden sind. Charisma ist nicht mehr Auszeichnung einzelner Auserwählter, sondern das, was allen zuteil geworden ist, welche den Namen des Herrn anrufen, oder, um es mit der urchristlichen Tradition von Apg. 2, 17ff. zu sagen, Erweis dessen, daß Gottes Geist über alles Fleisch ausgegossen wurde. Deshalb gilt der ganzen Gemeinde wie dem einzelnen Christenleben jene Akklamation von 1. Kor. 14, 25, in welcher der heidnische Teilnehmer am christlichen Gottesdienst die eschatologische Präsenz Gottes bei den Seinigen erschüttert erkennt und bezeugt: ὄντως ὁ θεὸς ἐν ὑμῖν. Von dieser Akklamation aus können wir abschließend noch einmal den Blick zu jener Stelle in Eph. 4, 7ff. zurückwenden, welche diesen Abschnitt eröffnete. Die fast phantastisch unmutenden Aussagen über die Omnipotenz und Ubiquität Christi im All werden hier durch den Apostel selber bestätigt und gleichsam im Vorhinein interpretiert: Weil und sofern der Christusleib als Bereich eschatologisch verwirklichter Christusherrschaft auf Erden die neue Welt und Schöpfung Gottes ist, weil und sofern der Christus mit seiner Gabe jedes seiner Glieder zur nova oboedientia beruft, lebendig macht und zum Dienst und Leiden in der geistlichen Waffenrüstung aktiviert, weil und sofern er selber in seinen Gaben und den sie erweisenden, durch sie ermöglichten Diensten gegenwärtig ist als der seinen Anspruch auf die Welt Bekundende, das Profane Heiligende, die Erde Entdämonisierende, — darum und insofern kann tatsächlich verkündigt werden, daß er das All mit seiner Auferstehungsmacht erfülle. Voraussetzung solcher Argumentation ist der gerade für Paulus, wie seine Abendmahlslehre beweist, entscheidende Grundsatz, daß der Geber nicht von seiner Gabe getrennt werden darf, sondern in ihr präsent ist. Jeder Dienst in der Gemeinde deutet, weil und sofern er festgehaltene Gnade ist, auf den hin, welcher der erste und wahre Apostel, Prophet, Bischof, Diakon, Lehrer, Hirte, Evangelist, Wundertäter ist, der liebt und sich nicht rächt, tröstet, ermahnt, richtet, vergibt und von Herzen demütig ist. Alle Charismen verweiblichen sich in ihm und bilden zusammen seinen Leib, wie umgekehrt sein Bild sich nach 2. Kor. 3, 18 in jedem seiner Glieder spiegelt und nach Röm. 8, 29f. jeder Christ dem Bilde des Sohnes gleichgestaltet wird und darin nach Röm. 3, 23 die mit dem Sündenfall verlorene Herrlichkeit der Gottebenbildlichkeit wiedergewinnt. Man kann die paulinische Lehre von den Charismen ebensowenig verstehen wie die vom Geist und von der Kirche, so

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lange man nicht ihre Bildung an die Christologie beachtet. Auch vor dem Apostel hat man um die Kräfte des neuen Äon und die mancherlei Begabungen des Geistes gewußt. Indem man sie jedoch nicht theologisch konsequent der Christologie zuordnete, geriet man in jene Anschauung und Praxis des Enthusiasmus, die sich in Korinthe breit machen. Die vom Geber isolierte Gabe verliert den Charakter des vom Herrn erhobenen Anspruchs, treibt zur Selbstpräsentation der zutiefst Ungebundenen, macht aus der Gemeinde den Tummelplatz der religiösen Begabungen und der Unordnung, die dem Frieden Christi als die Wirklichkeit der alten Welt entgegensteht.

Es ist nicht möglich, hier weiter auszuführen, wie stark die Charismenlehre in alle Gebiete der paulinischen Theologie bestimmend eingreift und wie sehr aus ihr die theologische Grundkonzeption des Apostels erkennbar wird. Doch muß zu mindesten noch darauf aufmerksam gemacht werden, daß ihre Aussagen nur von der paulinischen Rechtfertigungslehre her möglich und notwendig werden, andererseits aber die Tragweite dieser Rechtfertigungslehre herausstellen. Die Charismenlehre ist der Beweis dafür, daß Paulus nicht grundsätzlich zwischen Rechtfertigung und Heiligung unterschieden hat und Rechtfertigung nicht bloß deklaratorisch versteht, daß er weiter Rechtfertigung aus dem Glauben an die Taufe bindet, so daß man also in seiner Verkündigung nicht eine juridische Linie von der sakramentalen abheben darf, daß er endlich Glauben konstitutiv als neuen Gehorsam begreift. Die Charismenlehre ist bei ihm die konkrete Darstellung der Lehre vom neuen Gehorsam und ist es als Lehre von der justificatio impii. Gott macht die Toten lebendig und baut durch den erobernden Zugriff der Gnade dort sein Reich, wo zuvor die Dämonen und Dämonien herrschten, weshalb die Charismenreihen als Gegenbilder der Lasterkataloge erscheinen. Er schafft unter den Rebellen jene pax Christi, die zugleich Unterwerfung, Versöhnung und Neuordnung des Kosmos bedeutet. Daß die Gottlosen gehorsam und Charismatiker werden, ist eschatologisches Wunder, Handeln der Gottheit Gottes, Triumph der Gnade über der Welt des Zorns. Die Charismenlehre des Paulus ist nichts anderes als die Projektion der Rechtfertigungslehre in die Ekklesiologie hinein und macht als solche deutlich, daß eine bloß individualistische Interpretation der Rechtfertigungslehre vom Apostel her nicht legitimiert werden kann.

Auch die Ordnung in der christlichen Gemeinde wird von hier aus begründet. Wieder muß ich mich hüten, in die Weite und ins Detail abzuirren, und kann deshalb nur einige grundlegende Sachverhalte anvisieren. Es sollte schon auffallen, wie häufig im Zusammenhang mit der Charismenlehre die Losung begegnet: Jedem das Seinige! Dem entspricht die stereotype Wiederholung in Röm. 12, 3;

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1. Kor. 3, 5; 11, 18; 12, 7; Eph. 4, 7, daß Gott einem jeglichen gibt. Thematisch heißt es in 1. Kor. 7, 7: Jeder hat sein Charisma von Gott. Kirchliche Nivellierung ist damit grundsätzlich ausgeschlossen. Gott kopiert sich selbst nicht, wenn er handelt, und Gnade läßt nicht kopieren. In Schöpfung wie in Erlösung wird differenziert. Gleichheit ist für Paulus kein Prinzip der kirchlichen Ordnung. Er erkennt in 1. Kor. 12, 28 eine Reihenfolge der Charismen an, die faktisch vom Apostel bis zu der Witwe reicht, welche die jungen Frauen belehrt und die Waisen auferzieht. In der Gemeinde gibt es die Starken und Schwachen, Edlen und Unedlen, Weisen und Törichten, das Gestaltete und Ungestaltete. Keiner darf nach 1. Kor. 12, 21 zum andern sagen: Ich bedarf deiner nicht. Über allen steht das καθὼς βοὐλεται oder ἠθέλησεν von 1. Kor. 12, 11.18, also die Souveränität der göttlichen Gnade und Allmacht, die frei ist und macht, Sorgen und Neid beendet, indem sie jedem gibt. Es geht keiner leer aus, wie keiner überflüssig ist. Wie jedoch Gabe und Aufgabe, Gnade und Dienst zusammenfallen, so auch Freiheit und Ordnung. Deshalb ist mein Charisma stets zugleich nach Röm. 12, 3 mein μέτρον πίστεως, also mein empfangenes Maß. Deshalb hat sich nicht nur der Prophet, sondern jeder an der ἀναλογία πίστεως von Röm. 12, 6 zu orientieren. Alles ist euer, heißt es mit Nachdruck in 1. Kor. 3, 21. Gleichwohl wendet sich der Apostel in 6, 12ff. aufs heftigste gegen die Korinther, welche solche Losung auf ihre Weise praktizieren. Sie haben vergessen, daß sie selbst in ihrer Leiblichkeit nicht sich, sondern dem Herrn gehören. So kann die Kehrseite des eben genannten Wortes in 7, 24 aufgezeigt werden: Jeder bleibe, darin er berufen ist, also, wie früher dargetan, in seinem Charisma. Gnade macht für den neuen Gehorsam in der spezifisch mir gewährten Möglichkeit frei. Sie erlaubt uns nicht, als Freibeuter an uns zu reißen, was uns in die Augen sticht. Wie die Prophetie an den Glauben gebunden wird, hat der Almosengeber einfältig dem zu leben, daß er geben darf, der Vorsteher in Sachlichkeit und Akkuratesse zu handeln, der Krankenpfleger sein Herz mit Lust in seinen Dienst zu legen. Mit Barths Auslegung dieser Römerbriefstelle mag man sagen, mein Charisma sei für mich jeweils die einzige ethische Möglichkeit. Es gilt, im σωφρονεῖν zu bleiben, das nicht über das Empfangene hinausstrebt, in der nüchternen Sachlichkeit, welche den Haushalter kennzeichnet. Ich kann mir meine Berufung nicht aussuchen oder um einer andern willen verwerfen. Schon von da aus müßte das Ideal oder die Schablone des stets und überall sachverständigen Pastors und Theologen zerbrechen.

Die zweite von Paulus hier eingeprägte Losung heißt nach 1. Kor. 12, 25: Für einander. Der Heide kann mit seinem Ingenium als Waffe in den allgemeinen Konkurrenzkampf ziehen. Der Christ ist nach

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1. Petr. 4, 10 als Haushalter der vielfältigen Gottesgnade gebunden, dem andern in der Weise und nach dem Maß des von ihm empfangenen Charisma zu dienen. Die Gabe macht ihn frei von den Menschen, ihrer Sorge und Tyrannei und kettet ihn einzig an den Herrn. Sie macht ihn zugleich auber auch von sich selbst frei, seiner eigenen Sorge und Tyrannei überdrüssig, so daß er nach 1. Kor. 9, 19 in der Agave jedermanns Knecht werden kann. 1. Kor. 8, 9 schärft ihn ein, daß er über alles Macht habe, nur nicht über das Gewissen des Bruders, nicht einmal über das törichte und irrende Gewissen des andern. Wenn man Gewissen bricht, sündigt man nach V. 12 an Christus selber. Nur in der Sachlichkeit der dienenden Agave, zu welcher nach Phil. 1, 9 außer umfangreicher Kenntnis auch der differenzierende Takt gehört, werden Charismen nicht mißbraucht. Von da aus dürfte heute nach vielen Seiten hin einiges zum Problem der Konfessionskirche zu sagen sein, zumal Paulus in der Korintherstelle doch wohl im Blick auf das Konfessionsproblem argumentiert.

Die dritte Willkür unterbindende Losung findet sich in Röm. 12, 10; Phil. 2, 3; 1. Petr. 5, 5 und besonders eindringlich in Eph. 5, 21: Seid einander in der Furcht Christi untertan. Dabei wird von der Furcht Christi nicht etwa rhetorisch gesprochen. ὑποτάσσεσθαι meint ja den Gehorsam, der auf Grund eines untergeordneten τάγμα geschuldet wird. Auch der christliche Bruder empfing seine Gabe, seine Freiheit, seine Verantwortung, ist darum an seinem Platze Repräsentant des erhöhten Herrn. Der praesentia Christi gegenüber hat ταπεινοφροσύνη zu walten, eben auch und gerade wenn sie mir im andern Charismatiker begegnet. Das besagt konkret, daß in der Gemeinde Autorität und Charisma zusammengehören und, da Charisma nur im Dienst sich als echt erweist, Autorität hier allein der Dienende als solcher und im Vollzug seines Dienstes haben kann.

Damit ist dann der Punkt erreicht, an welchem explizit vom Verhältnis zwischen Gemeinde und Amt gesprochen werden muß. Auch dieses Verhältnis wird bei Paulus ausschließlich vom Charismagedanken her bestimmt. Was das bedeutet, wird am besten zunächst durch eine Negation erklärt: Wo alle Christen als Charismatiker betrachtet werden, kann es nicht mehr den heiligen Raum, die heilige Zeit, die heilige Handlung kultischer Stellvertretung, die heiligen Personen im sinne des Judentums und Heidentums, nämlich das vom Temenos her Privilegierte und die Privilegierten geben. Es gibt dort auch nicht mehr das heilige Amt des Altarraumes, von welchem aus Ignatius ad Eph. 5, 1f. das Bischofsamt und das Wesen der Kirche bestimmt. Noch einmal mag man fragen, ob das auf die Profanisierung des Heiligen ziele. Doch ist gerade das Gegenteil richtig. Die abgesonderten Bereiche des Religiösen werden gesprengt, wo der Angriff der Gnade

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auf die Welt und darum eben auf den Alltag der Welt stattfindet. Nicht die Scheu vor dem Kultischen als solchem läßt Paulus ja im allgemeinen die Terminologie der alttestamentlichen oder heidnischen Kultsprache vermeiden. In Röm. 12, 1f. kann er vielmehr umgekehrt solche Kultsprache sehr bewußt dazu aufgreifen, um die Heiligung des Alltags als den wahren Gottesdienst der Christenheit zu charakterisieren. So steht im Mittelpunkt des Gemeindelebens und der christlichen Versammlung die sakramentale Feier. Wie im NT ganz unbefangen vom himmlischen Kult gesprochen wird, so erscheint die Versammlung der Gemeinde als dessen irdisches Gegenbild. Auch die Bedeutung der Liturgie für die nt.liche Verkündigung sollte in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden. Sie hat diese Bedeutung, weil die Urchristenheit mit ihr immer wieder die Scheidung der Machtbereiche des alten und neuen Äon vollzieht, die sich im Alltag zu vermischen drohen. Sie ist die älteste Form des Bekenntnisses, als solche darum schon bei Paulus Kriterium rechter Verkündigung und wird, wenn ich es zutreffend zu sehen vermag, deshalb alsbald zum wichtigsten Ausgangspunkt bei der Bildung des Dogmas. Von da aus begreift es sich, daß der Schöpfung, Weiterbildung und Überlieferung der Liturgie im besonderen der Charakter eines charismatischen Tuns anhaftet. Noch wichtiger ist endlich, daß die auf ihrem Höhepunkt das Sakrament feiernde christliche Versammlung als solche den Christusleib manifestiert und der einzelne Charismatiker nur in der Ausrichtung auf sie die praesentia Christi im Alltag der Welt spiegelt. Heilige Gottes sind die Christen konkret eben auch um der Zugehörigkeit zu dieser Versammlung willen. Wird damit nicht aufgehoben, was vorher negativ über die heilige Zeit und den heiligen Ort gesagt wurde? Ich kann das nicht zugeben. Denn die christliche Versammlung ist ja die Stätte, wo der Kyrios durch Wort und Sakrament epiphan wird, das eschatologische Ereignis der in Christi Kreuz und Auferstehung erfolgten und mit der Taufe dem einzelnen auf den Leib gerückten Äonenwende stets neu proklamiert und in seinem Entscheidungscharakter festgehalten wird. Nicht eigentlich Ort und Zeit und schon gar nicht stellvertretendes Handeln und beauftragte Personen bestimmen dieses „kultische” Geschehen, wenn man den Gottesdienst überhaupt so bezeichnen will, sondern, wie gesagt, die Epiphanias und Präsenz des Kyrios, der jeweils die Herrschaft über die Seinigen neu ergreift und dadurch seine Gemeinde als die neue Welt herausstellt. Mag man also über die Verwendung des immerhin vorbelasteten, weil im allgemeinen festgelegten Begriffes „kultisch” streiten können. Entscheidend ist die eschatologische Dominante des hier ins Auge gefasten Vorganges, und zu diesem eigenartigen eschatologischen Geschehen gehört zum mindesten im Bereich

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der paulinischen Gemeinde konstitutiv, daß es dafür noch keine institutionelle Legitimation gibt, privilegierte Personen dabei noch keine Rolle spielen, ja, wie 1. Kor. 14, 2ff. erkennen lassen, nicht einmal ein festes Ritual vorhanden ist. Wenn man so reden will und darf, ist Ausweis allein die versammelte Gemeinde in ihrer Ausrichtung auf Wort und Sakrament.

„Amtsträger” sind darum hier alle Getauften, die mit ihrem Charisma ja alle in Verantwortung stehen und gerade in 1. Kor. 14 alle auf ihre Verantwortung angesprochen werden. Nirgendwo kommt das klarer zum Ausdruck als in 1. Petr. 2, 5-10: Als Haushalter der vielfältigen Gottesgnade, also als Charismatiker, die einander nach dem Maß ihrer Gabe zu dienen haben, sind alle Christen die lebendigen Steine des Gottesbaues und Repräsentanten dessen, der zunächst lebendiger Stein ist. Als geistliches Priestertum bringen sie das gottwohlgefällige Opfer, welches in der Erbauung der Gemeinde besteht. Konkret vollzieht sich das so, daß sie verkündigen die Machttaten dessen, der uns aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht berufen hat. Die letzten Worte beziehen sich eindeutig auf die Taufe und spiegeln mit ihrer Terminologie das Taufbekenntnis. Das allgemeine Priestertum aller Gläubigen wird hier also aus der Taufe abgeleitet, ein absolut selbstverständlicher Sachverhalt, wenn man Charisma als Individuation der Charis, unsern Anteil am Pneuma und als Konkretion unserer Berufung verstehen muß. Nicht ebenso selbstverständliche Eindeutigkeit hat es dagegen, wenn man heute vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen spricht. Der Neuprotestantismus hat darunter ja nur noch das private Verhältnis des einzelnen Christen zu seinem Gott verstanden und dessen Hauptfunktion im Gebet gesehen. So hilft es hier weiter, wenn man sich daran erinnert, daß τὰς ἀρετὰς ἐξαγγέλλειν technischer Terminus jener Exhomologese ist, mit welcher der Geheilte oder Errettete oder der, dem Schuld vergeben ward, pflichtgemäß und öffentlich die gnädige Macht der Gottheit in einer Epiphanias als von sich erfahren bekennt. Ein Vorgang heiligen Rechtes bildet also die Antwort des Menschen auf göttliche Manifestation, und dieser Vorgang ist officium im strengsten Sinne. Das besagt, daß die Stelle des 1. Petr. wirklich von amtlichen Tun spricht und sprechen will. Wo man die Machttaten des Christus proklamiert, befindet man sich in konkretem Gegenüber zur Welt, und zwar in offizieller Mission. Man treibt das ministerium verbi divini, die διακονία τῆς καταλλαγῆς von 2. Kor. 5, 18. Man treibt es jure divino: Es ist jedem Christen übertragen und geboten, wenn er nicht aufhören soll, ein Christ zu sein. Es soll nicht übersehen werden, daß solche Aussage im Widerspruch zum neulutherischen Amtsverständnis und in Spannung mindestens zum Wortlaut vieler reformatorischer

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Aussagen steht. Doch darf umgekehrt nicht verkannt werden, daß sie die notwendige Konsequenz all dessen ist, was bisher ausgeführt wurde. Nach 1. Kor. 12, 20 gibt es kein Privileg eines einzelnen Charismatikers gegenüber dem Christusleibe. Es gibt auch nicht das Privileg offizieller Verkündigung nur durch jeweils einen einzigen Beauftragten. Für die paulinische Gemeinde ist die Vielfalt der charismatischen Funktionen auch in der Verkündigung konstitutiv, wobei alle in verschiedener Weise, untereinander abgestuft und gegeneinander abgegrenzt, das Gotteswort tragen und die Gemeinde erbauen. Selbst der Apostel ist, wie Paulus immer wieder betont, nichts anderes als Charismatiker unter andern, wenngleich der wichtigste. 1. Kor. 14 lehrt, daß nicht alle jederzeit in Aktion treten müssen und daß heiliger Geist an den Fragen der Zweckmäßigkeit und äußeren Ordnung nicht achtlos vorübergeht. Doch kann sich nach göttlichem Recht kein Christ selber davon entbinden oder durch andere davon entbinden lassen, Amtsträger Christi und seines Leibes mit seinem Wort und seinem Handeln zu sein. Denn dazu hat die Gnade selbst ihn seit seiner Taufe gefordert.

Wenn jedoch alle Charismatiker als solche zugleich Amtsträger sind, scheint man sagen zu müssen, daß in Wahrheit es keiner ist. Muß sich in solcher Gemeinde nicht notwendig jede Ordnung auflösen? Der Historiker wird auf diese Frage zunächst mit dem Hinweis antworten, daß die paulinische Gemeinde auch Dienste kennt, die wir als feste Gemeindeämter bezeichnen würden, z.B. die wohl als Kassenverwalter zu betrachtenden Bischöfe und Diakone von Phil. 1, 1, die Diakonisse Phöbe in Röm. 16, 1f. und die in Röm. 12, 6-8 genannten Funktionen, und daß die Charismenreihen eine deutliche Abstufung erkennen lassen. Allgemeine Verpflichtung besagt eben nicht die Gleichheit aller. Dieser Hinweis muß aber theologisch ausgebaut werden, indem man auf die Paulus stets bestimmende eigenartige Dialektik aufmerksam macht, die sich auch in seinem persönlichen Verhalten zu den verschiedenen Charismatikern lehrreich äußert. Unablässig suchen seine Briefe Autorität zu begründen, die der Erstbekehrten oder der Phoebe oder seiner Delegaten und Mitarbeiter, die der Herren über die Sklaven, des Mannes über die Frau und in langen Kapiteln die seines eigenen Apostolates. Es ist ihm ernst mit der Mahnung gewesen, daß einer dem andern ταπεινοφροσύνη und φόβος Χριστοῦ schulde, und er hat daraus konkrete Folgerungen für die jeweilige Situation gezogen. gleichwohl denkt er gar nicht daran, die Würde des Petrus in Antiochien unangetastet zu lassen, und steht nach Gal. 2 den jerusalemer Autoritäten ebenso kritisch gegenüber wie nach 1. Kor. 14 den korinthischen Glossolalen. Der Gemeinde ruft er gerade gegenüber Ansprüchen, die im Namen des Geistes und von

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Charismatikern erhoben werden, zu: Werdet nicht der Menschen Knechte, 1. Kor. 7, 23. Er versagt den Prophetinnen das Wort in der Versammlung und versagt es auch den Glossolalen, wenn kein Interpret zugegen ist. Zahl und Länge der Reden begrenzt er ihnen auch dann noch. Er scheut sich also nicht, dem in Gottesdienst und Gemeinde lebendige Pneuma Schranken zu ziehen, und tut es in dekretalem Stile, der rechtliche Ansprüche kennzeichnet. Genauso behandelt er in 1. Kor. 11. die Frage der Eucharistiefeier, in 1. Kor. 5 den Fall des Blutschänders und gibt auch sonst verbindliche Anweisungen und Traditionen, welche wie etwa die über den Schleier in 1. Kor. 11 von der Gemeinde teilweise als Vergewaltigung ihrer Freiheit verstanden werden konnten. Seit R. Sohm steht die Frage in Schärfe offen, wie man das mit dem Lob der Charismen auf einen Nenner bringen könne. Die Frage ist von dort aus beantwortbar, daß Paulus nicht die Faktizität, sondern die Modalität eines Charisma entscheidend sein ließ, während seine Interpreten immer wieder den hellenistischen Begriff der πνευματικά seinen Ausführungen zugrunde legten und dann natürlich in Widersprüche gerieten. Der Apostel hat Ordnung eben nicht statisch auf Ämtern, Institutionen, Ständen und Würden aufgebaut, sondern Autorität allein dem konkret geschehenden Dienst zuerkannt, weil allein im Akt des konkreten Dienstes der Kyrios seine Herrschaft und Präsenz bekundet. So hat er auch nicht zwischen pneumatischen und technischen Diensten unterscheiden müssen, wie man das unter Verkennung der historischen Situation im NT heute gelegentlich tut. Wo man dem Herrn gehorcht, steht man ἐν πνεύματι, auch als Kassenverwalter von Philippi. Wohl unterscheidet Paulus aber zwischen Pneuma und Pneuma, hat selber die Geister geprüft, wie er es von jedem Christen verlangt, und damit den Beweis des Geistes und der Kraft gegeben. Er tut es in 1. Kor. 14, 33 mit der merkwürdig rationalen Begründung, Gott sei nicht ein Gott der Unordnung, und ebenso merkwürdig und geradezu rationalistisch sind die von ihm aufgegriffen Kriterien des συμφέρον und πρέπον, der Hinweis auf die φύσις oder das typisch griechische Ideal des σωφρονεῖν, an denen er Charismen und Charismatiker messen kann. Doch gilt es, die Schwärmer aus den Himmeln ihrer Einbildungen auf die Erde zu ziehen, in die theologia crucis und viatorum, in die dienstbereite Agave. Bei dieser Bemühung hat er die Bundesgenossenschaft der Popularphilosophie nicht verschmäht, und die Pastoralbriefe setzen in dieser Hinsicht gut paulinische Tradition fort. Denn die Popularphilosophie predigt Nüchternheit, und Nüchternheit ist die Voraussetzung rechten Dienend und jener Agave, welche als der köstlichere Weg dem Ich seine Grenze setzt. Sohm hat das mißverstanden, als er seine berühmte These formulierte, christlicher Gehorsam sei Liebes-, nicht Rechtspflicht.

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Denn nach Paulus läßt die Agape den einzelnen Charismatiker nicht Konzessionen gegenüber die Gemeinschaft machen. Sie ist vielmehr die kritische Instanz gegenüber allen Charismen, welche immer in der Gefahr stehen, die eigene Begabung zu überschätzen und zu mißbrauchen, die eigene Autorität mit derjenigen des Herrn über seine Gaben und Diener zu verwechseln. Nur wo solche Autorität über ihnen selbst aufgerichtet ist, haben auch Gaben und Diener Autorität. Nur dann bleibt sie dem Geber und Herrn gebührende und auf den Diener übertragene Autorität.

Ihren schärfsten und für Paulus kennzeichnendsten Ausdruck findet diese theologische Dialektik darin, daß der Charismatiker als der Angefochtene und immer neu der Anfechtung Unterliegende bestimmt werden kann. Die Gnade macht lebendig, indem sie sich Träger ihres Dienstes und ihrer weltüberwindenden Macht schafft. Aber sie läßt zugleich ihre Diener sich im Dienst verzehren. Über ihnen hängt jenes Todesurteil, von welchem Paulus, an sich selbst exemplifizierend, in 2. Kor. 1, 9 spricht, wie er nach Gal. 6, 17 der Stigmatisierte des Gekreuzigten zu sein behauptet und nach 2. Kor. 4, 7ff. die νέκρωσις τοῦ Ἰησοῦ an seinem Leibe trägt. Auf die grandiose Verteidigung seines Apostolates in 2. Kor. 10-13 möchte ich hier, um anderweitig von mir ausführlich Behandeltes3 nicht zu wiederholen, nur verweisen. Sie macht völlig klar, daß der Apostel zwar in besonderer Weise den notwendig mit der Botschaft des Evangeliums verknüpften und darum eschatologisch zu sehenden Anfechtungen ausgesetzt ist, daß jedoch umgekehrt sein Leiden, eben weil es mit der Botschaft des Evangeliums notwendig zusammengehört, exemplarische Bedeutung für den Christusdienst überhaupt hat. Denn für jeden Christusdienst gilt das von Paulus in 2. Kor. 12, 9 formulierte Gesetz, daß Gottes Kraft nur in der Anfechtung und durch die Angefochtenen sich manifestiert, und dessen Variante in 13, 4, daß es Leben aus der Kraft des Auferstandenen nur im Schatten des Gekreuzigten gibt, weshalb nach 2. Kor. 1, 4ff. auch nur der Träger der παθήματα τοῦ Χριστοῦ wirklich den Trost und das Heil des Christus zu bringen vermag. Dieser Problemkomplex ist zu weitschichtig und zu diffizil, als daß außer in einer Monographie darauf eingegangen werden könnte. Hier kam es nur darauf an, darzutun, wie wenig Paulus gesonnen war, die Ordnung der Kirche unter das Kriterium eines faktisch Geltenden und Vorfindlichen zu stellen. Wie er der Anschauung des institutionell ausgewiesenen Amtes seine Charismenlehre entgegensetzt, so hat er von vornherein der Gefahr des Enthusiasmus begegnen müssen, welche sich schon in seinen eigenen Gemeinden mit einem


3 Vgl. meine Aufsatz „Die Legitimität des Apostels”, ZNW 1942, S. 33-71.

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Mißverständnis des Charismatischen verband. Er hat darum lebenslang die Willkür der Charismatiker bekämpft, ihnen von der Vernunft, von der Sitte, von der Agape, vom Kreuze Christi her Grenzen gezogen und mit dem allen die Freiheit und Zucht des Herrn und seines Geistes gerade auch über den Charismen als den Grund und die Kraft einer wahrhaft geordneten Kirche proklamiert. Damit hat er allerdings das Werden und Wachsen, die Erhaltung und Ordnung der Kirche dem Bereich entzogen, in welchem Menschen von sich aus etwas herzustellen und zu sichern vermögen, und alle der Kirche gelassene Hoffnung darin erblickt, daß nach Phil. 1, 6 „der in euch angefangen hat das gute Werk, es auch vollenden wird”. Schneidend äußert sich darin nochmals die paulinische Rechtfertigungslehre mit ihrer Polemik gegen die guten und frommen Werke des Menschen. In ihr geht es eben nicht bloß um das Heil des einzelnen, durch sie wird für Paulus auch das Wesen der Kirche, das Gesetz ihres Lebens und Sterbens, die Wahrheit und Verheißung ihres Handelns in allen ihren Ämtern und Funktionen bestimmt und begrenzt. Es kann dann nicht verwundern, wenn diese Anschauung von Amt und Gemeinde bereits in der Urchristenheit nur soweit lebendig bleibt, wie die entscheidenden Motive der Rechtfertigungslehre des Apostels geteilt und bewahrt wurden.

Es kann nun nicht ernsthaft daran gedacht werden, das Verhältnis von Amt und Gemeinde im ganzen übrigen NT im Zuge dieser Fragestellung zu untersuchen. Wohl ist es aber sinnvoll, wenigstens in groben Strichen und gleichsam als Folie der paulinischen Anschauung jener Antithese herauszuarbeiten, die schon im NT selber, vor allem in den Pastoralen und bei Lukas, Platz gegriffen hat. Man hat die in den Pastoralen tradierte Gemeindeordnung als Ausdruck christlicher Bürgerlichkeit verstanden. In gewisser Weise dürfte das zutreffen, wie das Schwinden der urchristlichen Eschatologie beweist. Wichtiger wird jedoch sein, daß die hier zur Sprache kommende Gemeinde aufs schwerste in die Defensive gedrängt ist und ihre Ordnung so etwas wie einen mit letzter Anstrengung gegenüber den Angreifern aufgerichteten Schutzwall darstellt. Zunächst soll sie ganz einfach die Grenzen markieren, welche Kirche und Welt von einander scheiden. Denn Kirche ist hier nicht mehr von der paulinischen Missionssituation aus als weltweiter Christusleib, als Herrschaftsbereich der die Welt in ihrer Totalität angreifenden Gnade begriffen. Sie ist vielmehr Haus Gottes, familia dei, und als solche fremdem Zugriff ausgesetzt und des Schutzes bedürftig. Daß man schon die vom römischen Imperium aufsteigenden Gefahren wahrnähme, läßt sich keineswegs sicher behaupten. Aus 2. Tim. 1, 15ff. wird man dagegen schließen dürfen, daß der paulinische

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Charakter der Gemeinden im Hinterland um anderer kirchlicher und kirchenpolitischer Bindungen willen aufgegeben wird. Vor allem macht die Gnosis der Gemeinde zu schaffen, so daß diese also in einer doppelten Front steht. Man führt den Kampf um die paulinische Tradition, indem man wie der Apostel den Schwärmern gegenüber die Popularphilosophie zur Hilfe ruft und von ihren Motiven und Schlagworten aufs stärkste profitiert. Geleitet wird der Widerstand von einem einzigen Zentrum aus: Man gruppiert sich um den apostolischen Delegaten und das diesem verbundene Presbyterium. Das plötzliche Auftreten dieser Instanzen ist höchst bemerkenswert. Denn mit Bestimmtheit läßt sich behaupten, daß die paulinische Gemeinde zu Lebzeiten des Apostels ein Presbyterium nicht besessen hat. Anders wäre das Schweigen darüber in allen Paulusbriefen unbegreiflich. Es erscheint gänzlich ausgeschlossen, daß der Apostel sich in seinem antignostischen Kampf und zur Verteidigung seiner eigenen Autorität nicht einer solchen Instanz, wäre sie vorhanden gewesen, hätte bedienen sollen. Eine vorhandene feste Gemeindeleitung wäre von unschätzbarem Wert gewesen, wo es galt, bedrohte Ordnung zu schützen, zerstörte wiederherzustellen. Sie konnte in Streitfällen verantwortlich gemacht und, wie es in den Pastoralen geschieht, mit der Erinnerung an Ordination und Gelübde jederzeit als ausführendes Organ des apostolischen Willens eingesetzt werden. Wenn nicht der mindeste Versuch in dieser Richtung erfolgt, dann redet das eine eindeutige Sprache. Die Bildung des Presbyteriums als eines geschlossenen Kreises der Gemeindeleitung stammt wahrscheinlich aus Jerusalem, wird jedenfalls dort wohl schon durch jene Autoritäten, von denen Gal. 2 spricht, und dann einwandfrei durch die Apostelgeschichte bezeugt. Erkennt die Gemeinde der Pastoralen in ihrer Krise die Notwendigkeit einer festen Leitung und richtet sie deshalb nach Tit. 1, 5 in ihrem Bereich überall Presbyterien ein, so bestätigt sie damit einerseits, daß es diese Instanz für sie erst seit kurzem gibt, andererseits daß sie unter judenchristlichem Einfluß steht. Das dürfen wir um so gewisser behaupten, als auch die in 1. Tim. 4, 14; 5, 22 und 2. Tim. 1, 6 erwähnte Ordination nur aus judenchristlicher Tradition in die paulinische Gemeinde gelangt sein kann. Sie hat denn auch den gleichen Sinn wie im Judentum, ist nämlich Geistmitteilung und bevollmächtigt zur Verwaltung des depositum fidei von 1. Tim. 6, 20, worunter genauer die paulinische Lehrtradition verstanden werden darf. Das besagt jedoch, daß ein der übrigen Gemeinde gegenüberstehendes Amt zum eigentlichen Geistträger geworden ist und die urchristliche Anschauung, wonach jeder Christ in der Taufe den Geist empfängt, zurücktritt, ja faktisch verschwindet. Ebenso deutlich ist, daß sich das nicht mehr mit der paulinischen Charismenlehre verträgt. Jüdisches Erbe verdrängt das

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paulinische zum mindesten an einer zentralen Stelle der Verkündigung. So erscheint das Wort Charisma denn auch nur noch in 1. Tim. 5, 14 und 2. Tim. 1, 6, also höchst aufschlußreich im Zusammenhang von Aussagen über die Ordination. Bezeichnet wird damit der Ordinationsauftrag und die Bevollmächtigung zur Verwaltung des depositum fidei. Unschön, aber völlig sachgemäß mag man vom Amtsgeist sprechen.

Der vorliegende Sachverhalt erhält noch schärfere Kontur, wenn wir auf die außerordentliche Bedeutung der apostolischen Delegaten in unsern Briefen achten. Sie sind ja nicht bloß die angeblichen Briefempfänger, sondern zugleich diejenigen, welche für die gesamte Gemeindeordnung, den Kampf gegen die Häretiker und insbesonders die Bildung der Presbyterien verantwortlich gemacht werden. Da die Briefe nicht von Paulus verfaßt, also auch nicht wirklich an Timotheus und Titus gerichtet sind, muß es mit diesem Auftrag eine grundsätzliche Bewandtnis haben. Von 2. Tim. aus, den Paulus angeblich als sein Testament hinterlässt und der in Wahrheit ein Bischofsspiegel ist, wird man behaupten dürfen, daß der apostolische Delegat in unsern Briefen als Zwischenglied zwischen Apostel und monarchischem Bischof und als Urbild des letzten betrachtet wird. Unter der Adresse des apostolischen Delegaten wird also in Wirklichkeit der monarchische Bischof angeredet und an seine Pflichten gemahnt. Seine Aufgabe ist die Fortführung des apostolischen Amtes in nachapostolischer Zeit. Er steht mit andern Worten in der apostolischen Sukzession, genauso wie der Rabbi in der Sukzession des Moses und Josua die Lehrtradition und Rechtsprechung erhält und jure divino, nämlich durch die Geistmitteilung bei der Ordination bevollmächtigt, handhabt. Damit ist jener Amtsbegriff gebildet, der die Folgezeit bestimmen wird. Zum mindesten faktisch gibt es nun die Unterscheidung von Klerikern und Laien. Ein Traditions- und Legitimitätsprinzip sichert unausgesprochen, aber als unverkennbare Grundlage der gesamten Gemeindeordnung die Autorität des institutionellen Amtes, das sich in Presbyterium, Diagonal und Witwen-Institut mit ausführenden Organen umgibt. Was diesen Vorgang so ungeheuer spannend werden läßt, ist dies, daß er sich auf dem Boden gerade des paulinischen Missionsfeldes abspielt. Denn das beweist ja, daß die paulinische Konzeption einer Gemeindeordnung vom Charisma aus der vom Apostel geschaffenen Kirche abhanden kam, und zwar weil sie ihr nicht mehr realisierbar erschien. Die Antwort auf die Frage, wie es dahin kommen konnte, liegt auf der Hand: Der Ansturm der Gnosis drohte die Gemeinde zu überwältigen. Auch die Gnostiker beriefen sich auf ihre Taufe, auf den in ihnen redenden und durch sie wirkenden Geist, auf ihre christliche Einsichten. Nun muß man sich des Enthusiasmus erwehren, indem man Lehre und Leitung zuverlässigen Händen

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anvertraut, ein festes Amt schafft, an welchem fremde Ansprüche sich brechen, dieses Amt an eine feierliche Ordinationsverpflichtung bindet und damit von vornherein ungeeignete Elemente ausschaltet, es mit ebenfalls verpflichteten Hilfskräften umgibt, welche die Betreuung der Gemeinde bis hin zu deren letzten Gliede verbürgen, und das Amt schließlich in eine konstruierte Tradition hineinstellt und seine Autorität durch eine Legitimitätstheorie unangreifbar abschirmt. Das offensichtlich durch das aus Palästina geflüchtete Judenchristentum vermittelte Erbe des Judentums ist der Schutzwall, hinter welchen sich die von Paulus begründete Kirche vor dem Enthusiasmus behauptet hat. Die Popularphilosophie aber gibt die Motive und Stichworte, mit deren Hilfe Ausfälle vorgenommen und die Auseinandersetzung im einzelnen geführt werden. Man wird nicht übersehen, daß Not und Notwendigkeit bei dieser Umwandlung Pate gestanden haben, und wird sich deshalb hüten, ihr Recht zu bestreiten. Das eigentliche theologische Problem steckt nicht in der faktischen Strukturänderung des Verhältnisses von Gemeinde und Amt. Wollte man das behaupten, würde man das Gewicht verkennen, das gerade theologisch der geschichtlichen Situation gebührt, und der Illusion den Vorrang vor der Wirklichkeit einräumen. Man würde auch die paulinische Grundentscheidung vergessen, welche Relevanz nicht den Faktizitäten, sondern der Modalität einräumt. Die erfolgte Strukturänderung läßt sich gerade von da aus durchaus rechtfertigen. Was den Vorgang theologisch, jedenfalls von Paulus her, so fragwürdig werden läßt und den Übergang in frühkatholische Anschauungsweise markiert, ist, daß diese Umwandlung nicht mit Not und geschichtlicher Notwendigkeit, sondern mit einem Traditions- und Legitimitätsprinzip verknüpft und begründet wird, der Geist also als Organ und Sinn eines Prinzips erscheint.

In der Apostelgeschichte wird die gleiche Entwicklung sichtbar, wobei die bestimmenden Anschauungen noch klarer heraustreten. Der Charismabegriff ist nun völlig verschwunden. Schon Paulus selber setzt überall in seinen Gemeinden Bischöfe und Presbyterien ein. Die Abschiedsrede in 20, 17ff. bestätigt den antienthusiastischen Charakter dieser Kampfmaßnahme. Das Traditions- und Legitimitätsprinzip bildet geradezu den roten Faden für die Darstellung des ganzen ersten Teiles der Apostelgeschichte. Es bestimmt bereits den Apostelbegriff als solchen. Wird in 1, 22 noch vom μάρτυς τῆς ἀναστάσεως gesprochen, so ist das ein Überrest aus wahrscheinlich schon vorpaulinischer Überlieferung. Lukas selber gibt sich damit nicht mehr zufrieden. Für ihn ist der Apostel nach 1, 21 und 10, 39 Begleiter des historischen Jesus vom ersten Augenblick seines Auftretens an. Solche Variation hat den Sinn, daß der Apostel jetzt zum Garanten der

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evangelischen Tradition wie später zum Garanten und Kriterium des Kanonischen werden kann. Denn in der inner- und außerkirchlichen Auseinandersetzung benötigt man nunmehr Garanten für die Zuverlässigkeit der eigenen Lehrüberlieferung. Dementsprechend ist das apostolische Zeugnis Tatsachenzeugnis, und rückt im Unterschied zu den Pastoralen der Urapostolat in den Vordergrund. Er wird durch Petrus repräsentiert und bildet als geschlossener Kreis der Zwölf das Fundament der Kirche. Nur was auf solcher Basis geschieht, erfolgt in der Kirche. So muß, als die Hellenismen auf eine Faust Judäa und Samaria missionieren, nach Kap. 8-10 Petrus die gewonnenen Gebiete nachträglich inspizieren, ihnen den apostolischen Segen spenden und sie damit in den Verband der apostolischen Kirche eingliedern. Wenn Philipps in Samarien tauft, so vermag er, weil nicht dazu beauftragt, den Geist nicht mitzuteilen. Die durch Petrus vollzogene Handauflegung hilft nach 8, 14ff. erneut diesem Mangel auf. Denn nur die Kontinuität der apostolischen Kirche gewährt den Geist. Nach Kap. 11 befinden die Apostel über das Werk der Heidenmission, das trotz der Missionsarbeit der Sieben und der Aktivität Antiochiens in der Bekehrung des Kornelius durch den Apostelfürsten inauguriert werden muß. Zwei lange Kapitel stellen mit unaufhörlichen Wundern die Wichtigkeit dieses Vorganges jedem Leser unüberhörbar heraus. Nach Kap. 15 befinden die Apostel über das Werk des Paulus, der als Angeklagter vor ihnen steht und selber fast nicht zu Worte kommt. Das braucht er auch nicht, weil Petrus und Jakobus sich das paulinische Evangelium zu eigen machen. Da sie darauf hinweisen können, daß der Streitfall durch die Korneliusbekehrung praktisch längst entschieden ist, wird den Klägern der Wind aus den Segeln genommen. Geradezu verwegen ist endlich die Paulus selbst gewidmete Darstellung. Seine Beauftragung erhält er in 9, 6 durch Ananias, der ihm nach 9, 17 auch den Geist mitteilt. Barnabas präsentiert ihn den Aposteln, die ihn ihrerseits nach 9, 27 bestätigen. Seine Entsendung erfolgt im Auftrag der antiochenischen Gemeinde, der er pflichtgemäß nach der ersten Missionsreise Rechenschaft ablegt. Nach 11, 32f. hat ihn wieder Barnabas, der selber als jerusalemer Delegat fungiert, nach Antiochien geholt. Außer in der Tradition von 14, 4.14 wird Paulus der Aposteltitel beharrlich verweigert. Seine Tätigkeit wird, und zwar auch von ihm selbst, wie die der Sieben in 13, 32; 14, 7.15; 16, 10; 17, 18 als „evangelisieren” beschrieben. Das eben ist er nach der gesamten Darstellung im Unterschied zu den Zwölf: Evangelist, Trident der apostolischen Überlieferung im heidnischen Missionsfelde. Genauso haben die Sieben nach 6, 6 ihr Amt durch Handauflegung von den Zwölf empfangen, erhält nach 18, 24ff. Apollos christlichen Unterricht durch die Paulusgefahrten Aquilas und Priscilla, obgleich er den Geist besitzt

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und bereits gewaltig gepredigt hat, nimmt Paulus endlich die Johannesjünger in die christliche Gemeinschaft auf, die in Ephesus noch nichts vom heiligen Geist vernommen haben sollen, obgleich dort eine christliche Gemeinde besteht und selbst jeder Angehörige eines hellenistischen Mysterienverbandes von der Kraft des Pneuma weiß. Daß hier nicht mehr oder weniger getreu Historie nachgezeichnet, sondern auf der ganzen Linie konstruiert wird, sollte eigentlich nicht bezweifelt werden, selbst wenn man bedenkt, daß Lukas umlaufende Anschauungen und Traditionen weiterreicht und also nicht absichtlich Geschichte fälscht. Auf die Frage, wem auf diese Weise genützt wird, liegt die Antwort selbstverständlich bereit: Interessiert ist daran allein jene Kirche, welche in der Auseinandersetzung mit der Irrlehre ihre Legitimität nachweisen muß und sie durch die Behauptung der Kontinuität zum Urapostolat nachweist. Außerhalb dieser Kirche, die zum heiligen Raum in der Welt geworden ist und sich auf das heilige Amt und die heilige Tradition des Urapostolates gründet, gibt es kein Heil, hat man nicht den Geist. Lukas hat zum ersten Male, soweit wir zu sehen vermögen, die frühkatholische Traditions- und Legitimitätstheorie propagiert. Auch er hat es zweifellos nicht mutwillig, sondern in Abwehr der Kirche drohenden Gefahren getan. Der Historiker kann nicht anders als zugeben, daß sich die hier vorgetragene Theorie dem Enthusiasmus gegenüber als wirksamstes Kampfmittel erwiesen und das junge Christentum davor geschützt hat, im Schwärmertum unterzugehen. Die Kanonisierung der Apostelgeschichte ist insofern als Dank der Kirche verständlich und verdient.

Der Theologe sieht sich nun freilich bedrängenden Fragen konfrontiert. Ein Problem ist es schon, wie es zu solcher Geschichtskonstruktion kommen konnte. Sie ist ja nicht aus dem Nichts erwachsen. Wieder würde ich wie bei der Frage nach dem Ursprung der Ordination und der Presbyterien in den Pastoralen auf das Judenchristentum deuten. Die Wurzel der frühkatholischen Theorie dürfte in der apokalyptischen Konzeption des neuen Israels zu suchen sein, das von den Zwölf in seinen 12 Stämmen mit der Vollmacht des Geistes und nach heiligem Recht gerichtet wird und in Jerusalem seinen Mittelpunkt hat. Der apokalyptische Traum der ältesten Judenchristenheit ist an der entstehenden Heidenkirche und nicht zuletzt an Paulus zerbrochen, seine Ideen aber sind wohl durch Vermittlung der judenchristlichen Diaspora auf hellenistischem Boden weitergewandert und begegnen in neuer Gestalt in der frühkatholischen Konzeption von der Kirche als Heilanstalt. An die Stelle der Apokalyptik trat die Geschichtstheologie, die zumal in den Reden der Apostelgeschichte sichtbar wird. Ihr Merkmal ist die These der an Hand der Schrift nachprüfbaren historischen Kontinuität der

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Heilsgeschichte, welche nur Verblendete nicht gewahren. Jesu Kreuz ist hier nicht mehr Skandalen, sondern in Mißverständnis der Juden, das durch Gottes Eingriff zu Ostern handgreiflich und augenscheinlich korrigiert worden ist. Die Kirche aber bildet das eigentliche Ziel der erbaulich gesehenen Geschichte. Sie ist die Lehrerin der unwissenden Juden und Heiden. Sie klärt die letzten wie in der Areopagrede bis hin zu Gottesbeweisen auf, durch zahllose Wunder legitimiert und die Ungläubigen überzeugend, die Irrlehrer verdammend, wie es Simon Magus durch Petrus geschah, die Sünder strafend, wie es in der Geschichte von Ananias und Sapphira vorgebildet wird. Wenn Paulus in Gal. 4, 26 vom himmlischen Jerusalem sagen konnte, es sei die Mutter der Gläubigen, so wird nun auf die vorfindliche Kirche als Hüterin der heiligen Tradition und als Offenbarungsraum des sich wunderbar bezeugenden Gottes übertragen.

Damit hat sich die Fiktion in die Verkündigung gemengt. Theologia gloriae verdrängt jetzt die theologia crucis. Der fiktive Charakter der hier konstruierten Geschichte wird wie durch die Spannungen zwischen Tradition und Komposition in der Apostelgeschichte so allein schon durch den leidenschaftlichen Protest des Paulus im Eingang des Galater erwiesen, daß er sein Amt nicht von und durch Menschen empfangen habe. So darf man seine Konzeption vom Wesen und der Ordnung der Kirche nicht mit der im Frühkatholizismus aufkommenden harmonisieren. Sie steht dazu in schroffem Widerspruch. Das zeigt sich besonders deutlich darin, daß der paulinische Charismabegriff von der Folgezeit nicht mehr verstanden wird. Man behält ihn zwar bei, gibt ihm jedoch eine nichtpaulinische Ausrichtung. Er dient dazu, jene Glieder der Gemeinde zu kennzeichnen, welche sich kraft einer besonderen Begabung außergewöhnlicher Art von der übrigen Gemeinde abheben. Das heißt, daß Charisma nun erneut mit dem πνευματικόν der hellenistischen Welt identifiziert wird, dem Paulus es gerade entgegengestellt hatte. Die paulinische Theologie ist an dieser Stelle wie anderswo vergessen und abgelöst worden. Das NT selber bekundet das schon. Es spiegelt als historisches Dokument auch die historischen Gegensätze, Krisen und Wandlungsprozesse wider, welche die gesamte Kirchengeschichte bestimmen, und stellt damit uns vor die Frage nach der Einheit und Mitte der Schrift.

Am stärksten sollte uns jedoch das Problem bedrängen, warum selbst der Protestantismus, sofern ich es recht sehe, nie ernsthaft versucht hat, eine Gemeindeordnung unter dem Aspekt der paulinischen Charismenlehre zu schaffen, sondern das den Sekten überlassen hat. Fragt man nach dem Grunde dafür, scheint bereits die frühkatholische Kirche zu antworten, daß ein solcher Versuch mit Notwendigkeit der Schwärmerei Haus und Tür öffnet. Denn es läßt sich ja kaum

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bestreiten, daß die paulinischen Gemeinden, soweit sie sich nicht mehr oder minder freiwillig einer andern Führungsgewalt anvertrauten, bereits nach einem Menschenalter vom Enthusiasmus verschlungen worden sind. Ist es also Illusion, alle Verantwortung und jeden Dienst in der Gemeinde auf die Taufe zu gründen, und kann man das allgemeine Priestertum aller Gläubigen proklamieren und üben, ohne alsbald dem religiösen Individualismus zu verfallen und Kirche als Kirche preiszugeben? Selbst wenn man dieser Meinung wäre, würde man freilich zu sehen haben, daß Paulus den konstruktiven Charakter des Kirchen- und Amtsbegriffs, der den seinigen ablöst, erkennen läßt und zu einer Kritik der dahin treibenden Ideologie zwingt. Beruht jedoch seine Bedeutung wesentlich auf dieser kritischen Funktion seiner Theologie? Sollte es so sein, daß Paulus, der zeit seines Lebens das Schwärmertum bekämpft hat, kirchliche Tradition nicht zu begründen, sondern nur zu zersetzen vermag, weil er den Christen und die kirchliche Gemeinschaft überfordert und darum doch auch seinerseits zum Schwärmertum anleitet?

Der Historiker kann als solcher diese Frage nicht beantworten. Alle Geschichte entläßt uns mit offenen Problemen und quälenden Rätseln, auch jene Geschichte, die auf den Blättern des NT aufgezeichnet wurde. Jene direkte Antwort, die wir dort immer wieder für unsere Nöte suchen, finden wir in ihr nicht einfach vorgeschrieben. Sie findet man in ihr nur, wenn man die eigenen Lösungen in die Vergangenheit zurückprojiziert, was nun freilich zu allen Zeiten geschehen ist. Direkt schenkt uns alle Vergangenheit nur die Fragen und Nöte von ehedem und menschliche Versuche, damit auf verschieden Weise fertig zu werden. Vielleicht schärft sie aber nicht nur unsern Blick, sondern auch unser Gewissen und sagt uns, daß es keiner Zeit erspart bleibt, neu anzufangen, kritisch und zugleich demütig die Geister auch des Vergangenen zu prüfen, weil man selbst in Entscheidung hineingerufen ist. Vielleicht werden wir dabei dann zur Erkenntnis getrieben, daß es Kirche als Gemeinde Christi nie anders gibt als so, daß Gnade neu nach uns greift und uns ihr neu dienstbar werden läßt und daß wir die Sorge für die Kontinuität der Kirche allein dem überlassen müssen, der allein Gnade dauern lassen kann.


Käsemann, E. (1965a)

  • Amt und Gemeinde im Neuen Testament