Campenhausen, H. Frh. von

Das Problem der Ordnung im Urchristentum und in der alten Kirche

1959

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Das Problem der Ordnung im Urchristentum und in der alten Kirche

 

I.

Der Begriff der Ordnung, táxis (τάξις), ist in den Anfängen der Kirche überaus selten. Er begegnet mit Betonung innerhalb des ganzen Neuen Testaments wohl überhaupt nur ein einziges Mal. Das geschieht dort, wo Paulus der Verwirrung in den korinthischen Gemeindeversammlungen zu steuern sucht, in denen sich prätentiöse Ekstatiker mit einem unverständlichen Gerede breitzumachen beginnen. Paulus sucht die hier drohenden Gefahren einzudämmen, gibt grundsätzliche Erwägungen und praktische Regeln, die das Durcheinander und die frommen Rücksichtslosigkeiten unmöglich machen sollen, und schließt dann mit folgender Mahnung zusammenfassend ab: „Darum, liebe Brüder, fleißiget euch des Weissagens und wehret nicht, in Zungen zu reden; lasset aber alles ehrbar und in Ordnung zugehen” — πάντα δὲ εὐσχημόνως καὶ κατὰ τάξιν γινέσθω (1. Kor. 14, 40). Eine anständige, geordnete Weise des Gottesdienstes und des Umgangs überhaupt erscheint also als die selbstverständliche Form, in der das geistliche Leben innerhalb einer Gemeinde sich zu entfalten hat, obschon immer so, daß die Freiheit in der Bewegung ihres Glaubens und Tuns dadurch nicht unterdrückt, der Geist nicht „gedämpft” wird (1. Thess. 5, 19). Man wird das knappe Sätzchen nicht so auffassen dürfen, als wollte Paulus seinen Gemeindekindern eine überraschende Neuigkeit mitteilen; es handelt sich weit eher um eine „Erinnerung”, die sich ohne weiters versteht. Paulus bezeichnet mit diesen Worten über die Ordnung nicht ein zentrales Anliegen christlichen Verkündigung oder die Kraftquelle, aus der die Gemeinde ihr Zusammenwirken gestaltet.

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Das wird wenige Verse vorher deutlich, wo er sich ausdrücklich gegen die „Unordnung” als etwas wendet, was sich mit dem Wesen und Willen Gottes keinesfalls vertrage. „Gott”, erklärt Paulus (V. 33), „ist kein Gott der Unordnung.” Aber der positive Gegenbegriff, den er dazu bildet, ist dann nicht etwa die formale Vorstellung einer bloßen „Ordnung”, sondern greift viel tiefer: „Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens.” Der Friede mit Gott und der Friede, der von Gott ausgeht — erst damit ist das eigentliche Wesen und die Kraft des Neuen bezeichnet, das die Kirche auch in ihrem konkreten Aufbau und im Zusammenwirken all ihrer Glieder von innen her bestimmt: es ist die Kraft der Liebe und die Wirkung des Heiligen Geistes, den Christus geschenkt und der das Wollen und Sein der Christen in Besitz genommen hat. Von diesem Einen und Entscheidenden muß in der Kirche und in ihrer Verkündigung vor allem die Rede sein — alles weitere erschließt sich von hier aus und nur von hier aus von selbst.

Damit ist der Punkt bezeichnet, von dem unser Problem ein für allemal gesehen werden muß und allein richtig begriffen und besprochen werden kann. Die Kirche entsteht nicht durch die Ordnung und lebt nicht von der rechten Ordnung, sondern allein in Christi Geist; wenn sie aber geistlich lebt, dann ist und kommt sie auch in Ordnung, dann stellt sie durch den Geist des Friedens auch die rechte Ordnung in ihrer Mitte her, ohne sich an diese Ordnung zu verkaufen. Die Dinge liegen hier auf praktischem Gebiet ganz ähnlich wie für das Glauben und gläubige Erkennen gegenüber der Vernunft, von der im Urchristentum ja gleichfalls nicht viel die rede ist. Der Glaube kommt eben nicht aus der Vernunft und die Wahrheit, die in Christus ergriffen wird, liegt weit über alle Vernunft hinaus. Aber man bejaht darum nicht die Unvernunft des Denkens, so wenig wie die Unordnung im gemeinsamen Tun; der Glaube wirkt vielmehr sachlich und insofern vernünftig. Gott ist, könnte man analog formulieren, kein Gott der Unvernunft, sondern der Wahrheit.

Es ist von hier aus gesehen jedenfalls kein Zufall, daß durchaus nicht nur bei Paulus, sondern, wie gesagt, im ganzen Urchristentum

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von der Ordnung als solcher oder gar von einer Ordnung um der Ordnung willen so wenig — ja, wenn wir von dem einen römischen Klemensbrief absehen, kann man getrost sagen: überhaupt nicht die Rede ist. Man hat wichtigere, brennendere Aufgaben der Verkündigung, und man weiß, daß hier, an der Christus-Verkündigung allein die eigentliche Entscheidung fällt. Dagegen finden die Fragen der kirchlichen Ordnung nur langsam, gelegentlich und durchaus in zweiter Linie eine stärkere Beachtung.

Das heißt indessen nicht, daß die älteste Kirche keine Ordnung gewollt oder überhaupt noch keine Ordnung gehabt hätte. Die ängstliche Scheu vieler älterer Forscher, das Vorhandensein irgendwelcher „kirchenrechtlicher” Elemente im Urchristentum auch nur von ferne anzuerkennen, ist uns heute fast unverständlich geworden. Derartiges begegnet sozusagen auf Schritt und Tritt. Daß die Gemeinden für den Unterhalt der Missionare aufkommen müssen, daß Ehen nicht geschieden werden dürfen, daß bei Klagen und Anklagen ein bestimmter Weg eingehalten werden soll, das alles und noch vieles andere sind bestimmte Regelungen, die in der Kirche gelten und gehalten werden, Ordnungen, denen man insoweit auch den rechtlichen Charakter keinesfalls absprechen kann. Ihr Sinn ist freilich einfach und liegt auf der Hand, sie bewähren sich und werden darum entschieden bewahrt, ohne daß eine bestimmte Theorie des Kirchenrechts oder eine ausgeführte „Theologie der Ordnungen” hierzu erforderlich würde.

Es hängt damit und es hängt mit den ganzen sehr flüssigen Verhältnissen der frühen Kirche zusammen, daß diese Ordnungen landschaftlich und in den verschiedenen Missionsgebieten anfangs sehr stark auseinandergehen. Man hat zunächst keine einheitliche Verfassung, keinen übereinstimmenden Kanon und kein gleichlautend formuliertes Bekenntnis. Am längsten halten sich die Verschiedenheiten in der Gestaltung des Gottesdienstes und der Liturgie. Aber durch den gegenseitigen Austausch im gemeinsamen Kampf gegen Verfolger und Häretiker, durch das planmäßige Wirken der großen kirchlichen Vororte und schließlich, im größten Stil, durch die uniformierende Wirkung der konziliaren und staatlichen Gesetzgebung

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innerhalb der einen Reichskirche gehen die Verschiedenheiten doch zurück. Im Zusammenhang damit bilden sich auch die Anfänge einer kirchlichen Rechtswissenschaft aus, die in der Zusammenfassung und im Ausgleich älterer Bestimmungen eine einheitliche Praxis zu fördern sucht. Es ist natürlich ganz verkehrt, diese durchaus sinnvolle Entwicklung schon als solche wie eine Art Abfall oder als das bedauerliche Anzeichen einer vermeidbaren oder auch unvermeidlichen „Verweltlichung” der Kirche zu beurteilen. Es liegt vielmehr im Wesen jeder Ordnung, daß sie zwar je nach den Verhältnissen und Umständen auch Wandlungen erfahren und Ausnahmen zulassen kann, aber im Ganzen doch nach Einheit und Vereinheitlichung strebt, die mit der Größe und Dichte des kirchlichen Bereichs und Zusammenhangs naturgemäß zunehmen muß und keinesfalls einfach verschwinden kann. Für die theologische Beurteilung kommt es nicht auf das Maß und die Ausdehnung des Geordneten an und für sich an (obgleich natürlich ein Zuviel oder Zuwenig an rechtlicher Organisation immer möglich und meist auch gleichzeitig wirklich ist), sondern auf die grundsätzliche Bedeutung und den Ort, den man dem Ordnungsgedanken im Ganzen der Kirche und ihres geistlichen Lebens zuweist.

Es kommt darauf an, daß die Kirche vom Wort, vom Geist und vom Frieden Gottes her lebt und von da aus — wie es Paulus fordert — ihre Ordnung findet und bestimmt, von selbst oder auch mit Hilfe bewußter, ruhiger und sachlicher Überlegungen in Ordnung bleibt oder in Ordnung kommt. Es ist die dauernde Gefahr eines katholischen oder katholisierenden kirchlichen Ordnungsdenkens, gegenüber der geistlichen Quelle des Lebens und auch des Ordnungslebens der Kirche, sich selbst zu verabsolutieren, die „rechte Ordnung” als solche für einen wesentlichen Halt anzusehen und zu einem unmittelbaren Inhalt der Verkündigung zu machen. Dagegen erhebt sich dann sogleich die entgegengesetzte Gefahr eines verzerrten Protestantismus, der dem Geist zu dienen meint, wenn er die Ordnung einschränkt, für gleichgültig erklärt oder gar zerstört. So begibt man sich letzten Endes nur mit negatieven Vorzeichen in die gleiche Abhängigkeit von einem viel zu wichtig genommenen menschlichen

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Ordnungsdenken, an dem die Kirche stirbt. Es gibt nur eine Kraft aus der die Kirche lebt: das ist die Verkündigung des Wortes und der Wahrheit, die den Glauben wirkt und durch den Glauben den Willen zum rechten Tun, das auch die rechte Ordnung in sich schließt. Die Ordnung ist wie das gute Werk immer ein Zweites und kann nur dort recht verwirklicht werden, wo das Erste und Eine vor allem und in diesem Sinne auch allein bejaht und gewollt wird. Das ist das evangelische Grundprinzip, das sich im Leben wie in der Lehre auswirken muß und durch das die Ordnung dann weder vergötzt noch verworfen ist.

Dieses evangelische Prinzip hat die alte Kirche noch nicht als solches gekannt, und es ist auch im Neuen Testament noch kaum in dieser Form unmittelbar bezeichnet; es ist eben das interpretatorische Grundprinzip, das erst die Reformation auf unsere Frage ausdrücklich angewandt hat. Es ist klar, wo beim Fehlen einer solchen direkten Unterscheidung die Hauptgefahr der alten Kirche zu suchen ist: es ist die „katholische” Gefahr einer unwillkürlichen Einebnung des Heils, des Glaubens und der Rechtfertigung in den Bereich der Ordnung und einer in sich selbst stehenden Kirchlichkeit. Die Ordnung wird nicht mehr streng als eine abhängige Funktion des Glaubens genommen, sondern mit ihm zusammengefaßt und mehr oder weniger in eines gesehen, und dadurch muß dann auch die allentscheidende Bedeutung der Tat Christi und die Wirklichkeit des geschenkten Heils für die Christen verdunkelt und verkürzt werden. Aber ein solcher unklarer Zustand der Gefährdung bedeutet noch nicht den Abfall und insbesondere noch nicht die ausdrückliche Verleugnung des evangelischen Prinzips, wie sie nach seiner Formulierung durch die Reformation im neueren Katholizismus allerdings weithin eingetreten ist. Die alte Kirche ist nicht nur in ihrer Lehre, sondern auch im Verständnis der Ordnung praktisch viel stärker evangelisch bestimmt, als man vielfach zuzugeben bereit ist. Ich betone das ausdrücklich gegenüber einer unhistorischen, grundsätzlich mißtrauischen, ultraprotestantischen Kritik, die überall dort, wo sie ihre reformatorischen Formeln nicht wiederfindet, und überall dort, wo sie einem naiven, unkritischen Bekenntnis zur Ordnung

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begegnet, das eigentlich Christlich-Evangelisch bereits verraten sieht und mit dem danach gebildeten Begriff des „Frühkatholizismus” nicht nur alle Väter einschließlich Augustins, sondern auch weite Partien des Neuen Testaments, insbesondere die lukanischen Schriften brandmarkt und nicht einmal mehr vor Paulus ganz haltmachen möchte. Die gefährlichste Wirkung solch einer pseudoprotestantischen Rechthaberei gegenüber den eigenen Ursprüngen liegt vielleicht darin, daß sie durch die Maßlosigkeit ihrer angeblich reformatorischen Kritik einen Ekel und Überdruß weckt, der nun gegen die vermeintliche Einseitigkeit der ordnungsfremden Reformation überhaupt mißtrauisch und unkritisch macht, so daß man ohne ernsthafte Vorbehalte wieder in die Vorstellung eines consensus quinquesaecularis und eines sakralen „credo ecclesiam” hineinschliddert, der all das wieder preiszugeben droht oder doch nicht mehr ernsthaft verteidigt, was uns die Reformation ein für allemal über die Relativität der Ordnungen und der äußeren Dinge in der Kirche überhaupt gelehrt hat.

Ich möchte nun in unvermeidlicher Vereinfachung der komplexen altkirchlichen Tatbestände in der Weise vorgehen, daß ich zunächst einige positive Richtlinien der Ordnungsbildung hervorhebe, die schon im Urchristentum wirksam waren und denen die alte Kirche im wesentlichen gefolgt ist, um dann in einem weiteren Teil zu zeigen, wie das Vertrauen auf die Heiligkeit der kirchlichen Ordnung die Heilsverkündigung und Heilsaneignung im evangelischen Sinne in Gefahr zu bringen droht und tatsächlich gefährdet. Fragen wir also zunächst nach den positiven Eigentümlichkeiten des frühkirchlichen Ordnungswillens; vergessen wir darüber nicht, daß diese ganze Fragenkreis, wie betont, zunächst noch am Rande steht, gleichsam nur gelegentlich auftaucht und von Fall zu Fall zur Entscheidung kommt. Es versteht sich auch, daß der allgemeine Begriff der „Ordnung”, mag er auch auf das ganze und eigentliche Leben der einen Kirche bezogen bleiben, doch ein sehr verschiedenes Gewicht besitzt und mancherlei Tendenzen und Abtönungen umschließen kann, je nachdem ob wir von der Ordnung des Gottesdienstes und der Gemeindewohlfahrt, von der Ordnung der

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Verfassung und der Ämter, der Ordnung des sittlichen Lebens und der Zucht oder schließlich auch von der Ordnung der Lehre und des Bekenntnisses handeln. Doch davon soll jetzt nicht mehr in extenso die Rede sein.

 

II.

Wir sind bei unseren grundlegenden Erörterungen von einem Paulusworte ausgegangen, durch das das richtige Verhältnis, in dem die Ordnung in der Kirche zu ihrem wahren, geistlichen Leben steht, sozusagen klassisch bezeichnet war. Von der Vorgegebenheit dieses Lebens aus kann man nicht absehen. Die Kirche ist kein Verein, der dadurch zustande kommt, daß seine Mitglieder sich eine bestimmte Lebensordnung und Verfassung geben, sondern die Kirche ist eine geschichtliche Wirklichkeit, die einen bestimmten Geist und eine bestimmte innere Ordnung der Liebe immer schon empfangen hat, durch die sie bereits vollständig lebt. Sie kann sich nur darum gewisse Ordnungen und Verfassungen geben, weil sie im Grunde schon geordnet und verfaßt ist — durch den Heiligen Geist, der aus der Predigt fließt, dem ursprünglichen Christuszeugnis, auf dessen Annahme im Glauben und durch die Taufe die Wirklichkeit der Kirche beruht. Insofern kann man im Gotteswort gewissermaßen die „Grundordnung” der Kirche erkennen, die als solche außer Diskussion bleibt. Alle Verkündigung und Mahnung und auch alle konkrete Ordnung der Kirche bleiben auf diese Urwirklichkeit und ihre Bejahung bezogen. Von dieser Regel gibt es keine Ausnahme. In diesem Sinne bezieht nicht nur Paulus seine konkreten Weisungen und Entscheidungen immer wieder auf seine anfängliche Verkündigung und das wunderbare neue Sein der christlichen Gemeinschaft zurück. Man erkennt den gleichen Zusammenhang, wenn das Matthäusevangelium seine Regel, wie mit einem sündigen Bruder zu verfahren sei, mitten unter die Worte stellt, die vom Suchen des Verlorenen durch den Hirten und von dem göttlichen Vergeben handeln, das uns zu Gleichem verpflichtet. Ebenso verknüpfen die Pastoralbriefe ihre Haustafeln und ihre Normen für die Diener der Kirche mit der Erinnerung an die ursprüngliche apostolische Verkündigung, die keine

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Verfälschung duldet, und unsere älteste Kirchenordnung, die Didache, beginnt mit einer Beschreibung des Lebensweges, dem der Weg des Verderbens kontrastiert. Spätere Kirchenordnungen sind ihr darin z.T. gefolgt, oder sie setzen ein Glaubensbekenntnis an den Anfang ihrer Rechtssätze. Die sogenannten Canones der Apostel schließen mit einem Verzeichnis der biblischen Bücher ab. „Vor allem anderen müssen wir”, heißt es im Eingang der Canones Hippolyti, „vom heiligen, gesunden Glauben reden, der sich auf unseren Herrn Jesus Christus bezieht, den Sohn des lebendigen Gottes ... Wir sind durch die Kraft Gottes mit einem festen Einheitsband umschlungen und scheiden uns von denen, die ... nicht bei uns stehen, die wir Schüler der Schrift sind.”

Die einzelnen Ordnungen und Regelungen, die man dann etwa über Wahlverfahren, Festfeiern oder Almosenverwaltung bekanntgibt, erheben natürlich nicht den Anspruch, unmittelbar aus der Heiligen Schrift oder aus dem Christusglauben gefolgert zu sein — auch dann nicht, wenn man sie in einem weiteren Sinne als „apostolisch” bezeichnet. Aber sie sollen dem Ursprung gemäß sein und keinesfalls widersprechen, indem sie den heiligen Leib der Kirche gliedern und schützen, wie es schon die Apostel befahlen. Es ist allemal die kirchliche, apostolische, konziliare oder bischöfliche Hirtenvollmacht, die die Ordnungen festsetzt und, vom Heiligen Geiste beraten, die notwendig werdenden Entscheidungen fällt. Es gibt kein für sich bestehendes, außerchristliches Recht, das als solches übernommen und auf die Kirche angewandt würde. Ich betone dies gerade deshalb ausdrücklich, weil es sich materiell natürlich vielfach um Einflüsse und Entlehnungen aus der Umwelt handelt. Die ersten Presbyterien in der Kirche stehen ohne Zweifel mit jüdischen Vorbildern in Zusammenhang, ebenso die Armenversorgung und das Friedhofswesen; die Behandlung der Frau, bestimmte Elemente des christlichen Kalenders, Fastenformen und dergleichen weisen uns ebenso deutlich auf die heidnisch-hellenistische Umwelt zurück. Im „Realwörterbuch für Antike und Christentum” ist zu all diesen Fragen ein stets wachsender Stoff gesammelt, und für den Erforscher der späteren kirchlichen Rechtsgeschichte bleibt immer noch viel zu

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tun. Aber niemals und nirgends begegnet uns die moderne Vorstellung von einem im voraus gültigen Recht, einer natürlichen Ordnung, die darum auch in der Kirche unbesehen in Kraft treten könnte. Das würde dem Wesen kirchlicher Ordnung widersprechen, die ja immer nur im konkreten Zusammenhang mit ihrem eigenen geistlichen Leben entsteht und entfaltet wird. Auch diese Haltung ist schon bei Paulus grundgelegt: einerseits ist es ihm selbstverständlich, daß die Kirche in ihrem sittlichen und rechtlichen Empfinden nicht hinter dem zurückbleiben darf, was „sogar den Heiden” einleuchtet; andererseits klagt sie aber auch nicht vor heidnischen Gerichten — sie ist selbst imstande, bei sich Ordnung zu halten, und findet gegebenenfalls nach ihren eigenen Voraussetzungen den Weg des Rechten und des Rechts.

Gegebenenfalls. Damit komme ich auf ein weiteres Charakteristikum des altkirchlichen Ordnungswillens, der — kaum je ausdrücklich formuliert — für die christliche Grundhaltung gleichwohl wesentlich und bezeichnend ist. Das ist das geringe Maß ausdrücklicher Regelungen und Vorschriften, das der geringen Betonung solcher Ordnungsfragen, von der wir ausgegangen sind, entspricht. Man baut die Kirchenordnung nicht immer weiter aus, sondern man läßt sie lieber im formalen Sinne unabgeschlossen. Darin zeigt die alte Kirche eine merkwürdige Verschiedenheit vom gleichzeitigen Judentum, das sich im werdenden Rabbinismus nicht genug tun kann, immer neue Gesetzesfragen aufzuwerfen, feste Bestimmungen und Antworten zu finden, und die Freiheit des Lebens so von allen Seiten her juristisch zubaut. Denn dort kommt es auf die Gesetzeserfüllung als solche an, sie sichert oder bringt das verheißene Heil, das in der Kirche durch Christus schon längst und ohne Gesetz zur Lebens-Wirklichkeit geworden ist. Die Kirche bleibt darum weithin beim freien Mahnen und Erinnern stehen. Wie spärlich sind z.B. in den Pastoralbrieven oder in der Didache die bestimmten, konkreten Vorschriften, etwa über die Versorgung der Geistlichen oder zu Zulassung der Frauen im Gemeindedienst. Aber auch die Kirchenordnungen des 3. und 4. Jahrhunderts bleiben — wenn man die rapide Ausdehnung und Entwicklung der Kirche und damit auch des kirchlichen

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Apparats während dieses Zeitraums bedenkt — überraschend knapp und dementsprechend elastisch. Das kirchliche Leben selbst und nicht der theoretische Eifer eines Kanonisten hat sie zustande gebracht. Sie sind gerade so ein mittelbares Zeugnis der geistlichen Führung und Verantwortung. Das berühmteste Beispiel einer bewußten Zurückhaltung im lückenlosen Ordnen und Verfügen ist der lang anhaltende Verzicht auf eine zölibatäre Gesetzgebung, wie sie etwa die Markioniten schon früh durchgeführt hatten und wie sie auch der anti-markonitischen Kirche wenigstens für die Kleriker naheliegen mußte. Man weiß, wie schon Paulus selbst mit dieser Frage ringt und die Ehe nur mühsam konzediert. Zum mindesten für die höhere Geistlichkeit ist der Zölibat schon im 3. Jahrhundert allgemein üblich und fast die Regel geworden. Aber noch auf dem Konzil von Nicäa protestierte der ehelose Bischof Paphnutius erfolgreich gegen das drohende Verbot einer Priesterehe: man dürfe den Priestern kein neues, allzu schweres Joch auferlegen und sollte es beim alten Brauche belassen. Die Kirche soll nicht willkürlich und nach Belieben verfügen — sie hält sich an das Gegebene, an das Notwendige und das in diesem Sinne Gebotene.

Damit kommen wir auf ein letztes, überaus bedeutsames Moment, das mit dem vorigen innerlich zusammenhängt: den konservativen Grundzug aller altkirchlichen — und nicht nur der altkirchlichen — Ordnungen. Er gilt nicht absolut — immer wieder hören wir auch von Änderungen und Reformen; aber sie bleiben in de Tradition, d.h. in der Kontinuität des Bewährten. Mit dem Gedanken der Kontinuität wirkt der Gedanke der Solidarität zusammen: man will sich mit neuen Ordnungen nicht vereinzeln, sondern am Ursprünglichen und ursprünglich Gemeinsamen festhalten. Es ist wichtig zu sehen, wie auch diese Gedanken, die noch heute besonders für die orthodoxe Kirche des Ostens bedeutsam sind, tatsächlich schon im Neuen Testament beginnen.

Die Forderung der ökumenischen Rücksichtnahme im Sinne der Respektierung eines allgemeinen Brauches ist von Paulus selber formuliert worden. Er betont nicht nur wiederholt, daß er — etwa in der Beurteilung der Sklavenrechte — in all seinen Gemeinden die

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gleichen Richtlinien erteilt hat, sondern er verweist auch, z.B. für die Verschleierung der Frauen, ausdrücklich auf die sonst geltende kirchliche Sitte. An sie sollte man sich halten und nicht ohne Not aus der Reihe tanzen. „Oder ist die Predigt etwa von euch ausgegangen? oder gerade nur zu euch gekommen?” (1. Kor. 14, 36). — Der Gedanke der Kontinuität mit den Ursprüngen wird im Neuen Testament neben den Pastoralbriefen besonders in der Apostelgeschichte des Lukas betont. Er zielt nicht nur — vor allem — auf die apostolische Lehre, sondern in Verbindung mit ihr auch auf das sittliche Vorbild der Apostel und auf die Bewahrung der heilsamen Ordnungen, die sie begründet haben. Das schließt zeitgemäße Änderungen — etwa in der Missionsmethode — keineswegs aus. Ein Musterbeispiel dessen, wie es in der Kirche unter der Leitung des Heiligen Geistes auch zu Neubildungen kommen kann, darf man wohl in dem Bericht von der Einsetzung der Sieben Männer erkennen. Die alten Führer der Kirche, die Zwölf Apostel, sind unter den sich wandelnden Verhältnisse einer wachsenden Gemeinde nicht mehr imstande, allen Anforderungen zu genügen. Das führt zu einem Notstand, ja zu einer gewissen Verstimmung, bis sie selber die Anregung geben, eine neue, geeignete Instanz zu schaffen. Die Gemeinde wählt sich die passenden Persönlichkeiten dazu aus, sie werden von den Aposteln anerkannt und gesegnet, und der Friede und die Ordnung in der Kirche sind wiederhergestellt.

Die älteste Kirche beginnt, wie schon betont, fast auf allen Lebensgebieten mit einer den Katholiken peinlich und auch uns überraschenden Mannigfaltigkeit der Formen und Ordnungen. Sie hat dann in zunehmenden Maße nach Einheit gestrebt, in einer Weise, die durchaus nicht nur als ein Abklatsch der politischen Reichsvereinheitlichung zu verstehen ist. Sie hat immer wieder auch Differenzierungen zugelassen (etwa in den verschiedenen Formen des Mönchtums), und auf liturgischem Gebiet bestehen, wie betont, zu Ausgang des Altertums zwischen den größeren, zusammenhängenden Kirchenkomplexen immer noch große Verschiedenheiten. In dieser Zeit beginnen dann auch gewaltsame Ausgleichsversuche, wie sie früher verpönt waren. Denn das Vorgehen des römischen Bischofs

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Viktor, der durch Abbruch der Gemeinschaft eine einheitliche Feier des Osterfestes erzwingen wollte, fand im Ausgang des 2. Jahrhunderts noch heftige Kritik und keine Nachfolge. Erst sehr viel später, in den Streitigkeiten der West- und Ostkirche, spielen solche und noch weit belanglosere Unterschiede, durch kirchenpolitische Eifersucht verschärft, eine beschämende, für die kirchliche Einheit verhängnisvolle Rolle.

Keine Trennung des Rechts vom Glauben und Wahrung der selbständigen, kirchlichen Entscheidung, Beschränkung des organisatorischen Ordnungseifers, ökumenischer Zusammenhalt und Festhalten am Alten und Gegebenen — von all diesen Tendenzen der altkirchlichen Ordnungsentwicklung ist keine stärker betont worden und erscheint uns heute keine problematischer als diese letzte, die stete Betonung des Ursprünglichen und der Tradition. Sie wird uns zum mindesten dann verdächtig, wenn sie den eigentlichen Bereich der biblischen Lehre überschreitet und den Umkreis der kirchlichen Ordnung, des Aufbaus und der Sitte ergreifen will. Das Pathos unserer Kirche in diesen Fragen ist durchaus vom Erlebnis der Reformation bestimmt, die ja tatsächlich nicht nur den Glauben reformierte, sondern von hier aus auch die überkommene Rechtsordnung und Sittlichkeit der römischen Kirche weithin über den Haufen warf. Wir wissen, daß es für die geistliche Einheit nicht erforderlich ist, in den kirchlichen Ordnungen und Bräuchen uniform zu sein, und wir betonen gerne, daß die Kirche nicht nur in ihrer Verkündigung, sondern auch in ihren rechtlichen Formen und Lebensordnungen beweglich bleiben muß, um ihren gegenwärtigen Auftrag zu erfüllen. Das ist unbestreitbar richtig und stellt gegenüber einem erstarrten Glauben an die Heiligkeit und Heilsamkeit der Ordnung und Tradition eine wichtige Korrektur dar. Aber es fragt sich, ob eine solche Korrektur des altkirchlichen Traditionalismus das wirklich trifft und mit Recht verwirft, was die frühen Jahrhunderte und was z.T. schon das Urchristentum mit seiner Bejahung der Ordnung und darum auch der alten Ordnungen eigentlich gesagt und gemeint haben. Gewiß lebt keine Kirche von der Kontinuität und ökumenischen Solidarität ihrer Ordnung, aber sie lebt erst recht nicht von der Diskontinuität und

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Willkür der ewigen Reform. Es liegt im Wesen aller Ordnung, wenn man sie überhaupt will, daß sie nach Möglichkeit einheitlich, zusammenhängend und auf die Dauer gewollt werden muß, daß sie in dieser Form sich zwar wandeln kann, aber immer auch ertragen, getragen und bewahrt werden muß, vorausgesetzt — und dies ist nun freilich entscheidend —, daß die Ordnung nicht wichtiger wird als der Geist, daß sie der unbedingten Verkündigung und Vergebung Christi dienen kann und ihr keinesfalls im Wege steht. Ist dieser Fehler schon in der alten Kirche begangen worden? oder genauer: wo und inwiefern ist dies schon in der alten Kirche geschehen, wenn sie ihre „apostolische” Ordnung verteidigte, und wo beginnt dann die falsche Heiligsprechung der Ordnung, durch die sie aus einem äußeren Mittel und Werkzeug zu einem unbedingten Wert und so zu einer Verleugnung oder Verkürzung des Einen wird, um das es eigentlich gehen sollte? Damit stehen wir beim letzten Teil unserer Betrachtung.

 

III.

Die Reformation hat die vorgefundene mittelalterlich-katholische Ordnung der Kirche vor allem an zwei Stellen durchbrochen und um des Evangeliums willen verworfen: sie verwarf die absolute Autorität des Papstes, der sich damit in „antichristlicher” Weise über die Autorität der Schrift erhoben hatte, und sie verwarf die katholische Ordnung der Buße, die durch die maßgebende Bewertung der menschlichen Sühneleistung die Erlösung Christi um ihren Sinn brachte. Ohne auf diese zwei konkreten Punkte einzugehen, kann man m.E. über Sinn und Wesen des reformatorischen Geschehens nicht reden und urteilen, so gewiß dies und vieles andere durch ein zentrales Neuverstehen der ursprünglichen Christusverkündigung bedingt und bestimmt ist. Ich muß in unserem Zusammenhang von Lehrfragen absehen und will für die alte Kirche jetzt nur zwei Punkte ins Auge fassen: wo begrenzt hier die Anerkennung des geordneten Amtes die Freiheit der Schrift? und: inwiefern begrenzt die Ordnung der Buße den evangelischen Charakter der Vergebung? Wir sind heute — vom Mittelalter immer weiter rückwärts schreitend — in diesen Fragen weit mißtrauischer geworden, als es die Reformationszeit

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selbst gegenüber der alten Kirche gewesen ist. Es fragt sich, wieweit wir dabei wirklich im Rechte sind. Eines jedenfalls steht fest und darf bei einer gerechten, historischen Prüfung nie außer acht gelassen werden: es ist nicht dasselbe, ob Abirrungen, Verdunkelungen und Mißbräuche gegen eine evangelische Kritik behauptet, verteidigt und festgehalten werden, oder ob sie sich unbemerkt eingestellt und eingeschlichen haben, ohne daß sie als solche gewollt waren. Dies letzte ist ja bis zu einem gewissen Grade immer der Fall. Aber solange der Irrtum nicht im Angesicht der Wahrheit verteidigt und ehe die enthüllte Wahrheit nicht selbst verdammt und verworfen ist, soll man über vergangene Generationen der Christenheit kein vorschnelles Urteil fällen.

Über den ersten Punkt — Ämterrecht und Schriftautorität — kann ich mich in der Hauptsache kurz fassen, obschon im einzelnen dazu viel zu sagen und viel zu fragen wäre. Daß die Heilige Schrift Quelle und Norm der kirchlichen Erkenntnis sei, daß die ursprüngliche Wahrheit, die in der Kirche gelehrt wird, mit ihr übereinstimmen und sachlich identisch sein müsse, ist selbst ein altkirchlicher Grundsatz, der in schweren Kämpfen gegen die Gnosis gewonnen und befestigt und niemals zurückgenommen oder vergessen worden ist. Zwar fehlt dem Grundsatz — naturgemäß — noch die reformatorisch-polemische Note gegen eingerissene innerkirchliche Irrlehren und Mißstände; aber das ändert nichts daran, daß es im ganzen Altertum nichts gibt, was der Schrift an die Seite gestellt, nichts, wodurch ihre kirchliche Geltung beschränkt würde. Zwar erklärt uns heute jeder Examenskandidat, den man danach fragt, frei nach Harnack, die altkatholische, antignostische Kirche habe vielmehr drei Normen nebeneinander stabilisiert und sei eben dadurch im schlimmen Sinne „katholisch” geworden: die Autorität des Kanons, des Bekenntnisses und des die Tradition verwaltenden bischöflichen Amts; und dadurch sei die Freiheit des ursprünglichen Wortes von vornherein im Sinne der kirchlichen Ordnung beschränkt und verbogen worden. Aber diese Feststellung ist falsch oder entspricht jedenfalls schlechterdings nicht dem Verständnis, das die alte Kirche selbst von der Sache gehabt hat. Sie beruht auf dem modern-protestantischen

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Vorurteil, jede bestimmte Bejahung kirchlicher Ordnung, die nicht sogleich unter einen ausdrücklichen Vorbehalt gestellt wird, müßte schon als solche des Teufels und gegen die Freiheit Gottes und seines souveränen Wortes gerichtet sein. (In Wirklichkeit dürfte der Satz höchstens umgekehrt lauten: daß jede Ordnung, die der Freiheit der Christuswahrheit nicht ausdrücklich vorgeordnet und in diesem Sinne entgegengesetzt wird, theologisch als möglich und bis zum Erweis des Gegenteils als erlaubt zu gelten habe — andernfalls könnte nicht einmal das Neue Testament und nicht einmal der Apostel Paulus vor unseren ultraprotestantischen Forderungen bestehen bleiben.)

Aber bleiben wir bei unserer Frage! Die einzige allumfassende und uneingeschränkte Autorität, die die alte Kirche in concreto bedingungslos anerkennt, ist, wie gesagt, die Heilige Schrift. Sie stimmt freilich mit der Tradition, die in der Kirche gelehrt werden soll, überein (welche evangelische Kirche würde das für sich nicht ebenso behaupten?); aber den fatalen Versuch, diese Tradition aus den Vätern zu erheben und dann der Schrift als einen eigenen, formell verbindlichen Kanon an die Seite zu stellen, macht man darum zunächst noch nicht. Erst in den Kämpfen des 5. Jahrhunderts fängt derartiges an, eine Rolle zu spielen. Von einer Unfehlbarkeit der Amtsträger ist bis dahin erst recht nicht die Rede. Wohl sind sie durch ihr Amt zur Auslegung der Schrift berufen und befähigt und vertreten kraft ihres Auftrags die ursprüngliche apostolische Wahrheit, wie sie auch die Schrift enthält, gegen alle „Neuerungen” der Häretiker; aber die Bischöfe sind darum nicht zu Herren der Schrift gemacht und haben kein Privileg, das zu erkennen und festzustellen, was sie vermeintlich oder in Wirklichkeit sagt. Nicht nur der „private Gebrauch der Heiligen Schriften” ist durch das ganze kirchliche Altertum hindurch eine Selbstverständlichkeit; auch führende Theologen sind immer wieder nicht Bischöfe, sondern Laien gewesen, und — trotz des „Falles Origenes” — hat dies ihrem Ansehen nicht geschadet. Man denke im 2. Jahrhundert an Justin und Klemens von Alexandrien, im 3. an Tertullian und Methodios, im 4. an Lactanz und Didymus den Blinden, im 7. an Maximus Confessor. Noch im 9. Jahrhundert war Johannes Scotus Erigena anscheinend kein

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Kleriker, nicht einmal ein Mönch, sondern eine Laie und als solcher ein Lehrer der Theologie.

Es gibt in der ganzen alten Kirche nur eine Instanz, die — ansatzweise im 3. Jahrhundert beginnend — den freilich nicht anerkannten Anspruch erhoben hat, auf Grund eines vermeintlich biblischen, unverrückbaren Rechtes die Wahrheit vor anderen und mit Sicherheit erkennen, auslegen und feststellen zu können, und das ist der römische Papst — die päpstliche Vollmacht so, wie sie etwa Leo d. Gr. um die Mitte des 5. Jahrhunderts vielfach behauptet und formuliert hat. Dagegen entwickelte sich dann im 6. Jahrhundert eine entsprechend absolute und exklusive konziliare Theorie, die sich infolge politischer Bindungen indessen nicht entfalten und durchsetzen konnte. Ihre eigentliche dämonische Tendenz, durch eine bestimmte Herrschaftsordnung die Kirche zu sichern, zeigen solche Bestrebungen aber doch erst im hohen und späten Mittelalter, da die Autorität des Papstes ausdrücklich auch gegen die „unbefugte” Inanspruchnahme der Heiligen Schrift gekehrt und befestigt wird. So ist der Gedanke einer vermeintlich gottgewollten, sakralen Ordnung der Kirche in der Tat zum Todfeind ihres eigentlichen, am Wort entspringenden Lebens geworden. Erst die Reformation aber hat, „indem sie die Bibel in die Hand jedes christlichen Laien legte, die Zuversicht und Unbefangenheit der alten Kirche wiederhergestellt” (Harnack).

Die Reformation hat auch sonst die geistliche Freiheit gegen die sakralisierte Ordnung des priesterlichen Amtes zurückgewonnen, indem sie das Ministerium wieder ganz von seinem evangelischen Auftrag und von der Ordnung des Auftrags her verstand. Auch hierin steht sie zur alten Kirche kaum in einem Widerspruch. Die Vorstellung einer qualitativen, sakramentalen Auszeichnung der Träger des besonderen Priestertums, also die Lehre vom priesterlichen Charakter, hat sich erst seit dem Ende des 4. Jahrhunderts langsam entwickelt. Das geschieht in West und Ost jeweils aus ganz verschiedenen Motiven. Hier geht es um die Reinheit des Kultus und dort um die Wirksamkeit der kirchlichen Gnadenmittel, die nicht im donatistischen Sinn auf die Heiligkeit menschlicher Personen gegründet werden soll; darum hängt die „Fähigkeit” zur Sakramentsspendung

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ausschließlich an der Weihe als solcher. Diese Lösung des Problems ist gewiß unbiblisch und nicht zu halten; aber weder hier noch dort hat sie unmittelbar mit einer Entmündigung der Laien oder vermeintlicher priesterlicher Herrschsucht zu tun.

Viel schwieriger liegen die Dingen bei der zweiten Frage: der Gefährdung der freien Pflicht und Vollmacht der Vergebung, also des eigentlichen Christussinnes in der Verwaltung des Schlüsselamts durch die Betonung der Ordnung im Sinne einer falsch verstandenen kirchlichen Disziplin. Das Wesen der göttlichen wie der menschlichen Vergebung, die das Evangelium lehrt, liegt ja in ihrer Unbedingtheit und Unerschöpflichkeit. Die Pflicht zum unendlichen, sieben-mal-siebzig-maligen Vergeben ist freilich nicht mit einem Übersehen oder Dulden der Sünden zu verwechseln; es schließt vielmehr gerade den ständigen Kampf gegen sie, das Stellen, Bekennen und Überwinden der Sünde mit ein. Aber von einer nachträglichen, ausgleichenden Bestrafung oder Sühnung darf in einem solchen Zusammenhang trotzdem nicht die Rede sein, wie die Anweisung von Matth. 18 und das ganze Neue Testament übereinstimmend lehren. Dementsprechend hat die Kirche bis über die Mitte des 2. Jahrhunderts hinaus auch nichts Derartiges gekannt. Aber wir finden in dieser Frühzeit freilich auch von einer evangelischen Übung des Schlüsselamtes kaum eine Spur. Dann aber, in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts, entwickelt sich das Bußinstitut mit einer nachdrücklich und regelmäßig gehandhabten Kirchenzucht; d.h. es gilt — trotz großer Freiheit im einzelnen — allgemein doch der Grundsatz, daß ein Christ, der vom Glauben abgefallen ist oder die christlichen Grundgebote durch seine Lebensführung verleugnet hat, nicht unbesehen wieder aufgenommen werden kann, sondern daß er seine Reue und Umkehr ernsthaft gezeigt und tätig erwiesen haben müsse. Es braucht seine Zeit, bis er zum Sakrament, zur Ausübung seiner kirchlichen Rechte und zum vollen „Frieden” mit Gott und den Brüdern uneingeschränkt wieder zugelassen wird.

Wie ist dieses Verfahren vom Evangelium her zu beurteilen? Die Einführung der Kirchenzucht als solche wird man schwerlich als einen Fehler bezeichnen dürfen. Das haben die reformatorischen Kirchen

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jedenfalls auch nicht getan; sie haben die öffentliche Zucht vielmehr grundsätzlich für notwendig gehalten und trotz aller Schwierigkeiten, die ihnen die Durchführung immer wieder bereitet hat, die Forderung bis zum heutigen Tage nicht preisgegeben. Keine Kirche, die Gottes Gebote ernst nimmt, kann ihre öffentliche Verhöhnung bei den eigenen Gliedern ohne weiteres dulden. Ebenso kann keine Kirche, die Verfolgung, Abfall und Verführung kennt, auf eine Prüfung und eine gewisse Bewährung der Abtrünnigen verzichten, wenn sie zurückkehren. Es stimmt auch innerlich dort etwas nicht, wo der Sünder darauf pocht, daß man ihn selbstverständlich zu akzeptieren und ohne Umstände wieder für voll zu nehmen habe. Der wahre Büßer sehnt sich ja vielmehr danach, seine Buße mit der Tat zu bewähren, etwas zu tun und Lasten zu übernehmen, die man freilich nicht als Strafe und auch nicht als Bedingung des Vergebens verstehen darf. Die Anfänge der Bußübungen waren dementsprechend auch durchaus freiwillig und wurden nicht als fatale Auflagen, womöglich nach festen Tarifen wie im Mittelalter, von der Kirche verhängt. Aber für öffentliche Sünden bedurfte es allerdings einer öffentlichen Dokumentation der Umkehr. So hat Ambrosius keinen geringeren als Kaiser Theodosius d. Gr. nach einer barbarischen Metzelei, die er im Zorne verhängt und zu spät widerrufen hatte, nicht eher zum Sakrament zugelassen, als bis er vor versammelter Gemeinde ohne kaiserlichen Schmuck als Büßer erschienen war, und ähnliche Beispiele gibt es im kleineren Maßstab auch sonst.

Trotzdem ist die altkirchliche Bußdisziplin von Anfang an an einer wesentlichen Stelle verbaut, wodurch der berechtigte Sinn der Kirchenzucht je länger, um so mehr in Gefahr gerät. Der Fehler liegt nicht im Ernst, mit dem die Kirche auf die öffentliche Buße besteht, obgleich es auch an diesem Punkte mit der Zeit zu Mißlichkeiten gekommen ist, und ebenso nicht in der Vorsicht, mit der sie vom Sünder ernsthafte Zeichen und eine Bewährung seiner Umkehr gefordert hat. Aber daß sie mit der vollen kirchlichen Restitution grundsätzlich auch die göttliche Vergebung und den ersehnten Frieden mit Gott hinausschob und von der vorherigen Bewährung abhängig machte, ist für einen evangelischen Christen unerträglich,

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obschon diese Folgerung nach Lage der Dinge damals nur schwer zu umgehen war. Die alte Kirche kannte eben — im Gegensatz zum Urchristentum — keine Absolution und überhaupt keine seelsorgerliche Handhabung des Schlüsselamtes, die sich von der öffentlichen Zucht und Bußleistung grundsätzlich abheben und unterscheiden ließ. So mußte die kontrollierte Buße und Bewährungsfrist des Sünders unweigerlich auch als Leistung verstanden werden, die ihn der göttlichen Gnade schrittweise, mit der Zeit würdig machen soll, und der Bischof als der ordnungsmäßige Verwalter der kirchlichen Zucht erscheint so als Herr über Leben und Tod, der die Vergebung Gottes nach seinem Belieben gewähren, aber auch zurückhalten kann. Das sind freilich keine Folgerungen, die die alte Kirche sogleich gezogen hat. Zunächst mußte sie ihre ganze Energie darauf konzentrieren, daß es überhaupt möglich blieb, den Abtrünnigen und schweren Sündern in der Kirche die Vergebung Gottes zuzueignen; denn die rigoristischen Strömungen des 2., 3, und 4. Jahrhunderts sind mehr oder weniger alle der Meinung, daß dies niemals möglich sei, und insofern fühlten sich die Vorkämpfer der Bußordnung mit Recht als die Vertreter eines evangelischen Anliegens.

Aber die Beschränkung auf den Kampf gegen die großen Sünden im Rahmen der öffentlichen Kirchenzucht schließt noch eine weitere Gefahr ein. Sie kann nur dann nicht zur Heuchelei und zum mehr oder weniger plumpen Pharisäismus hinführen, wenn der Kampf gegen die feinen, nicht weniger schlimmen privaten und alltäglichen Sünden der scheinbar musterhaften Christen daneben keinen Augenblick aussetzt. Nur so kann es klarbleiben, daß alle Christen vor Gott darin gleichstehen, daß sie von der Vergebung und nur von der Vergebung leben, die die volle und freudige Vergebung untereinander zur Folge hat. Hier klafft vielleicht weniger in der altkirchlichen Predigt als vielmehr in der altkirchlichen Seelsorge eine offenkundige Lücke. Sie kennt — von wenigen, kaum feststellbaren Ausnahmen abgesehen — keine private Beichte, kein privates Sündenbekenntnis und trotz der im Evangelium dreimal bekräftigten Vollmacht keine persönliche, seelsorgerische Verwaltung des Schlüsselamts. Als das Mönchtum mit etwas Derartigen im 4. Jahrhundert

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begann, war es zu einer durchgreifenden Reform des Bußwesens schon zu spät. Das Mittelalter hat in mancher Hinsicht Fortschritte, aber unter der zunehmenden Herrschaft des Leistungs- und Verdienstgedankens auch die furchtbaren Entartungen der Buße gebracht, die wir vor allem vom Ablaß her kennen. Erst die Reformation hat die ganze Sicht der Dinge verändert, indem sie von ihrer evangelischen Grunderkenntnis her das wieder auseinander brachte, was in der katholischen Buße hoffnungslos ineinander verschlungen war: die Nötigung zu einer kirchlichen Ordnung und Zucht gegenüber den hartnäckigen und groben Sünder einerseits und das Angebot einer freien und ungehemmten Vergebung für jedermann andererseits, die die innerste Sünde des Herzens durch das Wort des Seelsorgers nicht ausläßt, sondern aufdeckt und vergibt.

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An dieser Stelle möchte ich abbrechen. Denn damit sind wir zum Ausgangspunkt dieses Vortrags zurückgekehrt. Es wäre nun zu zeigen, in welchem Sinne die Reformation nicht nur in ihrer Verkündigung, sondern auch in ihrer kirchlichen Neuordnung als Rückkehr verstanden werden kann. Man mag einsetzen, wo man will — bei der Seelsorge und Kirchenzucht, beim Verständnis des Amts oder auch bei den Fragen der Gottesdienst, der Sakramentsspendung und bei dem Verhältnis zur staatlichen Gewalt: die wirkliche „Erneuerung” des Urchristentums besteht nicht darin, daß irgendwelche alte Ordnungen als solche wieder zu Ehren gebracht und wichtig genommen würden. Man kann oft fragen, ob das sogar dort, wo die Reformatoren selbst dieser Meinung waren, in Wirklichkeit der Fall gewesen ist. Das entscheidend „Reformatorische” liegt tatsächlich immer nur darin, daß die Christusverkündigung, unser Heil, unsere Gerechtigkeit und unser Leben wieder ursprünglich und evangelisch begriffen sind und daß die Kirche, in ihrem Glauben geistlich erneuert, von hier aus ihre Aufgabe und Gestalt von neuem zu ordnen sucht. Die Reformation hat das ursprüngliche Verhältnis von Geist und Ordnung, von Glaube und Werk, von Lehre und Leben wieder zur Geltung gebracht, und indem sie das Erste und Eine von Grund aus

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bejahte, für das Zweite, Dritte und Vierte wieder die rechte Freiheit und die rechte Bereitschaft gefunden. Darauf kommt es an.

Auch die Kirchengeschichte und gerade sie zeigt mit aller wünschbaren Klarheit, daß die Kirche zu allen Zeiten nur von einem leben kann: die ursprüngliche Verkündigung Christi und der Glaube an dieses Wort ist und bleibt ihre einzige wahre Lebensfrage, und wahrhaft lebendig, glaubwürdig und in Ordnung ist sie nur, wo diese ihre Verkündigung lebendig und wirksam ist. Aber diese Freiheit gegenüber allem Ordnungsaberglauben sollte sie nun auch zur Ordnung frei und zur Ordnung willig machen. Dieser Wille ist heute in unserer Mitte problematisch, während er in der alten Kirche selbstverständlich war. Vielleicht sieht es so aus, als wäre der altkirchliche Ordnungseifer hier etwas zu günstig beurteilt und die überall drohende Gefahr einer Perversion ins Menschliche, Gesetzliche und, wie man zu sagen pfegt, „Katholische” nicht schaft genug hervorgehoben worden. Aber, für sich betrachtet, bleibt in der Tat jede Ordnung problematisch, zum mindesten zeitbedingt, vorläufig und dem Mißbrauch ausgesetzt. So etwas wird — ich sagte das schon — in Wirklichkeit doch erst dort zur Sünde, wo die Ordnung gegen die ursprüngliche Wahrheit gestemmt wird und ihr den Weg nicht freigeben will. Die alte Kirche hat kein Zeugnis der Wahrheit verboten; sie hat kein absolutes Recht gegen den Ursprung aufgerichtet und hat auch in ihren Ordnungen nichts als das ursprüngliche Leben der Kirche verantwortlich schützen wollen. Wir sehen heute wohl die Abwege, auf die sie geraten ist, und wir lassen uns das Recht zur freien Kritik daran gewiß nicht nehmen. Aber zu einem richterlichen Hochmut gegenüber ihrem Ordnungs- und Friedenswillen haben wir, scheint mir, kein Recht und wenig Veranlassung. Die alte Kirche ist mit ihrer Bejahung der geistlichen Einheit, der geistlichen Führung, Fühlungnahme und Treue in ihren Ordnungen und in ihrem Leben dem Neuen Testament nahe geblieben. Auch die Ordnung in der Kirche, der Wille, all das zu fördern, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich ist und wohllautet, muß als eine Frucht des Heiligen Geistes bejaht werden, und so, sagt der Apostel Paulus, wird auch der Gott des Friedens mit uns sein (Phil. 4, 8f.).