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Sechstes Kapitel
Sohm und die eiserne Notwendigkeit des Kirchenrechts

 

Bei der Lektüre von Sohms Schriften und bei der Darstellung seiner Gedanken stößt man immer wieder auf Behauptungen und Einsichten, die eigentlich Sohms System sprengen müßten.1 Ich möchte im vorliegenden sechsten Kapitel in lockerer Form einige Ungereimtheiten Sohms nennen (und damit gleichsam eine immanente Kritik an Sohm üben), bevor ich dann zum zweiten Teil der Arbeit übergehe. Es kann sich jetzt und an dieser Stelle nur darum handeln, ganz provisorisch und antizipierend einige Themen anklingen zu lassen, die im zweiten (die Reaktion der katholischen Theologen auf Sohm) und dritten Teil (systematische Auseinandersetzung mit Sohm) der Arbeit durchkomponiert werden müssen.

1. Da sind zunächst die Schwankungen, die Sohm zeigt2, und auf die ich früher teilweise schon hingewiesen habe. Ein erster — darf man sagen? — Bruch liegt schon zwischen Sohms „Verhältnis von Kirche und Staat”3 und seinen Trauschriften4 vor. Wird in „Staat und Kirche” nur die (äußere) Kirche im Rechtssinn erfaßt, so betonen die Trauschriften die


1 Vgl. auch K. Mörsdorf, Altkanonisches „Sakramentsrecht”? Eine Auseinandersetzung mit den Anschauungen Rudolph Sohms über die inneren Grundlagen des Decretum Gratiani, in: J. Forchielli/A.M. Stickler (Hg.), Studia Gratiana I, Bologna: Apud Institutum Iuridicum Universitatis Studiorum 1953, 483-502; W. Maurer, Die Auseinandersetzung zwischen Harnack und Sohm und die Begründung eines evangelischen Kirchenrechts, in: Kerygma und Dogma 6 (1960) 194-213.
2 Vgl. Bühler 1-31.
3 Das Büchlein „Das Verhältnis von Staat und Kirche aus dem Begriff von Staat und Kirche entwickelt” erschien 1873.
4 Die Trauschriften erschienen zwischen 1875 und 1880.

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Einheit von Rechtskirche und Lehrkirche (die sichtbare sowohl als die unsichtbare).5 Aber trotz dieses „Bruchs” gilt doch von den eben erwähnten (= frühen) Arbeiten Sohms: „Die beiden Größen Kirche und Recht werden als verwandt gedacht, sei es in der Zuordnung von Kirche und Staatskirchenrecht, oder indem die Kirche selbst eigenes inneres Recht entfaltet.”6 Nur so ist es möglich, daß das Recht (sic!) der Kirche dem Recht des Staates entgegengestellt werden kann. Das ändert sich mit der Publikation der „Kirchengeschichte im Grundriß”.7 Jetzt tritt die These von der rechtsfreien Kirche deutlich in Erscheinung.8 Im ersten Band des Kirchenrechts9 kommt diese These zu ihrer vollen Entfaltung. „In SK [Das Verhältnis von Kirche und Staat] hatte sich Sohm ausdrücklich nur mit Fragen der Kirche im Rechtssinn beschäftigt. Die Trau- und Bekenntnisschriften zeigen schon ein anderes Bild. Im KR I [Kirchenrecht, erster Band] wechselt Sohm nun endgültig hinüber und stellt sich auf den Boden der sichtbaren Glaubenskirche, die jetzt für ihn die einzig wahre Kirche darstellt. Ein ,rein geistlicher Begriff’ taucht auf, der Begriff ,der sichtbaren Kirche, ein Begriff, der durch den Inhalt des christlichen Glaubens bestimmt wird’.

Und auf diesem geistlichen, diesem Glaubensboden gibt es nach den berühmten Worten des Vorworts ,mit Juristenaugen nichts zu sehen und mit Juristenhänden nichts zu greifen’.”10 In dem Bändchen „Wesen und Ursprung des


5 „Wir erkennen . . . deutlich die große Doppel-, ja Dreischichtigkeit des Kirchenbegriffs, die Sohm . . . mit großer Folgerichtigkeit entfaltet: einerseits die (äußere) Kirche im Rechtssinn, andererseits die (innere) Kirche im Lehrsinn, die sich wiederum gliedert in sichtbare und unsichtbare Kirche” (Bühler 3).
6 Ebd. 12.
7 Die „Kirchengeschichte im Grundriß” erschien 1887.
8 Vgl. Bühler 15.
9 Der erste Band des „Kirchenrechts” erschien 1892.
10 Bühler 16 f.

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Katholizismus”11 verschärft Sohm noch seine Position. Jetzt ist die Kirche nicht mehr sichtbar — wie in Kirchenrecht I. Vielmehr gilt: Die wahre Kirche ist die unsichtbare Kirche im Glaubenssinn. Aber eben diese radikale These wird in „Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians”12 unter dem Eindruck der Entdeckung des altkatholischen Sakraments wieder zurückgenommen. „Recht und Ekklesia schließen sich nicht mehr aus, sondern sind faktisch ein ganzes Jahrtausend lang verbunden gewesen! Das Gewicht dieser Entdeckung erschüttert nicht nur den Historiker, sondern auch den Dogmatiker Sohm. Ein Bruch bahnt sich an nicht nur mit der Grundthese des KR I, sondern auch mit deren letzter Ausreifung in den beiden ersten Kapiteln des KR II.”13

2. Bei seinem Bemühen, das Recht von der Kirche fern zu halten, verliert sich Sohm in Spitzfindigkeiten. Das zeigt sich etwa da, wo er feststellen muß, daß in die evangelische Kirche, aus welcher Luther den unreinen Geist des Kirchenrechts ausgetrieben hatte, nun — über den Weg der Landeskirche — eben dieser unreine Geist samt sieben anderen Geistern wieder zurückgekehrt ist. In der lutherischen Kirche hatte die weltliche Obrigkeit als Wächterin der beiden Tafeln des Gesetzes (custos utriusque tabulae) die Strafgewalt, etwa gegen Gotteslästerung. Als Glied der Kirche (praecipuum membrum) hatte der Landesherr auch die Reformationsgewalt, er war gleichsam der Notbischof.14 Die weltliche Obrigkeit soll der Kirche helfen, ja im Notfall soll sie die Kirche sogar reformieren (ein höchst jurisdiktioneller Akt!) und dennoch soll gelten: „Die Obrigkeit hat trotz ihres Not-Episkopats keinerlei geistliche, keinerlei


11 Das Buch „Wesen und Ursprung des Katholizismus” erschien 1909.
12 Dieses Buch erschien 1918.
13 Bühler 30.
14 Vgl. KR I, 573-575.

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Kirchengewalt.”15 Oder: „Der Kurfürst soll die Kirche visitieren, reformieren und insoweit regieren, aber das Regiment des Kurfürsten in der Kirche ist ein Regiment durch das Mittel der weltlichen Gewalt. Es ist Regiment in der Kirche, aber kein ,Kirchenregiment’ im Sinn der lutherischen Reformation.”16 Sind das nicht Ungereimtheiten?

3. Was natürlich am meisten Sohms System zu sprengen droht, das sind die kirchenrechtlichen Tatsachen, die er selbst wahrnehmen muß. Da sieht er jene „halsstarrigeEntwicklung, welche immer wieder Kirchenrecht erzeugt. „Praktisch erzeugt sich mit eiserner Notwendigkeit ein Kirchenrecht.”17 „Wie ist das zu verstehen? Meint Sohm hier nur eine ,psychologische Notwendigkeit’, die letztlich dasselbe besagen würde wie die Äußerung über den Kleinglauben?”18 Sehen wir im einzelnen zu. „Wie wird für die Feier der Eucharistie und für die Verwaltung des Kirchenguts gesorgt werden, wenn kein Apostel, Prophet, Lehrer, wenn kein berufsmäßiger Prediger des Evangeliums in der Versammlung ist? — Es kommt hinzu, daß in der Feier der Eucharistie sowie in der Verwaltung des Kirchenguts ein (jedenfalls für die Hauptversammlung) sich stetig wiederholendes praktisches örtliches Interesse gegeben ist, welches seine Befriedigung tatsächlich fordert, auch wenn kein apostolisch Begabter in der Versammlung sich befindet.”19 Es treten also bei einer solchen Lage Ersatzcharismatiker, nämlich


15 Ebd. 585.
16 Ebd. 600.
17 Ebd. 3.
18 Bühler 176. H. Barion ist der Meinung, die sogenannte eiserne Notwendigkeit des Kirchenrechts bestehe nur dann, wenn man nicht zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Kirche unterscheide. „In Wirklichkeit beruht nach Sohm die Notwendigkeit des Kirchenrechts auf dem falschen Ansatz; wenn man mit Luther Kirche im Glaubenssinn und Kirche im Rechtssinn unterscheidet, dann fällt diese Notwendigkeit” (H. Barion, Rudolph Sohm und die Grundlegung des Kirchenrechts, Tübingen 1931, 19).
19 KR I, 80 f.

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Bischöfe, Älteste und Diakone auf. Ferner: Etwa nach der Verfolgung des Decius (249-251) steht die Bischofsgemeinde rechtlich verfaßt vor uns. Damit stellt sich nun ein neues Problem, denn diese verschiedenen Bischofsgemeinden stehen ja unverbunden nebeneinander. „Die Frage war, ob über der Bischofsgemeinde eine weitere Organisation erzeugt werden könne, welche wiederum diese sämtlichen Bischofsgemeinden einem rechtlichen Verfassungskörper einverleibte.”20 Auch hier kam mit eiserner Notwendigkeit die Synode. Schließlich: Eine Gesellschaft, die eins ist, muß auch eine einheitliche Spitze haben. Die Frage taucht auf, wer im Konfliktfall zwischen den Bischöfen die Einheit herstellt. Mit Sohms eigenen Worten: „Aber die Bischöfe sind zahlreich. Wie ist es möglich, die Einheit der Kirche mit der Mehrzahl ihrer Oberhäupter (der Bischöfe) in Einklang zu setzen?”21 Mit eiserner Notwendigkeit stellt sich die Forderung nach einer einzigen Spitze der Christenheit (= Papst) ein. Von welcher Notwendigkeit ist hier die Rede? Man wird sie als eine praktisch-historische Unumgänglichkeit verstehen dürfen, die mit der Sache selbst gegeben war.22

Freilich, wenn Sohm auch die praktisch-historische Unumgänglichkeit bzw. die Notwendigkeit eines Kirchenrechts anerkennt, so bekämpft er doch die Ideologisierung und


20 Ebd. 248.
21 Ebd. 345.
22 Vgl. Bühler 176. Wenn es auch mit sachlicher Notwendigkeit im Christentum zu einer Rechtsordnung kommen mußte, so ist freilich noch gar nicht ausgemacht, daß die heutige, konkrete Rechtsordnung entstehen mußte. Die genannte praktisch-historische Unumgänglichkeit sprengt zwar Sohms System, beweist aber nicht einfachhin die Richtigkeit des unseren. Es wäre doch durchaus denkbar (um nur zwei Möglichkeiten anzuführen), daß die mittelalterliche Rechtsordnung der katholischen Kirche zu einem beträchtlichen Teil durch Fälschungen ins Werk gesetzt wurde (vgl. H. Fuhrmann, Einladung ins Mittelalter, München 21987, 195-236) oder daß unsere Glaubensordnung sich vom Willen Gottes partiell entfernt hat und sich immer wieder vom Wort Gottes richten lassen muß (Vgl. W. Kasper, Dogma unter dem Wort Gottes, Mainz 1965).

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Sakralisierung kirchenrechtlicher Ordnungen. So akzeptiert er z.B. die „Ersatzcharismatiker”, eben Bischöfe, Älteste und Diakone. Er nimmt auch den monarchischen Episkopat hin, weil der Mehrepiskopat unzweckmäßig sei.23 Er hält diese Lösung aber für eine rein praktische24 und wehrt sich dagegen, daß man aus ihr eine Ideologie macht, dergestalt, daß es nun grundsätzlich in der einen Kirche nur mehr einen Bischof geben darf25, und daß nur noch dort die Eucharistie gefeiert werden kann, wo der Bischof ist.26

Allerdings ist Sohm nicht immer jener Pragmatiker, der Tatsachen und Entwicklungen nur hinnimmt. Er ordnet sie selbst in einen größeren Zusammenhang ein und sieht so z.B. irdische Ordnung als Abbild der himmlischen, bekennt sich — vielleicht gegen seinen Willen — zu einer Art göttlichen Rechts. „Nach Sohms eigener Darstellung . . . stellt die charismatische Organisation noch etwas anderes dar: einen Begriff sozusagen ,geistlichen Naturrechts’, wenn der Ausdruck hier geprägt werden darf. Gemeint ist neben dem funktionellen ein statisches Element, eine von Gott selber geprägte feste Ur-Ordnung der Ekklesia, die gegeben ist durch seine direkte Verteilung der Charismen, und die dann durch die Funktionsformen von Wort, Rezeption usw. lediglich immer wieder aufs neue aktualisiert wird. So wird die kirchliche Ordnung in der Ekklesia, da sie aus Gottes Wort herauskommt, zu einer unmittelbaren Abbildung göttlicher Ordnung.”27

4. Neben dem, was Sohm die eiserne Notwendigkeit nennt, gibt es noch einige andere Ansatzpunkte in seinem System, die eigentlich zu einem Kirchenrecht drängen und die deshalb sein eigenes System zu sprengen drohen. Da ist


23 Vgl. AK 645.
24 Vgl. ebd. 645 f.
25 Vgl. ebd. 646.
26 Vgl. ebd. 642.
27 Bühler 179.

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etwa der Begriff der Tradition, der bei Sohm zunehmend eine Rolle spielt.28 Damit nähert sich Sohm aber (tatsächlich, wenn auch gegen seinen Willen) der Wirklichkeit des Rechts, denn Recht ist für Sohm „traditionsbestimmte Ordnung”.29 Da ist ferner das Verständnis von der Sichtbarkeit der Kirche, das bei Sohm zwiespältig ist.30 Ich halte es für willkürlich, zu behaupten, die Kirche werde durch Wort- und Sakramentsverwaltung sichtbar, nicht aber durch die Rechtsordnung. Da ist aber vor allem der aufkommende Sakramentsbegriff und die Wortverwaltung, die — gegen Sohms Willen — rechtliche Elemente enthalten.31


28 Vgl. ebd. 187 f.
29 Vgl. H. Barion, Der Rechtsbegriff Rudolph Sohms, in: Deutsche Rechtswissenschaft 7 (1942) 47-51, hier: 49.
30 Vgl. Bühler 1-31, 142-145.
31 Vgl. ebd. 181-189.