Fehr, H.

Rudolph Sohm (1841-1917)

Genre: Tijdschriftartikel

|LIX|

 

Rudolph Sohm.

(1841-1917).

 

1.

Die Zeit, in welche Sohm hineingeboren wurde, hatte an wissenschaftlichem Gegensatze nachgelassen. Der Kampf der historischen Schulen, die Fehde der Germanisten und der Romanisten war in ruhigere Bahnen gewiesen. Die große, heute noch lebendige Ernte war daraus hervorgegangen: Das Recht muß geschichtlich verstanden und gemessen werden. Das nationale Bewußtsein, für uns das deutsche Bewußtsein, ist die Wage, mit der wir wägen müssen. Es kann vernünftigerweise in deutschen Landen nur Recht geben, das deutschem Empfinden entspricht.

Aber ein anderer, bis in die Gegenwart noch unausgeglichener Zwiespalt hatte damals angefangen, die Gemüter zu bewegen. Einerseits trat nämlich der Begriff immer stärker in den Vordergrund. Das reiche, induktiv gewonnene Material mußte mit dem Mittel logischer Konstruktion geordnet, wissenschaftlich fruchtbar gemacht werden. 1862 erschien das Pandektenlehrbuch von Windscheid, das seinen Triumphzug durch die gelehrte und praktische Rechtswelt antrat, jenes Meisterwerk systematischen Aufbaues und dialektischer Begriffsentwicklung. Der neue Schatz, schon von Puchta und anderen entdeckt, ward nun gehoben. Die Begriffsjurisprudenz konnte dem gewonnenen Erdreich entsteigen. Mit der neuen Kunst vermochte man die Rechtssätze in Rechtsbegriffe einzuzwängen. Mit der neuen Kunst schuf man die Formeln, ohne welche echtes juristisches Denken unmöglich ist. Mit der neuen Kunst vermochte man erst die wissenschaftliche Darstellung selbst zum Kunstwerk

|LX|

zu schmieden. Denn der lückenlose, in sich geschlossene Aufbau der juristischen Elemente aus Grundbegriffen wirkt wie ein Kunstwerk.

Ist es aber möglich, die uns umgebende, lebendige Rechtswelt mit den Mitteln logischer Begriffsentwicklung immer zu meistern? Schießt nicht die Mannigfaltigkeit des Lebens weite Breschen in dieses Gebäude hinein? Hat die logische Konstruktion die Macht, die praktische Durchführung des Rechts zu bewirken? Ein donnerndes Nein ertönte, und dieses Nein rief bekanntlich Jhering der aufhorchenden Welt zu. „Jener ganze Kultus des Logischen, der die Jurisprudenz zu einer Mathematik des Rechts hinauf zuschrauben gedenkt, ist eine Verirrung und beruht auf einer Verkennung des Wesens des Rechts.” In den „Vertraulichen Briefen eines Unbekannten”, 1861-66, zog Jhering bereits mit der größten Schärfe gegen die konstruktive Begriffsjurisprudenz zu Felde. So wurde er zum Vater der Interessenlehre.

Eines aber fügte seit der Mitte des Jahrhunderts diese weitklaffenden Gegensätze wieder zusammen, nämlich die Erkenntnis, daß das Recht nur ein bestimmter Kulturfaktor sei, daß also zum Verständnis des Rechts die volklichen, wirtschaftlichen und religiösen Momente mit herangezogen werden müßten. Die Basis der Rechtswissenschaft verbreiterte sich. Die Anfänge waren gegeben, das Recht als Kulturerscheinung zu fassen. Nicht in seiner Vereinsamung sollte das Recht betrachtet und beschrieben werden. Man sah in ihm eine Kraft, die nach allen Seiten Kräfte ausströmte, um von allen Seiten selbst Kräfte zu empfangen. Als Beispiel solcher Betrachtungsweise auf germanistischem Gebiete sei etwa an die Werke Wilhelm Arnolds erinnert.

 

2.

Das waren die bewegenden, wissenschaftlichen Gewalten, in welche der junge Sohm, zugleich mit den anderen großen Germanisten Brunner, Gierke, Schröder, Heusler hineingestellt wurde. Der begeisterte, eindrucksfähige Mensch mit den klaren, flammenden Augen! Ein Kampfer, wie jeder in seiner Art. Aber sein Ringen galt nicht den

|LXI|

eben entwickelten Gegensätzen. In dieser Beziehung war ihm der Weg durch seine Begabung scharf vorgezeichnet. Der leitende Stern, der ihn in seinem ganzen Leben führte, war der Begriff. Dies zeigt schon seine Doktordissertation, die von der Rostocker Juristenfakultät gekrönte Preisschrift über die Lehre vom subpignus (1864). Sie setzt nicht ein mit einer Untersuchung der Quellenstellen. Sie beginnt vielmehr mit der Fixierung des Begriffes Pfandrecht und erklärt in der Vorrede: „Je weniger auf die Quellen zurückgegangen werden konnte, um so mehr mußte aus Prinzipien deduziert werden.” Sohm hat sich sofort selbst erkannt. Von der ersten Stunde fühlte er die begriffsformende Macht seines Wesens, sah er in der scharfen begrifflichen Fixierung aller Rechtserscheinungen den springenden Punkt der Jurisprudenz. Dieser Auffassung blieb er treu, mochte er seine schöpferische Kraft einem geschichtlichen oder dogmatischen Stoffe widmen. Als er im Jahre 1909 von der Juristenzeitung gebeten wurde, in die Festnummer für die Universität Leipzig einen kleinen Aufsatz zu schreiben, sprach er sich über „Begriffsjurisprudenz” aus (S. 1019ff.). Dort schrieb er das hohe Lied von der begrifflichen Erfassung des Rechts, und wandte sich energisch gegen Interessenjurisprudenz, gegen Verkehrsj urisprudenz und gegen die Basierung des Rechts auf psychologische Vorgänge. „Das erste ist und bleibt die Begriffsjurisprudenz. Sie allein setzt uns in den Stand, uns des gegebenen Rechts zu bemächtigen, seinen gesamten Inhalt mit einem Blick zu übersehen. Ja, sie allein setzt uns in den Stand, die Welt der Rechtssätze zu bewegen: auf den Inhalt zu, den die Gerechtigkeit der Gegenwart verlangt.” Und nicht nur von der Wissenschaft, sondern auch von der Rechtsprechung des gelehrten Richters verlangte er die nämliche begriffliche Orientierung. So ist es nicht erstaunlich, wenn sich Sohm in einer seiner letzten Arbeiten zum Rechtsbegriff Stammlers bekennt. In der Festgabe für Binding (1914) lehnt er die genossenschaftliche Rechtstheorie ab, um den Stammlerschen Rechtsbegriff vom unverletzbar selbstherrlich verbindenden Wollen für seine Scheidung von weltlichem und geistlichem Recht fruchtbar zu machen (11).

|LXII|

Die feste Position, welche das ganze wissenschaftliche Werk des Verstorbenen auszeichnet, gibt diesem die einseitige Größe. Denn mit der Konzentration alles Gegebenen um den Begriff des Rechts und dessen Evolutionen war notwendig eine Zurückdrängung aller anderen Faktoren verbunden. So vernehmen wir in seinen Werken, vor allem in den geschichtlichen, kaum einen Laut von volklichen und wirtschaftlichen Elementen. Die Wirtschaftsgeschichte ist für ihn kaum vorhanden. Zur Erklärung rechtlicher Einrichtungen bedarf Sohm der Untersuchung wirtschaftlicher Zustände nicht. Auch die kirchlichen Verhältnisse, sofern sie nicht zum Gegenstand von Sonderforschungen gemacht werden, treten in den Hintergrund. Und trotzdem kann man nicht sagen, daß der Gelehrte das Recht in öder Isolierung erforscht hätte. An eine andere Gewalt lehnte er all seine Untersuchungen an. Und diese Gewalt sah er im Staate. Der Staat aber war für ihn das Volk. Mochten im Staate das Königtum, eine aristokratische Vielheit oder die ganze Masse des Volkes in der einzelnen Geschichtsepoche hervortreten, immer standen ihm Recht und Staat in engster Verbindung, immer richtete er sein lebhaftes Auge auf die Wechselwirkungen dieser Kräfte. Seine ganze Liebe schenkte er dem Volke, das er als Einheit, als die Gemeinschaft aller Rechtsgenossen betrachtete. So leugnete er auch den Unterschied von Volksrecht und Juristenrecht. Die Juristen sind ihm ein Teil des Volkes. „Das Recht, das sie finden, ist wahres Volksrecht.”

Hier aber tat sich nun der Zwiespalt in Sohms Lehre auf. Mit dem Herzen war er ein deutscher Mann. Er wünschte dem deutschen Volke ein deutsches Recht. Das deutsche Nationalempfinden war ihm Richtschnur in allen Dingen, die das Recht des Volkes angingen. So kämpfte er besonders auch für die soziale Ausgestaltung des Rechts, d.h. für das, „was zum Ausdruck bringt den Gedanken der untrennbaren brüderlichen Zusammengehörigkeit aller Volks- und Rechtsgenossen, den Gedanken der Gemeinschaft, wie der politischen, so der wirtschaftlichen Interessen”. (Vortrag in der juristischen Gesellschaft zu Berlin am 15. Juni 1895. Abgedr. in Beiträge zur Erl. des Deutschen

|LXIII|

Rechts V 737ff.) Mit Feuereifer setzte er sich ein für den dritten Stand, und als er frühzeitig die Macht des Arbeiterstandes ahnte, da galt sein zündendes Wort auch dem vierten Stande.

Aber diesem deutschen Herzen entsprach nicht die Grundlage seiner wissenschaftlichen Gesinnung. Sein Verstand zog ihn ab vom deutschen Recht. Sein Verstand zog ihn dahin, wo der Begriff alles beherrscht, wo die feinste logische Durchbildung der Rechtsgedanken waltet, zu den Römern. Sein wissenschaftlicher Verstand war römisch geschult. Seine begriffliche Kunst war römischem, nicht deutschem Geiste entlehnt. Ich bin weit entfernt zu sagen, daß Sohm, etwa wie Gerber, den deutschen Stoff stets in römische Kategorien gegossen hätte. Dazu war sein Auge zu fein und sein Eindringen in den Stoff zu intim. Aber in seiner bewußten begrifflichen Zuspitzung der Dinge und in der krampfhaften Herausarbeitung von Gegensätzen liegt der Römer begraben. Dies zeigt sich z.B. ganz deutlich in der Lehre von der Genossenschaft. Die Tatsache, die nun einmal das deutsche Recht aufweist, daß in der Genossenschaft die Rechte des einzelnen von dem Rechte der Gesamtheit nicht scharf geschieden sind, ließ den Logiker völlig unbefriedigt. Ein solches Ineinandergreifen von Vielheitsrecht und Einheitsrecht war ihm unverständlich. So gelangte er zum Ausweg, die deutsche Genossenschaft als ein vermögensunfähiges, aber verwaltungsfähiges Subjekt zu erklären. Die deutsche Genossenschaft ist kein neues Vermögenssubjekt neben ihren Mitgliedern. Aber nur die Gesamtheit hat Verfügungsmacht über das gemeinsame Vermögen. (So in Festgabe der Leipziger Juristenfakultät für Windscheid. 1888.) In dem eben erwähnten Vortrag von 1895 vertrat er die gleiche Ansicht und betonte, daß diese Verquickung von Einzelrecht und Gesamtrecht einen innern Widerspruch bedeute. „Auch hier ist nur dem römischen Recht das Meisterwerk der Technik gelungen”, ruft er aus. „Die juristische Person des römischen Rechts vollendet dar, was die deutsche Genossenschaft wollte. Sie ist juristische Person, scharf geschieden von den Einzelpersönlichkeiten. Diese schneidige, klare Rechtsform, welche

|LXIV|

alle Streitigkeiten und Unsicherheiten der deutschen Genossenschaft beseitigt, gilt es für die erlaubten Vereine im BGB. zu gewinnen.” So sind wir auch nicht erstaunt, daß der Germanist ein Lehrbuch der Institutionen des römischen Rechts verfaßte und damit einen beispiellosen Erfolg erzielte. Nie ist ein Werk mit größerem Eifer und heißerer Liebe für den Stoff geschrieben worden (1. Auflage 1884, 15. Auflage im Erscheinen). Nie ist eindrucksvoller bewiesen worden, daß wir am Corpus juris festhalten müssen, weil es zugleich „der Zugang zur Herrschaft über unser eigenes Recht ist” (13. Auflage S. 13). Ob Sohm sich des Gegensatzes in seinem Wesen bewußt war, weiß ich nicht. Ich nehme es nicht an. Denn wer so plastisch darstellen und so eindrucksvoll verkünden kann, der muß aus festgefügter Einheit des innern Wesens schöpfen. Das Bewußtsein vom Gegensatz macht schwankend. Und geschwankt hat Rudolph Sohm niemals.

 

3.

Vom Einfluß seines Lehrers Wetzell in Rostock, dem er Zeit seines Lebens die höchste Verehrung bewahrt hat (und dessen System des ordentlichen Zivilprozesses er später im Verein mit Wach in 3. Auflage herausgab), befreite sich der junge Doktor äußerlich, indem er sich zu Paul Roth nach München wandte. Wieder setzte er sich auf die Schulbank und hörte bei dem hervorragenden Germanisten deutsche Rechtsgeschichte und deutsches Privatrecht. Roth war es. der ihn in das fränkische Urkundenmaterial einführte, ein Quellengebiet, das stets ein Lieblingsgebiet unseres Gelehrten geblieben ist. Von der Überschätzung des sächsischen Rechts war die Zeit geheilt. Seit den Arbeiten von Waitz und Roth war das Auge auf die fränkische Epoche gelenkt worden. Wollte man am Urquell sitzen, so mußte fränkisches Recht, nicht Sachsenspiegelrecht studiert werden; galt doch das Recht des Eike von Repgau in seinen Grundlagen als fortentwickeltes fränkisches Recht. Von Roth lag bereits die Geschichte des Benefizialwesens vor, ein Buch, das auf Sohm einen „unauslöschlichen Eindruck” gemacht hat. So entstand zunächst

|LXV|

die Schrift, die ebenfalls einen „unauslöschlichen Eindruck” auf jeden Leser ausübt, der Prozeß der Lex Salica (1867), eine Arbeit, welche für die Prozeßgeschichte von grundlegender Bedeutung geworden ist, ein wissenschaftliches Kunstwerk, das den ganzen Sohm in sich birgt. Aufgebaut ist es auf die richtige Erkenntnis, daß nicht, wie Siegel glaubte, die Annahme des Christentums, sondern die Umgestaltung der öffentlichen Verhältnisse den größten Einfluß auf den altdeutschen Prozeß bewirkt hat. Beim gerichtlichen Verfahren aus dem Delikt erweist sich diese Tatsache am deutlichsten. In großartiger Weise wird das Hauptthema, der Prozeß als vorwiegendes Zwangsverfahren durchgeführt. Und mit ebenso großem Scharfsinn verteidigt der Verfasser die Lehre von der deliktischen Natur des Prozesses und von der Gewalt des Formalakts. Die Form beherrschte die Stunde. Wer die Form wahrte wahrte das Recht. Die Lehre vom formlosen Paktieren und Verhandeln war endgültig über Bord geworfen. Methodisch ist das Buch so gearbeitet, daß es den engsten Anschluß an die Quellen sucht. „Man soll nicht über die Quellen hinausgehen”, betont der Verfasser selbst im Vorwort (IV). Daher ist heute noch vieles aus dem Buche gesicherter, wissenschaftlicher Bestand (vgl. Brunner, Rauch, Planitz), wenn auch ein Hauptergebnis fallen mußte, nämlich die Scheidung des Prozesses in ein exekutivisches und in ein gerichtliches (kontradiktorisches) Verfahren mit allen seinen Feinheiten. Die Studie schlug gewaltig ein. Sie wirkte weit über die deutsche Gelehrtenwelt hinaus. So hat z.B. Glasson in seiner Histoire du droit et des institutions de la France III (1889) manchen Gedanken aus ihr übernommen.

Die Habilitationsarbeit, Über die Entstehung der Lex Ribuaria (ZRG. V, 1866) öffnete Sohm den Weg in die akademische Laufbahn und bereitete ihn zugleich auf die Aufgabe vor, die er im Jahre 1883 löste, die Herausgabe der Lex Ribuaria und der Lex Francorum Chamavorum (M.G. Leg. 5, 185ff. Auch eine Schulausgabe). Die Edition ist vorzüglich. Einteilung und Datierung scheinen mir heute noch von Sohm, gegenüber allen Angriffen (etwa von Ernst

|LXVI|

Mayer und Hilliger) richtig bestimmt worden zu sein. „Unter den Donnern des Krieges habilitierte ich mich 1866 in Göttingen für deutsches Recht. Bei den Göttinger Professoren fand ich während meiner Privatdozentenzeit das freundlichste Entgegenkommen und genoß angeregtesten Verkehr in einem Kreise von gleich strebenden jungen Leuten”, schreibt Sohm im Jahre 1909 (DJZ., 14. Jahrg., 1019). Schon 1870 wurde er außerordentlicher Professor und noch im gleichen Jahre rief ihn die Freiburger Fakultät, namentlich auf Betreiben Bindings und Degenkolbs, in ihre Mitte. Unterdessen war sein größtes Werk herangereift, seine Fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung, gedacht als erster Band der altdeutschen Reichs- und Gerichtsverfassung, datiert Freiburg i/B. am 31. Januar 1871 (1911 im Neudruck erschienen). Auf diese meisterhafte Leistung haben zwei Arbeiten am nachhaltigsten gewirkt. Paul Roth hatte in seinem Buche Feudalität und Untertanverband (1863) die Ergebnisse seines Benefizialwesens vertieft und verbreitert. Er war der Lehre vom Gefolgstaat entgegengetreten. Er hatte gezeigt, daß die Grundlage des taziteischen wie des fränkischen Staates der Untertanen verband, als ein öffentlich-rechtlicher Verband bildete. Den Beweis erbrachte er im besonderen für das Gebiet des Heerwesens. Während Roth den staatlichen Charakter verteidigte, bemühten sich die Franzosen, wie eine große Zahl deutscher Gelehrter, den germanischen und fränkischen Einrichtungen die Natur staatlicher Institutionen abzusprechen, v. Maurer hatte den Untertanenverband zu einem privatrechtlichen Hintersassenverband herabgedrückt. Gierke hatte in seiner Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft I die grundherrschaftliche Lehre vertieft, das fränkische Königtum eine oberste Grundherrschaft des Reiches genannt. Zugleich leugnete er das Staatliche des Reiches insofern, als er den Unterschied zwischen öffentlicher Verfassung und Korporationsverfassung verneinte. Seine genossenschaftliche Theorie gipfelte in der Anschauung, der Staat bilde nicht den Gegensatz zu der Genossenschaft, sondern er stelle eine Art der Genossenschaft dar, die Staatsgewalt sei keine besonders geartete Gewalt, keine höchste Gewalt, sondern nebengeordnete

|LXVII|

Genossenschaftsgewalt. Diesen Ansichten trat Sohm, seinem Lehrer Roth folgend, aufs schärfste gegenüber. Man kann seinen ersten Band der Reichs- und Gerichtsverfassung einen Anti-Gierke nennen. Mit einer Wucht, wie man sie noch nicht erlebt hatte, verteidigte er das Vorhandensein echter staatlicher Einrichtungen und damit die Existenz eines echten Staats. Zu diesem Zwecke löste er, mit denkbar schärfster Zuspitzung, die Institutionen des Reiches in ihre Gegensätze auf. Er verwandte das Mittel begrifflicher Konstruktion der alten Rechtswelt, wie es bis dahin nicht gekannt war. Er arbeitete jene berühmten Gegensätze heraus, welche später so viele nachgeschrieben und nachgesprochen haben: Staat und Genossenschaft, Heerverfassung und Gerichtsverfassung, Königsgewalt und Beamtengewalt, Amtsrecht und Volksrecht, Hundertschaftsgemeinde und Wirtschaftsgemeinde, Hundertschaftsversammlung und Markversammlung usw. Mit einem großen Quellenapparat geht er zu Werke. Im Mittelpunkt steht das fränkische Recht. Aber Vergleiche mit anderen Rechten sowie Ausblicke ins spätere Mittelalter, namentlich in den sächsischen Quellenkreis, fehlen nicht. Eine geniale Leistung! Eine Leistung, die einen als dogmatisch-historische Studie wie als schöpferisch-künstlerische Arbeit in gleicher Weise anzieht. Ihre Fehler liegen in der Eigenart ihres Verfassers: in der übertriebenen begrifflichen Konstruktion (ohne Konstruktion kommt freilich auch der Rechtshistoriker nicht aus!), in der allzu spitzen These und Antithese, in der Übertragung römischrechtlicher Gedankenreihen auf deutsches Recht. Mit am bekanntesten ist hierbei der Dualismus von Volksrecht und Amtsrecht geworden. Sohm erklärt (a.a.O. 102): „Die römische Rechtsgeschichte bewegt sich in dem Gegensatz des jus civile und des jus honorarium. Die deutsche Rechtsgeschichte weist denselben Gegensatz auf. Das Volksrecht (Stammesrecht) ist das deutsche jus civile, und das kraft der obrigkeitlichen Gewalt geltende Recht das deutsche jus honorarium (Amtsrecht).” Ein echt Sohmscher Satz, begrifflich richtig, historisch falsch. Das deutsche Gebiet weist freilich diese beiden Arten von Recht auf, aber eben nicht als zwei dem Wesen nach

|LXVIII|

ungleiche, einander ausschließende Rechtssysteme. Diese durchkreuzen sich vielmehr innerlich und äußerlich, wie denn z.B. das Amtsrecht, so gut wie das Volksrecht, gewohnheitsrechtlichen Ursprungs sein kann. Namentlich Seeliger (Hist. Viert.-Schrift 1898 und 1904) hat sich eingehender mit dem Problem beschäftigt. Aber erst Brunner hat in der 2. Auflage seiner deutschen Rechtsgeschichte die schwierige Frage so gelöst, daß sie den Juristen wie, den Historiker zu befriedigen vermag (405ff.). Sohms Werk fand reichen Beifall. Die Ergebnisse, nicht nur in den Grundanschauungen, sondern auch in Einzelheiten waren ja überaus reichhaltig. Auf Waitz, der sich schon früher für das staatliche Wesen des Reiches eingesetzt hatte, übte es seinen Einfluß aus. Die Darstellungen von Brunner wie von Schröder wären ohne Sohms Vorarbeit anders ausgefallen. Ja, hätten diese beiden Forscher von der begrifflichen Konstruktion im Sohmschen Sinne etwas mehr aufgenommen, ohne dabei ihr historisch getreues Bild zu verwischen, so wäre ihr Werk juristisch noch vollendeter. Auch v. Below (Der deutsche Staat des Mittelalters I) hat die Krone nicht errungen. Ihm fehlt die große Kunst der Anschauung, die Sohm in so hohem Maße besaß. Den Zweiten, versprochenen Band hat Sohm nie geschrieben. Darin wollte er den näheren Beweis für die „klare und freie Auffassung des Staatsbegriffes” in fränkischer Zeit erbringen. Nur eine Vorarbeit dazu lieferte er in seinem Aufsatz: Die geistliche Gerichtsbarkeit im fränkischen Reich (Z. f. Kirchenrecht IX 193ff.), wo er das geistliche Gericht als Genossenschaftsgericht in Gegensatz stellt zum weltlichen Gericht, als öffentlichem Gericht. Mag man diesen letzteren Gegensatz annehmen oder nicht, auf alle Fälle hat Sohm schon in seinem ersten Bande das Vorhandensein staatlicher Einrichtungen und damit eines wirklichen Staates für die fränkische Zeit erwiesen. Binding hat uns Germanisten aus der Seele gesprochen, wenn er in einem Nachruf auf seinen Freund erklärt, es sei tief zu beklagen, daß Sohm diesen Quellenkreis verlassen und uns die Fortsetzung seines Werkes nicht geschenkt habe (Frankf. Z., 1. Morgenblatt 1. Juli 1917).

|LXIX|

4.

Aus der Freiburger Zeit stammt keine größere Arbeit mehr. Denn schon 1872 siedelt Sohm an die Straßburger Universität über, der er bis 1887 treu blieb. Hier fand er Heinrich Brunner, den kongenialen, wenn auch anders gearteten Germanisten. Hier trat er in nahe Beziehungen zu dem Theologen Holtzmann, der auf seine religiösen Anschauungen starken Einfluß ausübte (gütige Mitteilung Bindings). Hier erlebte er, trotz seiner zunehmenden Schwerhörigkeit, die Freude, bei dem zehnjährigen Jubiläum der Universität zum Rektor gewählt zu werden. Hier focht er den wissenschaftlich erbitterten Kampf mit dem evangelischen Oberkirchenrat und mit Emil Friedberg aus. In seinem Buche: Das Recht der Eheschließung aus dem deutschen und kanonischen Rechte geschichtlich entwickelt. Eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis der kirchlichen Trauung zur Zivilehe, 1875, griff er die Meinung an, welche erklärte, die obligatorische Zivilehe fordere notwendig die Beseitigung der kirchlichen Trauung und die Verwandlung in eine bloße kirchliche Segnung. Auf breitester Basis, unter Heranziehung des ganzen deutschen Kontrakts- und Sachenrechts, versuchte er den Nachweis, daß die deutsche Ehe bereits mit dem Ehe versprechen, durch bloßen Vertrag, ohne traditio puellae geschlossen sei. Die Trauung in Gestalt der traditio puellae sei nur tatsächliche Übergabe der Braut, kein Rechtsgeschäft. So sei auch die kirchliche Trauung des späteren Mittelalters nicht kirchliche Eheschließung, sondern kirchlicher Vollzug der bereits geschlossenen Ehe. Und so stehe es noch heute. Daher seien Trauformular wie Traufragen beizubehalten, bedeuteten sie doch nichts anderes als eine Wiederholung der Eheschließungserklärung. Dieses Ergebnis fand Sohm namentlich mit Hilfe einer juristischen Konstruktion, indem er die Ehewirkungen in zwei Teile auflöste, in die negativen und positiven Wirkungen der Ehe. Unverzüglich antwortete Friedberg, und zwar in einem Tone, welcher der sachlichen, würdigen Darstellung Sohms wenig entsprach. Es gereicht

|LXX|

Friedberg zur geringen Ehre, daß er seinem Gegner „Fabrikation von Stellen, zum mindesten Fälschung” vorwarf. Gefälscht hat Sohm niemals. Aber er schrieb mit seinem Herzblut. Er schrieb leidenschaftlich, weil das, was er zu sagen hatte, heiligste Überzeugung für ihn war. Was Wunder, wenn er in solchem Eifer über wichtige Quellen hinwegglitt oder ihnen eine Deutung gab, die bei ruhiger Überlegung unmöglich standhalten konnte. Hier wie in so vielem offenbarte sich eben der Künstler, nicht der Gelehrte. Ja, noch mehr, hier offenbarte sich die Luthernatur, die in ihm steckte. Ich bin überzeugt, Sohm fühlte sich Luther im Innersten verwandt. Er fühlte sich berufen, den christlichen Geist, den Geist des Evangeliums, in seiner Art zu verbreiten, koste es, was es wolle. So schrieb er 1876 das Buch Trauung und Verlobung. Eine Entgegnung auf Friedberg. Er verbreiterte und verfeinerte seine Er blieb bei dem Satze: Die Verlobung ist die Eheschließung und betonte: Zivilakt und kirchliche Trauung ergänzen sich. Ersterer hat die Willenshandlung der Ehegatten, letzterer die Sanktionierung und Vollziehung dieser Willenshandlung im Namen Gottes zum Inhalt. Die Wissenschaft ist über das Ergebnis von Sohm wie von Friedberg hinweggeschritten. Sie fand die Lösung in der Verschmelzung der Ansichten, nämlich darin, daß Verlobung wie Trauung wesentliche Akte der Eheschließung bedeuten, daß erst durch die Trauung eine volle Ehe mit Mundium gegeben war. Aber ohne diesen, von Sohm entfachten Streit wären wir heute sicherlich nicht so weit in der Erkenntnis des älteren und neueren Eherechts. Der Verfasser selbst verwertete die gewonnenen Ergebnisse, namentlich die Behauptung, daß die sala des alten Rechts mit dem Kontraktschluß zusammenfalle, daß also ein selbständiger dinglicher Vertrag nicht existiere, in der Festgabe für Thöl: Zur Geschichte der Auflassung (1879). Er setzte sich mit den ihm widersprechenden Ansichten von Brunner und Stobbe auseinander und untersuchte aufs neue das Verhältnis von Vertragsschluß und Eigentumsübertragung. Freilich vermochte er auch hier der Versuchung nicht zu widerstehen, mit römischen Begriffen, mit corpus und animus zu operieren

|LXXI|

Wie hoch der wissenschaftliche Ruf unseres Gelehrten bereits gestiegen war, beweist die Ehre, die ihm zuteil wurde, mit einer Studie den ersten Band der Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Germanistische Abteilung (Fortsetzung der alten Zeitschrift für Rechtsgeschichte) zu eröffnen. Er schrieb seinen berühmten Aufsatz: Fränkisches Recht und römisches Recht, Prolegomena zur deutschen Rechtsgeschichte (1880). In einem Stil, der an und für sich schon eine künstlerische Leistung darstellt, führte er sein geliebtes salisches Recht zur höchsten sieghaften Höhe hinauf. Nur zwei Rechte gibt es nach Sohm in der Welt, das römische Recht und das fränkische Recht. Und das fränkische Recht ist das Recht der salischen Franken, das alle anderen Stammesrechte überwand, das auch die Grundlage für die Rechtsbücher des Mittelalters abgegeben hat. So lebte Deutschland im Grunde genommen auch vor der Rezeption nicht nach deutschem (in Deutschland einheimischem) Recht, sondern nach westfränkischem, von auswärts gekommenem, in Frankreich einheimischem Rechte! Der Widerspruch gegen diese kühne Behauptung blieb nicht aus. An diesen absoluten Sieg des salischen Rechts glaubten die wenigsten. Ich neige mich in der wichtigen Frage der neuen Auffassung Mayer-Hombergs zu (Die fränkischen Volksrechte im Mittelalter I), daß das ribuarische Recht keineswegs durch das salische abgetötet worden, daß aber das karolingische Kapitularienrecht völlig auf dem Boden des salfränkischen Rechts aufgebaut ist.

 

5.

Seit den achtziger Jahren wandte sich das Interesse des Verstorbenen mehr und mehr vom deutschen Rechte ab. Die Institutionen nahmen einen guten Teil seiner Kraft in Anspruch und vor allem seine umfassenden kirchenrechtlichen Studien. Ich weiß nicht, wann in ihm der Gedanke aufstieg, „den geschlossenen Zusammenhang der Kirchenverfassungsentwicklung vom Urchristentum bis auf unsere Tage und zugleich das Verhältnis der kirchlichen Rechtsordnung zu dem geistlichen Wesen der Kirche” zu bearbeiten. Vielleicht ist die Anregung Bindings schuld.

|LXXII|

Jedenfalls ist der Plan schon in der Straßburger Zeit gereift. Jedenfalls ist die Konzeption der Grundgedanken dort geschehen. Der Ruf an die Juristenfakultät Leipzig dem er im Jahre 1887 folgte, war nicht Ursache seiner neuen wissenschaftlichen Lebensrichtung. Wie überhaupt der geniale Mensch wenig durch äußere Dinge bestimmt wird. Der Wille, seiner Mitwelt zu zeigen, welch eine wunderbare geistige Kraft im Christentum stecke, konnte durch keinen Universitätswechsel geboren oder gebrochen werden. So stammen denn aus der Leipziger Zeit nur noch zwei bedeutsamere deutschrechtliche Arbeiten: Die bereits erwähnte Deutsche Genossenschaft, in der Festgabe für Windscheid (1888) und Die Entstehung des deutschen Städtewesens, eine Festschrift für seinen Rostocker Lehrer Georg Wilhelm Wetzell (1890). In der zweiten Abhandlung bekennt sich Sohm als entschiedenster Anhänger der Markttheorie. ,,Das Marktrecht, und zwar das Marktrecht allein, hat dem Stadtrecht seinen Ursprung und seinen eigentümlichen Inhalt gegeben.” Dabei stellt er ein historisches Gesetz auf, das ich für falsch halte. Er erklärt, unter den Kräften, welche zur Bildung der Stadtverfassung geführt haben, müsse eine Wahl getroffen werden. „Immer, auch in der Rechtsgeschichte, führt nicht Vielherrschaft, sondern Einherrschaft zum Ziel” (13). An diesen Satz glaube ich nicht. Es kann so sein, muß aber nicht so sein. Meist wirken viele Kräfte zusammen, um ein neues Rechtsinstitut zu gebären. Und in zahlreichen Fällen vermögen wir die Führerschaft des einen Elements nicht mehr aufzudecken, selbst wenn es überwiegend gewirkt hat. Ein typisches Beispiel ist gerade das Städtewesen. Das Marktrecht hat nicht überall entscheidend gewirkt. Und selbst da, wo wir dies sicher feststellen können, wie etwa bei Allenspach und Radolfzell, braucht der Rat nicht notwendig ein Produkt des Marktrechts zu sein. So ist auch der Satz „Der Rat ist aus der Marktverfassung entstanden” (95) in seiner Allgemeinheit unrichtig. Auch in der Lehre von der Rezeption, von der Ausbildung der neuen Heerverfassung, von der Entstehung des modernen Staates u. a. führt das

|LXXIII|

Dogma von der Einherrschaft zu schiefen Ergebnissen. Was der Sohmschen Studie aber auch hier wieder ihren besonderen Wert verleiht, das sind die Verbindungsfäden, welche der Verfasser zieht zwischen dem Markt- und Stadtrecht und den Grundgedanken des fränkischen Reichsrechts. Ich glaube, daß wir dem fränkischen Asylgedanken mit gutem Erfolge noch näher treten könnten.

Aber, wie gesagt, diese deutschrechtlichen Studien waren nur noch Seitengänge Sohms. Sie gehörten nur noch seinem Geiste, nicht mehr seiner Seele an. Mit der Seele lebte er bereits tief in kirchenrechtlichen Ideen. So publizierte er, gleichsam als Prolegomena zu seinem Kirchenrecht, die kirchengeschichtlichen Aufsätze in der „Allgemeinen konservativen Monatsschrift”, die er dann im November 1887 herausgab, als Kirchengeschichte im Grundriß (19. Auflage eben im Erscheinen), ein Büchlein, wie es plastischer, eindringlicher, warmherziger nicht gedacht werden kann. Kein Apostel, kein Reformator vermag über zeugungstreuer zu schreiben. Schon in diesem Büchlein war der Grundgedanke ausgesprochen, daß das Kirchenrecht im Widerspruch zum Wesen der Kirche stehe. Schon dort lesen wir: „Was an rechtlicher Zwangsgewalt in der Kirche wirksam ist, ist durchweg nicht der Kirche zuständig, sondern weltliche Gewalt” (so im § 38).

Gewappnet mit diesem juristischen Panzer ging der große Eiferer an seine gewaltige kirchenrechtliche Aufgabe heran. 1892 erschien sein Kirchenrecht, 1. Band: Die geschichtlichen Grundlagen (Bindings Handbuch). Nach Sohm ist die gesamte Kirchenrechtsgeschichte auf Abwegen. Der so bescheidene Verfasser wird zum Titanen, zum Entdecker einer ungeheuren Lüge und zugleich zum Verkünder einer ungeheuren Wahrheit: „Die Kirche ist rechtlicher Verfassung unfähig, ja, sie verwirft dieselbe.” „Sie kann nicht durch Zwang, sondern nur durch das Wort geweidet, geleitet werden.” „Das Wesen der Kirche ist geistlich, das Wesen des Rechts ist weltlich.” „Die Kirche des Ur-Christentums (Ekklesia) ist eine rein geistliche, die katholische Kirche eine geistlich-weltliche, die evangelische Kirche im Rechtssinn, wie sie heute vor uns steht, eine rein

|LXXIV|

weltliche Organisation.” Die Kirche ist heute ein Verein, eine Korporation. „Die Kirchengewalt des Landesherrn ist keine obrigkeitliche Gewalt mehr.” „Die landesherrliche Kirchengewalt ist heute bloße Vereinsgewalt.” In drei umfassende Kapitel zwang er den Stoff: Das Urchristentum. Der Katholizismus. Die Reformation. Methodisch warf er der bisherigen Kirchenrechtswissenschaft vor, sie habe das Wesen des Urchristentums nicht gehörig untersucht und nicht gebührend verwertet zum Aufbau der ganzen späteren Zeit. Man sei eben von der falschen Überzeugung ausgegangen, „daß die Wurzeln der christlichen Kirchen Verfassung nicht in den Überzeugungen des christlichen Glaubens, sondern in den Verfassungsformeln des heidnischen Römerreiches gelegen seien”. Daher gelte es in erster Linie, „die herrschende Lehre an den Grundideen der Urzeit zu prüfen, insbesondere an dem Begriff, welcher ursprünglich alles beherrschte, dem Begriff der Ekklesia”. Ich halte dieses Werk von Sohm, trotz der falschen Grundthese, für die größte Leistung des Verfassers. Es rückt nicht nur hunderte von Einzelerscheinungen in ein richtiges Licht, es bringt nicht nur eine neue Art der Auslegung wichtigster Quellenstellen, sondern es verknüpft die großen Zusammenhänge der Kirchenrechtsgeschichte zu einem Gesamtbilde von ungeahnter Wucht, von unvergleichlicher Schönheit. Aus Sohms Kirchenrecht sprechen der Gelehrte, der Künstler und der Reformator. Mit Recht nannte es Kahl im Jahre 1894 „die hervorragendste kirchenrechtliche Erscheinung der Neuzeit”. Selten hat intuitive Begabung schöpferischer gewirkt als hier. Begreiflich, daß sich eine ganze Literatur an das Buch anschloß, daß aus dem Lager der Theologen im allgemeinen eifrigste Zustimmung, aus dem Lager der Juristen dagegen eifrigster Widerspruch hervortraten. Der zweite Band erschien nicht. Doch sollen umfassende Vorarbeiten dazu vorliegen, ja 35 Bogen davon sollen schon gedruckt sein (Binding in Frankf. Z.). Zu Lebzeiten Sohms entstanden noch zwei Studien auf diesem Gebiet von großer Tragweite. 1909 veröffentlichte er in den Abh. der phil.-hist. Kl. der Kgl. Ges. der Wiss. B 27 Nr. 10: „Wesen und Ursprung des Katholizismus”, worin er den Grundgedanken

|LXXV|

verteidigte, daß die älteste Christenheit nur den religiösen Begriff der Kirche gekannt habe, also nur einen Kirchenbegriff und keine daneben bestehende Gemeindeorganisation, Als Sohm dann von Harnack teils Zustimmung, teils Ablehnung erfuhr, gab er die Studie 1912 im Sonderdruck neu heraus, mit einem Vorwort von 33 Seiten, in dem er sich mit Harnack auseinandersetzte. 1914 endlich füllte er die Lücke aus, die ihm von den Juristen berechtigterweise zum dauernden Vorwurf gemacht wurde. In der Festgabe für seinen Freund Binding erklärte er seine Auffassung vom Wesen des Rechts und von den Arten des Rechts (weltliches und geistliches Recht). Trotz all dieser Versuche Sohms, den Widerspruch zwischen Recht und Kirche zu erweisen, drang er jedenfalls in der Juristenwelt nicht durch. Schon Kahl hat ihn in seinem „Lehrsystem” (1894) glänzend widerlegt, hat aufgedeckt, wie er die werdende und die vollendete Kirche miteinander verwechselte und wie er den Zwang im Rechte in verschiedenen Färbungen anwendete. Für den Kirchenbegriff ist nichts gewonnen wenn Sohms Nachweis auch glückte, daß die ersten Christlichen Gemeinden eine Zeitlang ohne Recht auskamen. In einer hervorragenden Abhandlung, Recht und Kirche, in der Festgabe für Sohm 1914, deckt ferner Niedner die beiden Kirchenbegriffe auf, mit denen Sohm operiert (299). Er wirft den vorzüglichen Gedanken in die Diskussion, daß in der Kirche, als weltliche Erscheinung gefaßt, geistliches und weltliches Wesen verbunden seien, wie es sich auch in der menschlichen Persönlichkeit gepaart finde (301). So endet die Lehre Sohms tragisch, aber konsequent: sein Bestreben, die Begriffe zu spalten, sein Wille zur Herausarbeitung der Gegensätze haben ihn verführt. Er selbst, jedem Dogma fremd, dogmatisiert das Leben und bringt einen Dualismus hinein, den die Wirklichkeit niemals ertragen hat und niemals ertragen wird. —

Noch ist etwas nachzuholen. Bei der Zusammensetzung der zweiten Kommission für die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuches (1890) wurde Sohm als nicht ständiges Mitglied zugezogen. Am 13. November 1895 hielt er in einer Sitzung dem Kaiser Vortrag über die Regelung der bäuerlichen

|LXXVI|

Grundbesitzverhältnisse. Das neue Zivilrecht beschäftigte unsern Juristen außerordentlich. Er hielt nicht nur Vorlesungen aus dem Gebiete des BGB., er ließ nicht nur im deutschen Privatrecht das alte Recht zuletzt in den Einrichtungen der neuen Kodifikation ausklingen, sondern er verarbeitete auch einen Teil des bürgerlichen Rechts in den Neuauflagen seiner Institutionen und erhielt sie in diesem Sinne dauernd modern. Auch literarisch griff er ein. Von größeren Publikationen nenne ich die großzügige, plastische Darstellung ,,Das Bürgerliche Recht”, in Hinnebergs Kultur der Gegenwart (1906), wo neben der scharfen Konstruktion des ganzen Gebäudes, namentlich die sozialen Seiten des Zivilrechts hübsch hervortreten, sowie ,,Der Gegenstand. Ein Grundbegriff des Bürgerlichen Gesetzbuches” in der Festgabe für Heinrich Degenkolb (1905). Das zweite Werk ist für das Sohmsche Denken eines der kennzeichnendsten. Ihm genügt die Sammlung von Rechtssätzen des Bürgerlichen Gesetzbuches nach systematischen Gesichtspunkten nicht. Er verlangt nach tieferen juristischen Werten. Er erzeugt Grundbegriffe, die nicht nur systematische Bedeutung besitzen, sondern ,,genau ebenso durch das positive Recht gegeben sind, wie die Sonderbegriffe”. Scheinbar Positivist und induktiv vorgehend, erweist sich Sohm als ein eminent deduktiver Geist. Er greift einige Paragraphen, in denen das Wort Gegenstand vorkommt, heraus und baut an ihnen eine bestrickende Theorie auf. So gelangt er zu der bekannten These: Gegenstände sind die Gegenstände des verfügungsgeschäftlichen Verkehrs. Dieses Ergebnis wurde überwiegend abgelehnt (vgl. namentlich Binder und Becker). Aber trotzdem zeigt die Studie eine wissenschaftliche Meisterschaft, eine Stoffbehandlung von höchster Warte aus, wie sie nur wenigen vergönnt ist.

 

6.

Sohms äußeres Leben spielte sich in ruhigen Bahnen ab. Sein Gehörleiden ließ ihn an der Welt, namentlich an der politischen Welt nicht den Anteil nehmen, den er sich gewünscht hätte. Im Grunde war Sohm kein politischer Kopf. Aber er ging von der Anschauung aus, daß das schwere

|LXXVII|

Geschütz, welches die Welt lenke, bei den Gebildeten ruhe, daß daher die Universitäten und ihre Lehrer die Pflicht hätten, ihr Wissen und ihre Überzeugung fruchtbar zu machen für den Staat, das hieß für ihn das Volk. Pflicht aber ging ihm über alles. So war es ihm ein Gebot der Pflicht, die romantische Idee vom christlichen Staat zu stürzen. Daher forderte er auf dem Kongreß für Innere Mission in Posen (1895) und ein Jahr später bei der Gründung des nationalsozialen Vereins in Erfurt die Trennung des geistlichen Lebenskreises vom weltlichen. Als Freund und Berater Naumanns half er kräftig am Aufbau des nationalsozialen Vereines mit. Als dieser sich auflöste, warf er sich auf die Seite der Linksliberalen, verfocht eifrig das allgemeine, gleiche Wahlrecht und begleitete mit größtem Interesse alle Bewegungen der Sozialdemokratie. Die schönen Worte, die Naumann in Leipzig an seiner Bahre darüber sprach, bleiben mir unvergeßlich (siehe auch Hilfe Nr. 21, 1917).

In den engen Kreis seiner Familie gedrängt, war ihm schweres, ja, schwerstes häusliches Leid nicht erspart. Zweimal starb ihm die Gattin. Zwei seiner Söhne hat ihm der Krieg geraubt. Aber er hat alles getragen, ohne Groll, ohne Hader. Die felsenfeste Überzeugung von der göttlichen Fügung, die unser Menschenschicksal leitet, trug ihn über alle Schmerzen hinaus. So ward er belohnt für seinen Glauben: Er lebte christlich und er starb christlich, das bedeutet, in Gott gefestigt und unbeirrt durch alle Schläge des Lebens.

 

7.

Und nun der Lehrer, der Dozent! Wenn man von Sohm sprach, hörte man gewöhnlich seine Darstellungskraft, seine künstlerische Form und die Plastik der Rede rühmen. Wie konnte es anders sein bei einer Natur, welche diese starke Formgabe auf allen Gebieten besaß, welche jedes Kolleg neu schuf und mit Keulen dreinschlug, wo Begriffe und Zusammenhänge im Schüler festsitzen sollten. Aber diese Gabe teilte schließlich Sohm mit vielen anderen Lehrern in deutschen Landen. Ich konnte an mir erfahren was den eigentlichen Wert unseres Toten ausmachte. Ich

|LXXVIII|

kam von Paris, wo ich an der Universität glänzende Redner angetroffen hatte, dialektisch ebenso geschickt als Sohm. Als junger Doktor setzte ich mich in Leipzig wieder ins Auditorium und hörte bei Sohm deutsches Recht. Das war nicht nur ein Genuß für die Sinne. Das ging zu Herzen. Das richtete auf. Das drang in das innerste Gewissen. Da stand nicht der Redner, nicht der Gelehrte vor einem. Der ganze, große, reine, für Staat und Recht und Kirche begeisterte Mensch tat sich auf und zog einen in seinen unwiderstehlichen Bannkreis hinein. Nicht die Formgabe, die Überzeugung war das stärkste an Sohm. Nicht der geniale Mensch, sondern die ethische, eisenhart geschlossene und doch so gütige Persönlichkeit strahlte ihren Zauber auf die Studenten aus und stiftete unendlich reichen Gewinn. Er war das Urbild des Lehrers. Denn Form und Wissen machen allein den Lehrer nicht aus. Sie sind Zutaten, die durch das Feuer eines edlen Geistes geläutert werden müssen. Dann wirken sie fort in die spätesten Geschlechter. Dann sind sie unsterblich.

 

Heidelberg im September 1917.

Hans Fehr.