Dombois, H.

Der Kampf um das Kirchenrecht

Genre: Literatuur

1957

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Der Kampf um das Kirchenrecht

 

Der Gegensatz der Bekenntnisse, der getrennten Kirchen ist von jeher nicht allein ein solcher der Lehre, sondern auch ein solcher des Kirchenrechts gewesen. Im Kirchenrecht wurden die Fragen sichtbar und konkret, die in der Lehre umstritten waren. Beides fand seine Vereinigung im gottesdienstlichen Vollzug. Es ist deshalb notwendig, in einem solchen Versuch der Rechenschaft über den Stand des Gesprächs und der Gegensätze zwischen den getrennten Kirchen auch dieser Seite zu gedenken. Hier greifen aber nicht schwierige komplizierte Gedanken durch, sondern nur handfest schlüssige Erwägungen, die mit der kühlen Klarheit des Rechtsdenkens das Kampffeld aufhellen.

Die römische Kirche gibt sich gerade in ihren höchsten Leitungsorganen sehr viel Mühe um die Ostkirche. Aber im Ganzen unterschätzt das katholische Geschichtsbewußtsein die Tiefe des Gegensatzes zwischen westlicher abendländischer und östlicher orientalischer Kirche. Die Ostkirche ist eine alte geschichtliche Kirche von den Anfängen her, sie bejaht die Tradition, sie ist hierarchisch verfaßt und verbindet beides in einer unbezweifelten und bewußt festgehaltenen apostolischen Sukzession. So liegt es nahe, die geschichtliche Trennung des Jahres 1054,  der wiederholte wieder behobene Trennungen von langer Dauer bereits vorausgegangen waren, als eine Art bedauerlichen Familienstreits auf höchster Ebene mißzuverstehen, entstanden und verbunden mit nationalen und geschichtlichen Unterscheiden, die mit dem Evangelium selbst nichts zu tun haben, aber nun eben leider der Einigung

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je länger je wirksamer entgegenstehen. Und die ererbte Gegnerschaft der Ostkirche gegen Rom mit allen ihren Begründungen scheint mehr eine nachträgliche Rechtfertigung der Trennung als ihr echter Grund zu sein. Wenn man nun die zweifellos vorhandenen Momente von geschichtlicher Bedingtheit und Zufälligkeit in dem höchstmöglichen Maße aus der Erwägung ausscheidet, so bleibt doch auf der Seite der Ostkirche eine sehr grundsätzliche Berufung auf das Recht der alten Kirche übrig, welches durch den Primatsanspruch des römischen Stuhles, so wie er je länger je mehr umschrieben und verstanden wird, verletzt werde. Andererseits hat Pius X. nicht unterlassen, neben einigen dogmatischen Abweichungen der Ostkirche, (von denen die Ablehnung des „filioque”, des Ausganges des Geistes vom Vater und dem Sohne die bedeutendste ist) ausdrücklich auch als Irrtum der Ostkirche zu verdammen, daß sie die „Monarchie” des Papstes ablehne *). Damit ist dieser ausgesprochen politisch gefärbte Begriff kanonisiert worden.

Mit diesem Begriff ist der unbeschränkte Jurisdiktionsprimat des Vatikanischen Dogmas gegen alle einschränkenden Auslegungen abgegrenzt worden. Abgelehnt ist wie schon früher eine Dyarchie der beiden in Rom leitenden Apostel Petrus und Paulus, der in der Ostkirche lebendige Gedanke der Apostelgemeinschaft usw. An der Auslegung des Primatsbegriffes is bezeichnenderweise und ganz folgerichtig die schon weit vorgeschrittene Verhandlung über eine Union der anglikanischen Kirche mit Rom in unserem Jahrhundert gescheitert. Denn die hochkirchlichen Wortführer dieser Vereinigung konnten von ihrer altkirchlichen Sicht der Kirche dem römischen Stuhle zwar eine weitgehende Prärogative, aber keinen schlechthin unabhängigen Leitungsprimat im Sinne des Vatikanischen Konzils zubilligen. Wenn also die römische Kirche noch so viel gegen das Kirchenrecht der Protestanten sagen zu können meint, so könnte sie sich doch nur dann wirklich durchsetzen, wenn sie imstande wäre, zugleich den altkirchlich-orthodoxen Protest zu überwinden, der im protestantischen Protest weitgehend mitenthalten ist, sich


*) Vgl. Epist. „ex quo” vom 26. 12. 1910, Denzinger 2147a.

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aber zugleich gegen beide, römische Kirche wie Protestantismus, wendet. Andererseits bietet uns das Verhältnis zwischen römischer und Ostkirche zugleich auch einen Schlüssel des Verständnisses für die kirchenrechtliche Auseinandersetzung zwischen römischen Kirche und Protestantismus. Jene Kritik der Ostkirche ist am klarsten auf die Formel zu bringen, daß die römische Kirche der rechten Lehre und Ordnung der Kirche fortgesetzt und ihrer ganzen Tendenz nach etwas willkürlich hinzusetze, während der Protestantismus ebenso unerlaubte Abstriche mache.

Wir beschränken uns im Nachfolgenden also jenseits des nur Geschichtlichen auf den altkirchlich-orthodoxen Gegensatz zur römischen Kirche in seiner vollen Grundsätzlichkeit. Die Verfassung der alten Kirche ist erst im Blick der Gegenwart voll sichtbar geworden. Die Tradition und die Kirchenrechtslehre der Ostkirche bewahrt ihre Grundzüge auf. Aber ihr Denken ist so wenig systematisch und so wenig juristisch, daß sie keine sehr wirksame und glückliche Dolmetscherin dieser Überlieferung ist. Im deutschen Sprachbereich ist etwa außer dem alten und selten gewordenen Werk der orthodoxen Bischofs Milasch von Zara keine zusammenhängende Darstellung des Rechts der Ostkirche greifbar. Auch die an der altkirchlichen Tradition lebendig interessierten Anglikaner sind weit mehr pragmatisch gerichtet als systematische Denker. Die Kirchenrechtslehre der römischen Kirche ist offenkundig interessiert, nicht die Besonderheiten des ersten Jahrtausends herauszustellen, sondern im Stile einer idealistischen Identitätstheologie nicht ohne beträchtliche Gewaltsamkeit die durchgängige Übereinstimmung beider Jahrtausende zu behaupten. Mit der geschichtlichen Niederlage des Episkopalismus im 19. Jahrhundert verschwinden auch die geschichtlichen Tatsachen der bischöflichen Ordnung der alten Kirche aus den Lehrbüchern. Das durchgängig, auch in Rom bis 1059/1179 festgehaltene Bischofswahlrecht der Gemeinden erscheint nicht als Regel und Grundsatz, sondern als eine Teilerscheinung. Der mit vorbehaltloser Kritik forschen Protestantismus seinerseits ist bereit, jede Tatsache der Geschichte zu erheben, nur niemals in diesen Tatsachen ein

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sinnvolles Ganze zu erkennen. Das schließt seine Tradition aus. Im übrigen ist sein Blick auf ein Teilproblem fixiert, welches mit einem Buchtitel „Amt und geistliche Vollmacht” bezeichnet ist und welches er sich entschlossen hat, für zentral zu halten. So werden wir von dieser Forschung zwar immer neue Erkenntnisse, aber zugleich doch meist nur einen regressus ad inifinitum erwarten dürfen.

Diese eigentümlichen Umstände und vorherrschenden theologischen Interessen erklären es (rechtfertigen es freilich nicht), daß das Gesamtbild des Rechtes der alten Kirche nicht ins Bewußtsein getreten ist, obwohl die Forschung der letzten hundert Jahre längst die Bausteine dafür geliefert hat. Man tritt den Reformatoren nicht zu nahe mit der Behauptung, daß sie von diesem Recht nur eine bruchstückhafte Kenntnis gehabt haben. Die in den Bekenntnisschriften verwendeten kirchenrechtlichen Väterzitate lassen das deutlich erkennen. Es sind sozusagen Gelegenheitszitate. So ist dort etwa von dem altkirchlichen Bischofsamt, ohne welches man die alte Kirche nicht verstehen kann, nirgends die Rede, obwohl mit diesen Zitaten die Autorität und rechte Ordnung der alten Kirche in Anspruch genommen wurde. Mehr als an irgendeinem anderen Punkte trifft hierfür die Verantwortung die römische Kirche, deren Rechtsbrüche und Mißbräuche in den letzten vier Jahrhunderten vor der Reformation das Bild der älteren Kirche vollständig zertrümmert und verschüttet hatte.

Die allen rechtgläubigen Christen gemeinsamen altkirchlichen Symbole, insbesondere das von Nicaea-Konstantinopel (325/381) sprechen von der Kirche als der apostolischen und katholischen. Wir sind gewohnt, diese Begriffe in erster Linie als theologische Aussagen anzusehen und ihren kirchenrechtlichen Gehalt dabei beiseite zu lassen, während die römischen Katholiken in weit höherem Maße daraus auch eine solche Beziehung ableiten, aber für die historisch erwachsene Papstkirche von heute die volle Übereinstimmung mit dem altkirchlichen Symbol in Anspruch nehmen. Die professio fidei Tridentina fügt allerdings ein besonderes Bekenntnis zur Oboedienz des römischen Papstes hinzu.

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Wir werden also ein klares und schlüssiges Bild der Ordnung der alten Kirche gewinnen können, wenn wir nur bereit sind, sie so zu nehmen wie sie ist, sie nicht als eine zufällige Anhäufung von unzusammenhängenden Einzelentscheidungen ansehen und uns vor allem hüten, sie durch die Eintragung unserer heutigen Rechts- und Sozialvorstellungen zu mißdeuten. Angesichts der unvermeidlichen Bedingtheit unseres Blicks werden wir solche Eintragungen dann am ehesten vermeiden, wenn wir im Übertragung eines Auslegungsgrundsatzes die uns schwerer zugänglichen und fremderen Rechtsvorstellungen als die Wahrscheinlicheren annehmen.

Die Grundzüge der Verfassung der alten Kirche lassen sich unter Ausscheidung nebensächlicher Züge verhältnismäßig einfach aus zwei Hauptgedanken und Hauptzügen entwickeln und darstellen, welche die sinngetreue Verwirklichung der bekenntnismäßigen Merkmale der Apostolizität und der Katholizität enthalten und bedeuten.

1. Die Apostolizität der Kirche stellt sich rechtlich im Missionszusammenhang dar. Zu allen Zeiten, zur Zeit der Apostel wie heute, begründet die Mission auch ein Leitungsrecht. Der Missionar greift mit diskretionärer, ungebundener Entscheidungsgewalt in die von ihm gegründete Gemeinde ein und muß es auch, weil dies ohne solche Leitung und Korrektur noch nicht in der Lage ist sich zu behaupten, Kinderkrankheiten zu überwinden. Doch ist dies kein Dauerzustand. Die Missionsgemeinde gleicht zunächst einem unmündigen Kinde, das in allem der Leitung und Hilfe bedarf, dann der erwachsenen Tochter mit eigenem Hausstand, welche aber nicht aufhört, ihrer Mutter, der missionierenden Gemeinde Achtung und Gehorsam zu schulden. Aus diesem Missionsrecht ergeben sich auch die früheren Gliederungen der Christenheit. Cullmann hat darauf hingewiesen, daß Paulus sehr entschieden seine Gemeinden leitet, aber sich ausdrücklich hütet, in die von anderen Aposteln gegründeten Gemeinden einzugreifen. So ist auch die gebietsmäßige Teilung der geschichtlichen Patriarchaten als der apostolischen Sitze zu verstehen, über deren Rang, Verhältnis und Befugnisse die ökumenische Konzilien so oft beraten haben,

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Antiochia, Alexandria, Jerusalem, Rom und ohne apostolische Grundlage dann auch Byzanz. Dieser Traditionsgedanke der geistlichen Abstammung, der Filiation ist überall wirksam — durch irgendeine personale Mission muß ja jede Gemeinde einmal entstanden sein, und wo der tatsächliche Zusammenhang aus der Erinnerung verschwunden ist, hält man sich doch an eine der großen berühmten Quellen und Hauptorte. Ähnliche Verbandsformen der Filiation finden wir weit später etwa in den Abstammungsreihen des Zisterzienserordens, der genau unterscheidet, welches Kloster von welchem Kloster gegründet worden ist.

Einen weiteren vergleichbaren Vorgang finden wir in größerer geschichtlicher Nähe in der Verleihung mittelalterlicher Stadtrechte von einer Stadt an die andere, etwa von Magdeburg an Krakau. Auch hier wird eine charismatische Weisheit in bestimmten Sätzen überliefert, welche in einem Rechtsbuch niedergelegt sind. Die beliehene Stadt wendet dieses Recht selbständig an. Gerät sie aber in Zweifel, so sucht sie nicht irgendwo Rat, sondern bei der verleihende Stadt als dem Ursprung und Vorort. Denn es handelt sich bei dieser Rechtsübertragung um einen charismatischen Akt, nicht um einen toten Buchstaben; um einen personalen Vorgang, nicht um Zweckfragen.

Hier wird der Unterschied zu unseren heutigen Vorstellungen sichtbar; es handelt sich bei diesem Verhältnis nicht um die Regierungsgewalt innerhalb eines geschlossenen körperschaftlichen Verbandes, in dem die eine Stadt Hauptstadt und Regierungssitz darstellt und die übrigen die abhängigen Landstädte im Staatsgebiet; sondern es ist ein Vorortsverhältnis zwischen gleichstrukturierten Größen, eine begrenzte ergänzende Leitung. Der rechtsgeschichtlich geschulte Jurist muß mit allem Nachdruck den Kirchenhistoriker auf diesen Unterschied und darauf hinweisen, daß alle körperschaftlichen, herrschaftlichen, organologischen und Zweckvorstellungen diesem Sachverhalt und dieser Struktur nicht entsprechen. Ohne die Berücksichtigung dieser grundlegenden Strukturunterschiede muß die geschichtliche Darstellung schief werden.

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In der alten Kirche war die bedeutendste Folge aus dem Leitungsrecht der Vorortsgemeinde das Recht der Bestätigung der kanonisch vollzogenen Bischofswahl, welche von dem Bischof (Primas, Patriarchen) der Vorortsgemeinde ausgeübt wurde, welches aber niemals das Wahlrecht von Klerus und Volk der Gemeinde unter Hinzutritt der Bischöfe der Provinz aufhob. Papst Honorius I. etwa hat betont, daß man den Gemeinden das Wahlrecht nicht verkürzen dürfe, über dessen Vollzug in den apostolischen Konstitutionen ein überaus eindrucksvoller Bericht als Anweisung zur rechten Handhabung vorliegt*.

Das Problem des Missionsrechts erscheint noch heute im kanonischen Recht der römischen Kirche in der direkten Leitungsgewalt des römischen Stuhles über die terrae missionis und der Pflicht, aus diesen sobald als möglich und unwiderruflich ordentliche Diözesen zu bilden. In der Unaufhebbarkeit des Bischofsamtes als solchen ist in dem heutigen System der römischen Kirche ein altkirchlicher Rest enthalten: freilich ist das Bischofsamt aus dem ersten Stande der Kirche der dritte Stand mit sehr reduzierten Rechten und völliger Abhängigkeit geworden.

Diese von der Vorstellung eines einheitlichen Körpers deutlich unterschiedene Vorortsorganisation der alten Kirche ist Ausdruck der Apostolizität der Kirche. Jede Gemeinschaft leitet sich aus der apostolischen Mission im konkreten Zusammenhange ab und bleibt in diesem geschichtlichen Nexus.

Die zweite linie ist die der Katholizität. Sie drückt sich in drei anerkannten Grundsätzen des alten Kirchenrechts aus, welche einander ergänzen und voneinander nicht zu trennen sind.

1. Eine jede ekklesia, ob groß oder klein, ob Dorfgemeinde oder ökumenisches Konzil steht kraft des ihr verheißenen Geistes — „wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind ...” — für die ganze Kirche.


*) (Vgl. Dombois, Altkirchliche und Ev. Kirchenverfassung in Z. f. ev. Kirchenrecht, Band II, Heft 1, sowie „Glaube, Recht, Europa” (Glaube und Forschung, Band IV), Seite 137f.)

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2. Was die einzelne ekklesia beschließt, ist jedoch nur soweit gültig, als es von den übrigen ekklesien kraft ihres Geistbesitzes als geistgewirkt anerkannt, aufgenommen, „rezipiert” wird, was nicht in ihrem Belieben steht, sondern eine Frage des Glaubensgehorsams ist.

3. Keine ekklesia kann, sich auf ihren Geistbesitz berufend, für sich allein bestehen, sondern sie bedarf der koinonia, der Gemeinschaft mit der ganzen Kirche, als Abendmahls- und Lehrgemeinschaft, ohne welche sie nicht meinen kann, in der allgemeinen Kirche zu sein. Sie kann also die Frage der rechten Ordnung und der rechten Lehre als eine Frage der Identität des gleichen Herrn nicht relativieren, nicht hypothetisch auf sich beruhen lassen.

Über die grundlegende Bedeutung der koinonia für den Zusammenhang der alten Kirche hat Werner Elert in seinem letzten Buch (Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche, hauptsächlich des Ostens) sehr ausführlich gehandelt.

Dieses Recht der koinonia, der Teilhabe in und an der einen allgemeinen katholischen Kirche drückt sich konkret in Gewährung und Versagung der Sakramentsgemeinschaft aus. Man kann es deshalb, wie jenes andere als Missionsrecht, als Sakramentsrecht, als sakramentales Verfassungsrecht bezeichnen.

Diese beiden zentralen Gedanken ergänzen einander, greifen genau ineinander ein. Das Missionsrecht ist gleichsam die Vertikale der Zeit, der Tradition, des Herkommens von einem Ursprung, das Sakramentsrecht bildet die Horizontale des gegenwärtigen Raums der Kirche als der Gemeinschaft aller ekklesien. Diese beiden Pfeiler stützen und tragen einander wie zwei Arme eines Kreuzes. Fällt einer von ihnen weg oder wird es wesentlich verkürzt, so wird das Ganze zerstört. Beide sind aber nicht aus einem abstrakten Prinzip abgeleitet, als Ordnungsgedanken von einem genialen Gesetzgeber konstruiert und dann verwirklicht, sondern sie entstammen dem lebendigen Vorgang der Mission wie der sakramentalen Gemeinschaft der Christenheit.

Was sich hier bildet und vollzieht, ist echtes geistliches,

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pneumatisches Recht. Es beruht auf dem Glauben, daß in der geschichtlich-einmaligen gründenden Überlieferung des Evangeliums wie in der ständigen Aktualität des Sakraments ein wirkliches mächtiges Geschehen von scheidender und bindender Kraft sich vollzogen hat und immer noch weiter vollzieht. Aber es ist eben pneumatisches Recht. Sein Wesentlichstes liegt nicht in einem durchgängig handhabbaren Prinzip, sondern gerade in dem Miteinander der sich ergänzenden Vorgänge, darin, daß die Kirche apostolisch und katholisch ist, in dem unverfügbaren Gemeinsamen, dem tertium, welches diese beiden gegensätzlichen Momente zusammenhält und zur Einheit fügt. Gründende Autorität als Urheberschaft und gegenwärtige Brüderlichkeit treten nicht gegeneinander, sondern wirken zusammen. Der pneumatische Charakter dieses Rechts zeigt sich gerade darin, daß es von der menschlichen Selbstmächtigkeit bedroht und zerstört wird. Diese drückt sich nicht nur in Eigensinn und Eigensucht aus, sondern auch in dem gutgemeinten Bestreben, es nun gerade ganz richtig und sicher zu handhaben und praktizieren, es aus der Doppelheit eindeutig werden zu lassen. Das geschieht eben dort, wo von beiden Momenten das eine beherrschend, verdrängend hervortritt, und deshalb in zwei entgegengesetzten Richtungen.

1. Entweder wird die Leitungsgewalt des Missionsrechts so gesteigert, daß das Sakramentsrecht der koinonia, der freien geistgewirkten Annahme dadurch zerstört wird. Aus der Hilfe, Korrektur, Ergänzung wird das ständige Regiment über die nur scheinbar selbständige, in Wahrheit unterworfene Gemeinde. Das bedeutet geistlich gesehen gerade die Aufhebung des Traditionszusammenhangs. Den die Tradition ist als wirkliches und wirksames Geschehen eben nicht rücknehmbar. Behalte ich die Missionsgemeinschaft in ständiger völliger Abhängigkeit und greife ständig un in allem und jedem ein, so leugne ich, daß sie überhaupt wirkliche Gemeinde ist. Das ist grundsätzlich reiner Aktualismus, der die Kontinuität aufhebt und die Wirkung des Geistes ausschließlich oder überwiegend in der je sich ereignenden Entscheidung sieht.

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2. Oder aber: das Band wird nicht verkürzt, verengt, zu fest angezogen, sondern zerschnitten. Die Kirche von Neocaesarea z.B. hatte die Kirche von Armenien missioniert. Sie nahm daher das Bestätigungsrecht für den Katholikos von Armenien in Anspruch, bis nach Jahrhunderten die armenische Kirche sich von dieser Mutterkirche lossagte, „autokephal” wurde, ihr eigenes, unabgeleitetes Haupt bekam.

Den ersten Weg ist die römische Kirche gegangen, den zweiten die Ostkirche und der Protestantismus. In der römischen Kirche ist das Vatikanische Konzil der Endpunkt der fortschreitenden Ausschaltung der koinonia des Bischofsamtes, welches wie gesagt aus dem ersten Stande der Kirche zum dritten letzten verfassungsrechtlich in Erscheinung tretenden Stande geworden ist. Die Gemeinden haben bereits seit der Neuordnung des Papstwahlrechtes ihre verfassungsrechtlichen Befugnisse bis auf Rudimenten verloren, sie haben keine wesentliche kirchenrechtliche Subjektstellung in spiritualibus mehr. Nur der einzelne hat noch ein Recht auf die Spendung der Sakramente — wie denn immer in absoluten Staaten die intermediären Gewalten vernichtet werden und nur noch einzelne, rechtsstaatlich geschützte Untertanen übrig bleiben.

Umgekehrt hat die Ostkirche ihre Einheit zugunsten einer ständigen weiteren Ablösung autokephaler Kirchen verloren. Der Widerstreit mehrerer Jurisdiktionen und die Schwächung der Primate macht heute und auf lange Sicht das von der ostkirchlichen Lehre geforderte ökumenische Konzil unmöglich. Die Ostkirche kann sich zur Rechtfertigung dieses Vorgangs auf den von den apostolischen Konstitutionen (4. Jahrhundert) bis zum 6. Konzil (sog. Trullanisches Konzil 3. Konstantinopeler, 681) formulierten Grundsatz berufen, daß die Bischöfe eines Landes sich an ihren Ältesten halten sollen. Aber über der Anwendung dieses Grundsatzes hat sie unter den mächtigen nationalkirchlichen Strömungen ihre wirksame Einheit verloren, welche sich nur noch in der Anerkennung gewisser Ehrenprimate äußert.

Der Protestantismus vollends hat die konkrete Einheit der Kirche zugunsten fast unübersehbar zahlreiche selbständiger Kirchenkörper zerfallen lassen, er hat in seinem Kirchenrecht

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keinen die konkrete Einheit fordernden Grundsatz und erkennt von den oben genannten Grundsätzen nur den unter 1. genannten an, nicht aber den dazugehörigen entsprechenden Satz 2, und den Satz 3 nur soweit als es sich um bekenntnismäßige klar bestimmte Gemeinschaften handelt.

Die Verfassung der alten Kirche in ihrer großartigen Einfachheit und monumentalen Klarheit, ganz auf das Pneuma gestellt und doch ganz real und konkret, gibt uns nun auch Maßstäbe für die Beurteilung der gegenwärtigen Lage des Streites um das Kirchenrecht.

Wir sehen in dem gegenwärtigen Zustand der getrennten Kirchen die Folgen zweier entgegengesetzter menschlicher Tendenzen und Vereinseitigungen. Die römische Kirche ist den Weg der Heteronomie gegangen, der folgerichtigen Steigerung der fremdgesetzlichen Leitungsgewalt, die von keinem Beispruchs- und Zustimmungsrecht begrenzt sich zu voller Souveränität erhoben hat. Sie hat die Gemeinschaft der relativ gleichgeordneten Patriarchate ebenso abgeschüttelt wie die Mitwirkung der Bischöfe im ökumenischen Konzil wie vollends alle Rechte der Gemeinde. Sieht man davon ab, daß Rom auch die Mitberechtigung der übrigen apostolischen Stühle ablehnt, so kann man seine Konzeption als extrem und einseitig apostolisch bezeichnen — aber gerade katholisch im verfassungsrechtlichen Sinne ist diese Kirche so, wie sie ist, eben nicht mehr. Demgegenüber empfinden wir die Lage der Erben und Freunde altkirchlicher Tradition in der römischen Kirche als tragisch. Denn sie müssen, um nicht mit ihrer Kirche zu zerfallen, die Härte und den Bruch dieses Vorgangs verharmlosen. Eine Auslegung „in der alten Kirche waren die Bischöfe mit dem Papst, in der heutigen Kirche ist der Papst mit den Bischöfen” nimmt schweren geschichtlichen Auseinandersetzungen und Entscheidungen ihren eigentlichen Gehalt. Es ist deutlich, daß Ostkirche und Protestantismus den entgegengesetzte Weg gegangen sind, nicht den der Heteronomie, sondern den der Autonomie. Es bedarf kaum der Hervorhebung, daß dies in sehr verschiedenem Maße der Fall ist. In der Ostkirche ist wenigstens die dogmatische Lehre von der rechtlichen Einheit der Kirche und gewissermaßen

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die Umfassungsmauer des Gebäudes stehen geblieben, in der vielleicht einmal ein Neubau stattfinden kann. Bei den protestantischen Kirchen ist die koinonia kirchenrechtlich fast vollständig verlorengegangen und die Autonomie jeder einzelnen Kirche an ihre Stelle getreten.

Es ist daher verständlich, wenn auch eben gänzlich fruchtlos und unbefriedigend, daß sich die Kirchen wechselseitig aus den Fehlern der anderen rechtfertigen. Die römische Kirche weist auf Spaltung und Zerfall der getrennten Kirchen, auf Willkür und Verwirrung hin, auf eine Ordnung, welche unzweifelhaft bei aller subjektiven Gewissenhaftigkeit und Gehorsamsbereitschaft menschlichem Eigensinn und Beharrungsvermögen allzu großen Raum läßt und keinerlei durchgreifende Gegenwirkung zur Einschränkung dieser zerstörenden Tendenzen erlaubt. Die getrennten Kirchen weisen nicht weniger überzeugend auf die absolutistischen, zentralistischen, ja zum Teil totalitären Züge der Papstkirche hin, in der allzu viele sich scheuen und scheuen müssen, sich durch Widerstreben gegen eine Intention von oben in den Geruch mangelnder Katholizität zu bringen, in der die Freiheit des pneuma hagion an einer Stelle lokalisiert erscheint und das ständige sacrificium intellectus droht. Man kann sich aber letztlich nicht aus den Fehlern der anderen rechtfertigen, auch wenn man noch so evidente Tatsachen darzustellen weiß und noch so wirksame Propaganda treiben kann. Das Gegenteil einer Haeresie ist noch nicht die rechte Lehre. Am Bilde der alten Kirche läßt sich zeigen, daß die Heteronomie der Papstkirche die rechte Ordnung der Kirche ebenso verfehlt wie die Autonomie unverbundener souveräner Teilkirchen.

Das Papsttum gleicht in dieser Lage einem Bergsteiger, der zwar immer sorgfältig auf dem festen Grunde geblieben ist, der sich aber biz zum letzten allerhöchsten Gipfel verstiegen hat und von dieser schwindelnden Höhe nicht mehr herunter kann, ohne sich den Hals zu brechen oder mindestens das Gesicht zu verlieren — und der es auch gar nicht für nötig hält und versucht. Die getrennten Kirchen gleichen Wanderern, die bescheiden in der Niederung der Ebene ihren Weg gesucht haben, und dabei in unwegsame Strecken gekommen

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sind. Sie können, so hoffen wir, mit der gnädigen Hilfe Gottes die Irrwege erkennen und auf die feste gerade Bahn kommen, wieder vorwärtskommen, während die römische Kirche bis jetzt wie festgeschmiedet in den selbsterklommenen Schroffen hängt. Daher die Sorge und das Entsetzen so vieler um die Einheit der Kirche betender nicht-römischen Christen, daß die verhängnisvolle Definitionsfreudigkeit der römischen Kirche diesen einsamen Weg immer noch mehr steigert. Denn als im Jahre 1870 die Unfehlbarkeit des Papstes verkündet wurde, beschwichtigte man die Bedenken auch vieler Katholiken damit, daß sie ja nur eine ultima ratio für das Auftreten bedrohlicher Konfliktsfälle sei; daß ihre Bedeutung weit mehr darin liege, daß sie da sei, als daß sie angewendet werde. Achtig Jahre später ist aus der ultima ratio eine prima ratio geworden, die Grundlage für eine rein spekulativen Dogmenbildung, deren Grundlosigkeit Friedrich Heiler in seinem Bericht in der Theologischen Literaturzeitung (1954, Seite 1ff.) vernichtend nachgewiesen hat.

Wir vermögen also die Heteronomie des Papsttums wie die Autonomie der nicht-römischen Kirchen als einander entsprechende Vereinseitigungen zu erkennen, in denen die komplementären Elemente der alten Kirche auseinandergefallen sind. Sie sind entscheidende Grenzüberschreitungen — denn dieses Gefüge verbindet grundsätzlich und verband geschichtlich jene beiden Momente in sich.

Daraus ergeben sich zwei Einsichten — eine methodisch-grundsätzliche und eine geschichtliche.

1. Wesen und Gestalt der Kirche können grundsätzlich nicht aus einem widerspruchslosen, zentralen Prinzip abgeleitet werden. Der Versuch als solcher, wie er auch immer inhaltlich ausfällt, ist eine unerlaubte Verfügbarmachung des Geheimnisses der Kirche. Dieses Geheimnis der Kirche liegt gerade dort, wo diese beiden menschlich gesehen widerstreitenden Momente zusammengehalten werden, eben in dem, was der Mensch selbst nicht vermag. Die Kirche aus einem Prinzip, einer Definition abzuleiten, heißt die Hilfe des Heiligen Geistes verachten, ihm damit Widerstand leisten, obicem

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ponere, indem man sich selbst an seine Stelle setzt, mag man noch so viel von Heilszweck, Dienlichkeit, Gehorsam reden. Die Kirche ist eine von Gott gestiftete Institution, ja geradezu die Institution kat’ exochen. Aber zum Wesen der Institution gehört es, daß sie nicht abschließend definiert werden kann*.

Das Geheimnis der Kirche ist nur im Paradox auszudrücken. Aber es wäre eben kein Paradox, wenn es sich nicht zugleich in sehr deutlichen gegensätzlichen und aufeinander bezüglichen Momenten ausdrückte. Diese beiden klar erkennbaren Momente sind eben Missionsrecht und Sakramentsrecht, Zeit und Raum, Autorität und Gemeinschaft. Diese Gegensätze zeigen das Merkmal der Komplementarität: je klarer wir das eine verfolgen, desto mehr verschwindet das andere. Sehen wir auf die Heteronomie, so ist für die Autonomie konsequenterweise kein Raum mehr und umgekehrt. Es ist eine tiefe Einsicht, wenn der Jansenist St. Cyran sagte, der Glaube bestehe in einer Reihe von Gegensätzen, welche durch die Gnade zusammengehalten werden. Such wir dagegen das göttliche Paradoxon aufzulösen, statt uns ihm zu beugen, so unterwerfen wir es einem innerweltlichen Satz der Logik, dem Satz der Widerspruch. Der große dänische Physiker Niels Bohr hat als Beispiel für das Gesetz der Komplementarität, welches die klassische Physik des Kausalgesetzes ablöst und auf bestimmte Gebiete begrenzt, auf die Gotteslehre verwiesen; man könne die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit Gottes nicht gleichzeitig erkennen und denken, ohne die eine oder die andere dabei aus dem Blick zu verlieren. Der Versuch des Menschen, zu sein wie Gott, beruht nicht nur auf dem willentlichen Ungehorsam, sondern auch in dem Bestreben, die ihm von Gott gegebenen und anbefohlenen Dinge und Verhältnisse nicht so zu nehmen, wie sie gegeben sind, sondern sie im Sinne der Widerspruchslosigkeit seiner Selbstmächtigkeit zu unterwerfen. Deshalb ist der Mensch auch weit eher bereit, Leiden und Unfreiheit auf sich


*) (Vgl. „Recht und Institution”, herausgegeben von Hans Dombois, „Glaube und Forschung” IX, insbesondere die Thesen 72f.).

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zu nehmen, als darauf zu verzichten, mit seiner Welt im Sinne der Widerspruchslosigkeit im Reinen zu sein. Denn wenn er diesen Widerspruch stehen lassen muß, so ist er radikal dem ausgesetzt, daß sichtbar die Einheit seines Lebens nicht bei ihm selbst liegt. In Wahrheit aber glaubt er nicht daran, daß Gott ihn hier hält, sondern an sich selbst und sucht eine Bestätigung dieses Glaubens.

Uns ist aber im Recht ein Raum gegeben, in welchem wir zu leben vermögen, wenn wir nur die deutlichen Grenze respektieren. Es ist ein verständliches sinnvolles Gefüge, in dem wir gehalten werden, aber man kann es nicht durch sogenannte explizite Definition handhabbar machen. Es ist nur durch implizite Abgrenzung bestimmbar — man darf die Grenzen nicht überschreiten, durch deren Verletzung das jeweils entgegengesetzte Moment verdrängt wird. Das wird in der Doppelheit des Apostolischen und des Katholischen sehr deutlich sichtbar. So kann man das Gesetz der Koinonia nicht aus dem geschichtlichen Zusammenhang lösen, und das Gesetz der Mission und Tradition nicht isolieren gegen die Koinonia. Dieses Recht entsteht nicht aus der Definition, dem Begriff, dem Zweck, sondern aus dem geistlichen Vollzuge. Aus der Verkündigung und der Taufe stammt das Missionsrecht, aus der ständigen Wiederholung und Gegenwart des heiligen Mahles entsteht das Sakramentsrecht. Zu gleicher Zeit haben die Michaelsbruderschaft und Karl Barth unabhängig voneinander grundsätzlich ausgesprochen, daß Kirchenrecht liturgisches Recht ist, aus dem gebotenen Vollzuge sich bildet und ihm entspricht. In dieser Umsetzung aus dem Begriff in den Vollzug ist recht eigentlich die Axt an die Wurzel des Begriffsdenkens gelegt, aus dem auch — ausgedrückt in den Fragen des Kirchenrechts — die Spaltung der Kirche entstanden ist. Der katholischen Theologie in ihrer Begriffsgebundenheit liegt dieser Gedanke fern, er begegnete in einem Kreise gut unterrichteter katholischer Theologen entschiedenem Erstaunen.

2. Damit kommen wir in den Bereich der geschichtlichen Erkenntnisse. Unser Kirchengeschichtsbild wandelt sich heute. Nicht allein, daß beide Teile die Vorgänge des 16. Jahrhunderts

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weniger einseitig sehen; entscheidend ist vielmehr, daß wir die Ursachen der Spaltung selbst tiefer und in größerem Zusammenhang verstehen lernen. Dazu gehört die sich auf beiden Seiten verstärkende Erkenntnis, daß die Wurzeln der Kirchenspaltung bereits im 12. Jahrhundert liegen. Indem der Aristotelismus in die abendländischen Theologie einbrach, waren bereits die Ursachen für die spätere Spaltung gesetzt — Thomas von Aquin ist ihr Vater so gut wie Luther. Ein hoher römischer Würdenträger sagte mir einmal: „Sie müssen doch zugeben — alles Unglück kommt vom Nominalismus.” Das ist eine verhängnisvolle, im Katholizismus weit verbreitete Selbsttäuschung und Vereinfachung. Mit der idealistischen Position des mittelalterlichen Realismus war die Gegenposition des Nominalismus zwangsläufig mitgesetzt. Die pneumatische Theologie des Mysteriums wandelt sich in die spirituale des Sakraments. Das pneumatische Kirchenrecht als ein Zweig der Theologie, von Theologen betrieben,  trennt sich als eigene Disziplin von der Theologie und unterscheidet sich immer weniger vom weltlichen Recht. Beide Systeme, das römische seit den Laterankonzilien (1139-1215) wie das protestantische sind spirituale Konzeptionen, die auf einer Trennung von Innen und Außen beruhen. Sie sind einander sehr viel mehr verwandt als beide gemeinsam dem Recht der alten Kirche. Das römische System folgt dem scholastischen Ansatz: operari sequitur esse, das Tun folgt dem Sein und aus dem Sein. Der Priester muß ein spirituales esse haben, um sakramental zu handeln, das opus vollbringen zu können. Die Innerlichkeit des geweihten Klerus wird gegen die Äußerlichkeit der Welt und des Kirchenvolks gestellt, welches auch bei gutem Willen das Eigentliche der Kirche stören und das Opfer seiner Weltgebundenheit sein muß. Dieses Verhältnis von Innen und Außen wird in der Reformation wesentlich nur umgekehrt: der Innerlichkeit des Glaubens wird die Äußerlichkeit des Kirchenwesens entgegengestellt, so wenig damit (dies gegen verbreitete Irrtümer im katholischen Raum) die Sichtbarkeit der Kirche verneint wird.

Was hier einbricht, sind kausale Begriffe von Ursache und Wirkung, von Subjekt und Objekt, von Freiheit und

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Determination, welche dem Wesen geistlichen Geschehens unangemessen sind. Das zeigt sich eben darin, daß die göttliche Paradoxie in dieses Denken letztlich nicht eingehen kann, weil sie den menschlichen Satz vom Widerspruch zerbricht. Da helfen alle Lösungen nicht. Auf der einen Seite hält man Sein und Zweck gedanklich beieinander, indem man den Zweck aus dem Sein definiert und umgekehrt. Auf der protestantischen Seite führt eine kritische Haltung gegenüber der Erkennbarkeit des Seins zu einer einseitigen Bevorzugung ethisch-funktionaler Vorstellungen. Das hat dann schließlich in der Kantischen Philosophie seinen klassischen Ausdruck gefunden. An die Stelle der philosophia perennis positiva des Aquinaten tritt die philosophia perennis critica des Königsbergers. So bleibt dann aus dem scholastischen Satze das operari allein übrig.

Wir haben aus unseren Erwägungen nach Möglichkeit die nur geschichtlichen, zufälligen Momente herauszulassen versucht. Zu diesen historisch-nationalen Eigentümlichkeiten gehört nun ohne Zweifel auch die bekannte Unfähigkeit der romanischen Völker und ihres Rechtsdenken, genossenschaftlicher Selbstverwaltung und Besonderheit Raum zu geben. Nicht nur die von Rom getrennten Kirchen, sondern gerade auch diese selbst mit seinem Zentralismus trägt in höchstem Grade nationale Züge. Das muß gesagt werden, weil man sich unter Berufung auf den universalistischen Zug der römischen Kirche in großem Umfang und sehr naiv über die Bedingtheit dieser Denkform täuscht. Diese Unfähigkeit hat der römischen Kirche von der Malabarküste über England bis nach Osteuropa viele greifbar nahe Missionserfolge zunichte gemacht. Das drückte sich darin aus, daß man trotz aller so oft gerühmten oder gefürchteten Klugheit und Voraussicht im entscheidenden Moment nicht imstande war, „ab- und zuzugeben”, kirchenrechtlich und grundsätzlich darin, daß das kirchliche, dispensable Recht (evangelisch „jus humanum” genannt) über den Gehorsamsgedanken so nah an das jus divinum heranrückte, daß daran die Einheit scheiterte. Selbst um der Gewinnung oder Wiedergewinnung ganzer Völker willen war man nicht gewillt und innerlich imstande, die Unifizierung

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des Ritus und der Organisation auch nur ernstlich zu ermäßigen. Kein Prinzip vermag sich eben selbst zu begrenzen.

Grundsätzlich aber ist eine universalistische Konzeption niemals wirklich universal, niemals wirklich allumfassend, niemals wirklich katholisch, weil sie eine Denkform absolut und sich selbst außerstande setzt, das Moment des Besonderen nun tatsächlich unverkürzt einzubeziehen. Die konsequente Widerspruchslosigkeit eines solchen Systems — ein erwünschter Ruhepunkt für ermüdete Denker! — ist der vollendete Beweis für seine Einseitigkeit. Deswegen hat Bischof Stählin so oft mit Nachdruck zitiert: der Katholizismus hindert die Katholizität. Ebenso hindert der Universalismus die Universalität. Nur auf dem Wege gewaltsamer Gleichsetzungen und Selbsttäuschungen kann man darüber hinwegkommen. Das gleiche Gesetz bewährt sich am Partikularismus; er kann sich in Wahrheit gar nicht auf das einzelne beschränken, wie er will und meint. Weil er ein Prinzip, ein -Ismus ist, zerstückelt er überall das Ganze.

Man fühlt sich versucht zu sagen, daß die streitenden Glaubensgemeinschaften die Schlüssel Petri bei ihrer Trennung geteilt haben: die einen vermögen noch zu binden, aber nicht mehr zu lösen — und alles klebt bei ihnen auf eine fatale Weise aneinander. Die anderen vermögen nur noch zu lösen, aber nicht mehr zu binden — es fügt sich nicht zusammen. Vielleicht ist der große Kardinal von Cues, der Träger einer vergeblichen Kirchenreform im Deutschland des 15. Jahrhunderts, der letzte konsequent katholische Denker, der die complexio oppositorum durchzuhalten unternahm. Ranke sagt in seiner Papstgeschichte, die ihm den auch heute so beliebten Vorwurf „katholisierender Tendenzen” einbrachte, mit der ihm eigenen Mäßigung: „Die katholische Kirche erkannte (Anm.: im Trienter Konzil) ihre Beschränkung an: auf die Griechen und den Orient nahm sie keinerlei Rücksichten mehr; den Protestantismus stieß sie mit unzähligen Anathemen von sich. In dem früheren Katholizismus war ein Element des Protestantismus einbegriffen: jetzt wird es auf ewig ausgestoßen. Aber indem man sich beschränkte, konzentrierte man seine Kraft und nahm sich in sich selber zusammen.” (Band I, II. Buch, Seite 184, 12. Auflage 1923).

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Das Kirchenrecht ist die große Abrechnungsstelle für die Entscheidungen der Theologie. Hier, nicht in der Geschichte der Vorstellungen und Begriffe, zeigt sich, was verbindliche Wirklichkeit geworden ist. Kirchenrecht bildet sich aus dem gebotenen Vollzuge — und jede Kirche proklamiert und beansprucht das Recht, was zu tun sie sich beauftragt und bevollmächtigt weiß.

Die gegensätzlichen Erscheinungen des Kirchenrechts zeigen sehr deutlich die Merkmale der beiden Hauptrichtungen, welche sich seither in der abendländischen Rechtsphilosophie ausgeprägt haben — der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus. Das neue kanonische Recht als vollendetes System ist sozusagen das Naturrecht der übernatürlichen Ordnung, um in diesen Begriffen zu sprechen. Auf der anderen Seite besteht ein ungeordneter Komplex zweckmäßig verfügbarer Ordnungen, denen als reines ius humanum niemals eine wesentliche Dignität innewohnt. Die Entwicklung der abendländischen Rechtsphilosophie gleicht, um ein schon früher von mir gebrauchtes Bild noch einmal zu verwenden, einem Paternosteraufzug. Läßt man sich aufwärts tragen, so kommt man auf das Dach des Naturrechts mit unendlichen, menschliches Erkenntnisvermögen weit übersteigenden Perspektiven. Fährt man schwindelnd wieder herunter, so kommt man in den Keller des Positivismus, wo bei schwacher künstlicher Beleuchtung alle Konturen und Farben sich verwischen und selbst das Erkennbare ins Zwielicht gerät. Wo man aber zwischen beiden aussteigen und haltmachen will, ist immer einigermaßen willkürlich. Die Unmöglichkeit beider Positionen und ihre Bezüglichkeit hat Klaus Ritter in einer scharfsinnigen Untersuchung unter dem bezeichnenden Titel: „Zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus” (Glaube und Forschung, Band X, Witten 1955), nachgewiesen. In der Jurisprudenz hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, daß bei allen Unmöglichkeiten einer Naturrechtslehre der Positivismus keine echte Möglichkeit ist, weil er zwangsläufig die Substanz seines Gegenstandes durch seine Methode unter den Händen verlieren muß. Noch einmal bestätigt sich jene orthodoxe Generalkritik an der abendländischen Kirche,

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jedoch mit dem entscheidenden Zusatz, daß es nicht so selbstverständlich ist, wie sie meint, zwischen jenen beiden den schmalen Grad einer Mittellinie zu halten.

Im Begriffsdenken, im Eindringen kausaler Vorstellungen, und in der Ablösung des Kirchenrechts vom liturgischen Vollzuge drückt sich eine entscheidende Verweltlichung des Kirchenrechts aus, an der wir seit achthundert Jahren leiden.

Das zeigt sich auch darin, daß die Kirchenrechtssysteme eine sehr höhe Ähnlichkeit mit den politischen Systemen erlangen, die sich auf der weltlichen Rechts- und Geschichtsphilosophie der Moderne aufbauen. Die weltliche Philosophie ist nicht so sehr Magd als Tochter der Theologie, die in ihren Problemstellungen von den großen Fragen der christlichen Theologie nicht loskommt. In ihr und der von ihr geformten politisch-geschichtliche Wirklichkeit sind zwei Hauptrichtungen aufzuweisen, welche heute die Welt trennen: der objektive und der subjektive Idealismus. Der objektive Idealismus glaubt an die rationale und objektive Erkennbarkeit des Geschichtssinns, welchen er aus einem Ansatz und einem Prinzip erklärt. Trifft das aber zu, so muß dieser erkennbare Geschichtssinn auch zentral leitungsmäßig realisierbar sein. In dieser Erfassung des Gesamtsinns ist aber auch jedes einzeln so aufgehoben, daß ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem Objektiven und der Einzelexistenz nicht stattfinden kann — demgegenüber gibt es nur den „schuldhaften” Irrtum. Die Struktur dieses Denkens bleibt sich gleich, ob man nun diesen objektiven Geschichtssinn in der Offenbarung oder in der vernünftigen geschichtsphilosophischen Erkenntnis erkennbar werden läßt.

Der subjektive Idealismus demgegenüber sieht den Menschen durch eine entscheidende Geschichtsentwicklung bereits so zu sich selbst gekommen, daß es in diesem errungenen Stande nur darauf ankommt, die alten vergehenden Reste der Unfreiheit, der Heteronomie, der Gesetzlichkeit abzustoßen und nicht wieder in sie zurückzufallen. Jede Heteronomie ist gegenüber der so erlangten Freiheit unwürdig und verderblich. Auch hier ist es wiederum gleich, ob man das Entscheidende in einem geistlichen Geschehen des Glaubens, der

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Rechtfertigung des Sünders, oder in einer innerweltlichen Vernunftentwicklung sieht. Demgegenüber aber, daß so das Eigentliche schon geschehen ist, kann in der Geschichte nichts Wesentliches mehr geschehen und dementsprechend auch nichts mehr zu tun sein, während in jener anderen Anschauung alle Kräfte auf die Verwirklichung dieses aufgegebenen objektiven Sinns angespannt werden.

Aus dem Gesagten ist schon deutlich geworden, in welchem Maße unsere Vorstellungen von Kirche und Kirchenrecht beiderseits von diesen Denkstrukturen bestimmt sind. Wieweit das reicht, darüber alsbald.

Zunächst erklärt dieser Denktypus des objektiven Idealismus, der Identitätstheologie und Identitätsphilosophie in hohem Maße die oft bemerkte Ähnlichkeit der römischen Kirche mit den totalitären Systemen — immer mutatis mutandis. Die Denkform des subjektiven Idealismus ist aus Lehre und Kirchenrecht des Protestantismus leider ebensowenig wegzudenken und wegzuleugnen. Beides entspricht einander. Es ist auf der einen Seite in der Konsequenz Geschichte ohne Personalität, ohne die letzte unverfügbare Freiheit und Einzigartigkeit der Person, die immer im Blick auf den objektiven Gesamtsinn gehalten ist sich zu unterwerfen — sie haben immer Recht — die Kirche wie deren Karikatur, die Partei. Aber auf der anderen Seite ist es Personalität ohne Geschichte — es kann nach dem Evangelium oder der Reformation geschichtlich Wesentliches auch in der Kirche nicht mehr passieren. Daher die ständig erklärte Bereitschaft zu gehorsamem Handeln und die gleichzeitige Unfähigkeit zur Konkretion.

Die christliche Theologie hat selbst die inneren Voraussetzungen für die schizophrene Lage geschaffen, für die Kirchenspaltung wie für die Gegensätzlichkeit der idealistischen Systeme, welche auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs die abendländisch geformte Menschheit zerreißen. Allem Geschrei über den „Materialismus” zum Trotz streiten in der heutigen Welt idealistische Denksysteme — man ist sich beiderseits über die fortdauernde Gültigkeit der Axiome der klassischen Physik im Grunde ja völlig einig, auch zwischen

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Rom und Moskau, und gerade zwischen ihnen. Hier wie dort treffen wir dieselben Begriffe von Substanz und Kausalität — nur über „Geist” und „Übernatur” wird gestritten. Die Einsichten der modernen Naturwissenschaft gelten beiden gleichermaßen als Ketzerei. Und eben dieses Weltbild hat uns mit innerer Folgerichtigkeit die Spaltung der Kirche und die Spaltung der Welt beschert.

Es ist gegenüber diesem Bilde die Lage nicht zu verkennen, daß keine der beiden miteinander streitenden Kirchen einfach darin aufgeht. Es ist ebenso gewiß und unausweichlich, daß unser notwendiges theologisches Denken sich ebenso philosophischer Begriffsmittel bedienen muß, um ausdrücken zu können, was es sagen will und muß. Entscheidend aber ist, ob man sich dessen bewußt ist, es in Grenzen hält und das Mittel nicht zum Inhalt werden läßt. Tatsächlich aber sind diese Denkstrukturen in unserem Kirchenwesen und Kirchenrecht weitgehend dominierend geworden — und darum gehört dies in eine Darstellung der kirchenrechtlichen Gegensätze hinein. Soweit ich sehe, ist dieser Tatbestand noch nicht mit dieser Härte ausgesprochen worden. Das ist aber nötig, weil es in den Entscheidungen im Verhältnis der beiden Kirchen um wirklich wesentliche Grundfragen unseres Seins geht, nicht um das Verhältnis zweier relativ gleichberechtigter Konkurrenten, die wechselseitig sich ihre Vorzüge und Nachteile vorhalten. Die Wahrheitsfrage zwischen den Bekenntnissen liegt tiefer als sie bisher angesprochen worden ist. Wir meinen nicht, eine philosophiefreie Theologie und ein von jeder Berührung und Ähnlichkeit mit dem weltlichen Recht sorgsam bewahrtes Kirchenrecht fordern zu können. Das wäre Utopie. Aber wir meinen andererseits in der Aufhebung des Satzes vom Widerspruch für den Bereich der Theologie, in der Komplementarität des Apostolischen und Katholischen in Gestalt und Recht der Kirche wesentlich kritische Maßstäbe gegenüber den streitenden Erscheinungen gefunden zu haben. Das ist eine Bestätigung jener orthodoxen Generalkritik an dem Zustand der abendländischen Kirche — die orthodoxe Kirche hat ihre eigenen Fehler und Versäumnisse. Wir reden von der alten Kirche

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nicht im Sinne eines romantischen Urbildes, sondern weil hier noch etwa sehr konkret zusammen war, was zusammengehört und wir haben auseinanderfallen lassen, weil uns die Konsequenz unseres theologischen Denkens wichtiger war als die Beugung vor der Unbegreiflichkeit und Unverfügbarkeit des göttlichen Geheimnisses und gerade auch dem, ws von diesem Geheimnis offenbar geworden und im altkirchlichen Dogma sehr deutlich ausgesprochen war — nämlich eben die Einheit von Apostolischem und Katholischem.

Angesichts dieses Tatbestandes ist das Urteil begreiflich, daß Konversionen keine echte Lösung, sondern nur Grenzerscheinungen sind, durch Schicksal und Temperament bedingte persönliche Entscheidungen oder — Kurzschlüsse. Deswegen ist die Zahl der folgerichtigen Denker unter den Convertiten relativ so gering, andere verfangen sich wieder in ihrer eigenen Folgerichtigkeit. Wer tiefer sieht, leidet mit seiner Kirche auf die Verheißung hin, daß wir nicht über Vermögen versucht werden sollen, er betet und arbeitet in seiner Kirche für die eine heilige apostolische und katholische Kirche.