I.

Die politische Gerichtsbarkeit (pol. Ger.) hat in der Gegenwart eine in der Geschichte noch nicht bekannte, fast unübersehbare Ausdehnung gewonnen. In einem großen Lokal Wiens wurde kürzlich eine Rundfrage veranstaltet, wer von den anwesenden Männern sich noch nicht in Haft befunden habe. Hierbei ergab sich, daß fast alle Anwesenden in den letzten Jahren mehr oder minder lange Zeit ihrer Freiheit beraubt gewesen waren. Neben politischen Häftlingen aller Systeme und wenigen kriminell Bestraften stellten naturgemäß die Kriegsgefangenen das Hauptkontingent. Jedoch auch sie waren fast alle in nicht formellen Verfahren politisch überprüft und aus solchen Gründen oft lange Zeit zurückgehalten worden. Sie waren also in politische Ermittlungsverfahren verwickelt und befanden sich zeitweilig in Untersuchungshaft.

Der ungeheure Ausdehnung dieser Erscheinung entspricht jedoch keine theoretische Erfassung. Es gibt keine zusammenhängende wissenschaftliche Darstellung des Problems von Überzeugungskraft und Rang. Bezeichnend ist die Reaktion, welche die Entnazifizierung ausgelöst hat. Hier steht das Rachegeschrei der Verfolgten des Naziregimes dem grundsätzlichen Protest eines kleinen Kreises gegenüber, der — jedoch ohne zureichende gedankliche Begründung in größerem Rahmen — die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen überhaupt bestreitet. In der Hauptsache jedoch schwankt die öffentliche Meinung, die Erörterung in der Presse und in den juristischen Fachzeitschriften zwischen der — meist als peinlich empfundenen — Unvermeidbarkeit einer Regelung und der Kritik an der konkreten Ungerechtigkeit der Durchführung. Der Gedanke, daß es sich um eine Übergangserscheinung handele, stumpfte vollends jeden Antrieb zu energischer Besinnung ab. Die tiefere Bedeutung dieses Gedankens kam dabei nicht zum Bewußtsein. Die vielfachen Ansätze der Kirche zu einer Art Interzession wurden regelmäßig auf das praktische Gebiet teilweiser Milderungen abgedrängt.

Die Kritik ist also fast ganz positivistisch und vermeidet eine echte Grundsätzlichkeit. Dieser Pragmatismus, der dem Problem ausweicht, ist allerdings zugleich auch das späte Erbe einer positiv-liberalen Anschauung. Für die Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts existiere das Problem der pol. Ger. grundsätzlich nicht — sie schien so überwunden wie etwa die Tortur als Mittel der Wahrheitsfindung. Diese Haltung schien ihre Bestätigung darin zu finden, daß das Phänomen in der Tat in einem erstaunlichen Maße zurückgedrängt war. Das klassische Verbot der „Sondergerichte” — d.h. das Monopol der ordentlichen Gerichtsbarkeit — und der Grundsatz „nullum crimen sine lege” schienen formell und materiell das Problem negativ zu erledigen. Ein gewisser Anteil politischer Prozesse vor den ordentlichen Gerichten erschien tragbar — ein Erdenrest, zu tragen peinlich. Der Bereich des Hoch- und Landesverrats wurde in eine echte tatbestandsmäßige Form gebracht und beide darüber hinaus noch möglichst einschränkend ausgelegt. Man glaubte ehrlich, des gefährlichen Bazillus scheinbaren und tatsächlichen Machtmißbrauchs in der form der pol. Ger. Herr geworden zu sein. Diese Sterilisation des öffentlichen Lebens durch die Hygiene des Gesetzes hat zwar unbestreitbare Erfolge

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erzielt, aber die pol. Ger. ebensowenig aus der Welt geschafft wie die moderne Medizin den Tod. Diese Hygiene hat jedoch kein Mittel dagegen besessen, daß jener Bazillus neuerdings wieder mit ungeahnter Virulenz wirksam geworden ist, die aller bisherigen Heilmethoden spottet. Und die selbst bedrohten Ärzte scheuen sich sogar, auch nur eine Diagnose zu stellen.

Es fragt sich — vorweg ohne strenge begriffliche Abgrenzung —, was, im Umriß gesehen, in den Bereich der pol. Ger. fällt.

Zunächst läßt sich eine innere und eine äußere Seite unterscheiden. Zur pol. Ger. nach außen zählt die Gerichtsbarkeit über Spione, ausländische politische Agenten und die Prisengerichtsbarkeit; zu derjenigen nach innen zählen Hoch- und Landesverrat von Landesangehörigen und der ganze Bereich, der heute in den Maßnahmen gegen Kollaborateure in den westlichen Ländern, in der Entnazifizierung in Deutschland und in den gehäuften politischen Prozessen in den sowjetischen Satellitenstaaten in Erscheinung getreten ist.

Es ist zunächst nicht leicht, ein übereinstimmendes Begriffsmerkmal für diese beiden Gruppen zu finden. In der Spionage- und Prisengerichtsbarkeit handelt es sich darum, daß der Staat seinen Machtbereich einschließlich des in Anspruch genommenen Banngebietes, gegen feindliche Eingriffe von außen schützt. Daß es sich bei Spionage und Bannverletzung in keinem Sinne um sittliche Verfehlungen handelt, liegt auf der Hand. Der Spion und der bannbrechende Handelsschiffskapitän, die gegen eine feindliche Macht tätig werden, handeln rechtswidrig nur gegen das Recht des feindlichen Staates; sie werden in Anspruch genommen, weil sie nicht das völkerrechtliche Privileg des offen kämpfenden Soldaten besitzen, der ja dasselbe oder noch weit mehr tut. Es ist jedoch im letzten Kriege eine bedrohliche Verwischung der Grenzen zwischen rechtlich geordneten offenen Kriegshandlungen und sonstigen feindlichen Maßnahmen eingetreten. Die Ächtung des Krieges hat diesen nicht beseitigt, wohl aber dazu beigetragen, ihm die Rechtsform zu nehmen.

Ebensowenig aber wie ein sittliches Verschulden kann jenen Tätergruppen die Verletzung einer politischen Treupflicht vorgeworfen werden. Dieses Merkmal der Treupflichtverletzung faßt die Taten zusammen, die der pol. Ger. nach innen unterliegen: landesangehörige Spione, Hochverräter, Kollaborateure, Saboteure — aber auch den Nationalsozialisten wird vorgeworfen, daß sie der demokratischen Verfassung und den darin eingeschlossenen rechtsstaatlichen und humanitären Grundsätzen untreu geworden seien.

Ein dritter Teilbereich der pol. Ger. ist erst in der Gegenwart sichtbar geworden: pol. Ger. im Rahmen internationaler Beziehungen. Sie ist erst jetzt aus dem Stadium der Schiedsgerichtsbarkeit in das der echten streitigen und Strafgerichtsbarkeit übergegangen. Als der erste umfassende Volkskrieg in Europa 1813 zu Ende war, hat sich das Verdikt der vereinigten europäischen Mächte darauf beschränkt, dem ruhelosen Urheber dieser blutigen Verwicklungen eine Ehrenhaft aufzuerlegen, die zu milde war, daß sie nach seinem Ausbruch verschärft werden mußte. Aber auch die zum äußersten gequälten Deutschen und Spanier haben damals Napoleons gerichtliche Verurteilung nicht gefordert. Sie begnügten sich mit dem auf den Schlachtfeldern erstrittenen weltgeschichtlichen Urteil. Die ritterliche Tradition war stark genug, die die Motive des kämpfenden Gegners ethisch und juristisch nicht in Frage stellt. Auch der abgründigste Hasser des Korsen, Heinrich von Kleist, singt nur:

Schlagt ihn tot — das Weltgericht
fragt nach euren Gründen nicht!

Nach 1870 taucht der Gedanke auf, die leichtfertigen Urheber des Krieges, Napoleon III. und den Herzog von Gramont als Kriegsverbrecher unter

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Anklage zu stellen. Bismarck hat in einer Reichstagsrede dies ausdrücklich mit der Begründung abgelehnt, die Ahndung solcher Taten müsse einer höheren Gerechtigkeit überlassen bleiben. Die Absicht der Alliierten 1918/19, deutsche Staatsmänner und Heerführer als Kriegsverbrecher aburteilen zu lassen, scheiterte an der Auflehnung des deutschen Volkes und wurde erst nach dem zweiten Weltkrieg in die Tat umgesetzt. Damit ist der Gedanke einer internationalen pol. Ger. — gleichviel auf welcher gedanklichen und rechtlichen Grundlage — ein Faktum geworden, das rechtswissenschaftlich zu verarbeiten ist.

Erst recht aber fehlt dann für diese drei Bereiche das einende Merkmal. Beruht die äußere pol. Ger. noch nicht auf einer politischen Treupflicht, so die internationale pol. Ger. nicht mehr oder nur in einem so übertragenen Sinne, daß diese der Konkretion einer echten Rechtspflicht ermangelt. Bald ist es der Gegenstand, bald die Intention, bald die Ausdehnung und die folgenschwere Tragweite der Taten, welche diese als besondere charakterisieren. Nur das eine haben sie unzweifelhaft gemeinsam, daß sie nämlich aus dem Rahmen der ordentlichen Gerichtsbarkeit herausfallen, von dieser nicht befriedigend erfaßt werden können. Nur in einem einzigen Delikt spiegelt sich der ganze Bereich der pol. Ger. in der ordentlichen Gerichtsbarkeit wieder: im Tatbestand der Beleidigung. Für die Beurteilung einer Ehrenkränkung ist diejenige politischer Handlungen in gewissem Umfange nicht zu vermeiden; deshalb ist die ordentliche Gerichtsbarkeit immer in der Gefahr, an politischen Beleidigungsprozessen zu scheitern, weil diese sie zum Übergreifen in einen gesetzesfremden Bereich nötigen. Aus diesem Grunde sucht auch die Justiz solchen Entscheidungen aus einem gewissen Selbsterhaltungstrieb auszuweichen. Man kann deshalb auch die ordentliche Gerichtsbarkeit nicht schwerer gefährden, als wenn man versucht, politische Wertungen auf dem Wege eines solchen Prozesses zu erstreiten. Verantwortungsbewußte Politiker sollten sich der höheren Interessen bewußt sein, die sie damit aufs Spiel setzen. Es kann nicht der Sinn solcher Prozesse sein, politische Werturteile richterlich bestätigen zu lassen, wohl aber hat der politische Beleidigungsprozeß zur Feststellung von Tatsachen seine Berechtigung, der gegenüber die strafrechtliche Bewertung häufig zurücktritt und zurücktreten kann.