Dombois, H.

Krise des Strafrechts — Krise des Richteramts

1948

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Krise des Strafrechts — Krise des Richteramts

von

Staatsanwalt Hans Dombois

 

I

Wie kaum ein anderes Lebensgebiet ist das Strafrecht ein Spiegelbild der geistesgeschichtlichen Lage der Zeit; in seiner Entwicklung in Theorie und Praxis verzeichnet es mit der Genauigkeit eines Seismographen die tieferen Umschichtungen im sozialen und geistigen Gefüge des Volkes. Auf der Mitte zwischen den politischen Zweckmäßigkeiten des Staatsrechts, den wirtschaftlichen des bürgerlichen Rechts drückt es den sittlichen Charakter des Rechts am reinsten aus.

Auch auf seinem Gebiet haben die letzten dreißig Jahre tiefgreifende Veränderungen gebracht. Einer widerspruchsvollen und stockenden Entwicklung nach 1918 folgte ein reißender Umbruch nach 1933. Die Ergebnisse dieser zwölf Jahre nun sind mit der großen Heckenschere der Kontrollratsverordnungen zum größten Teil abgeschnitten worden. Eine der wesentlichsten Änderungen des Strafgesetzbuches, die Sicherungsverwahrung, ist stehengeblieben, aber Vorschriften, die nationalsozialistisches Gedankengut enthalten, dürfen nicht angewendet werden; die Strafrahmen sind auf den Stand des 1. 1. 1933 zurückgeführt worden. Indessen bedeutet eine solche negative Maßnahme noch keine echte Neuschöpfung und Neubesinnung; von einer solchen ist nicht allzuviel zu bemerken. Vor allem aber fehlt fast jeder Versuch, die Tendenzen dieser zwölf Jahre kritisch wissenschaftlich zu verarbeiten.

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Das hat seinen echten Grund darin, daß sich die materielle Rechtskraft eines geschichtlichen Urteils — wie das Verdikt über den Nationalsozialismus — auch auf alle seine Neben- und Teilerscheinungen erstreckt. Die Prozeßordnung auch des Weltgerichts steht jedem Versuch einer Wiederaufnahme des Verfahrens mit Recht erschwerend entgegen. Das aber beseitigt nicht die Notwendigkeit, dieses Urteil mit den echten Rechtsgründen zu versehen, und sich nicht mit einem leidenschaftlichen Plädoyer zu begnügen. Nur so kann, was für Recht erkannt wurde, auch als solches von den Beteiligten erkannt und anerkannt werden. Damit aber wird sich zugleich zeigen, in wieviel größere Zusammenhänge diese Erscheinungen gehören. So wenig man es trotz aller Erörterungen wahrhaben will: der totale Staat ist der Ausdruck einer allgemeinen und alle politischen Systeme der Gegenwart treffenden totalen Krisis.

Zu einer solchen Urteilsbegründung gehört zunächst ein sauberer und folgerichtig aufgebauter Tatbestand.

Der Nationalsozialismus stellte im Jahre 1933 zunächst die stark gesunkene Autorität der Gerichte wieder her, ermöglichte nach einer uferlosen Gnadenpraxis und einem Mißbrauch der Rechtsmittel zur Prozeßverschleppung eine energische Verbrechensbekämpfung und verwirklichte eine Reihe von längst überfälligen Reformen, die mit seinem Programm wenig oder nichts zu tun hatten.

Was er aber darüber hinaus an Grundsätzlichem beabsichtigte, war 1933 noch ganz unklar. Was davon in Presse und Versammlungen verlautete, war eine wirre Mischung von deutsch-rechtlicher Romantik, modernen sozialpolitischen Forderungen und biologischen Erkenntnissen in freirechtlichem Gewande. Der geschulte Jurist fühlte sich über diesen dilettantischen Synkretismus hoch erhaben; aber es zeigte sich bald, daß man seine Folgerichtigkeit weit unterschätzt hatte, ja, ihm gegenüber praktisch wehrlos war.

Das ist freilich nicht verwunderlich, da noch heute post festum der zentrale Ansatz dieser Glaubenslehre verkannt und verleugnet wird. Das glaubenslose, bürgerliche Treibholz wurde mit Notwenigkeit das Opfer eines leidenschaftlichen Glaubens. Heute steht der Einsicht in diese Vorgänge am meisten das Schlagwort von der Dämonie entgegen. Wenn es eine Dämonie gibt, so ist es die

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Dämonie der tödlichen ideologischen Folgerichtigkeit. In einer rationalisierten Zeit sind auch die Dämonien rationale Kräfte. Im Gegenteil: durch nichts entzieht sich diese Dämonie sicherer der Überwindung als durch dieses Schlagwort selbst; wenn es auftaucht, hört alles folgerichtige Denken auf. Wie das Kaninchen auf die Schlange gebannt, starrt man auf diese unbegreifliche Macht, statt sie kühl zu enthüllen. So müssen wir alle die gegenwärtigen Herren der Welt betrachten: ein Wörtlein kann sie fällen. — 

Was wollte nun der Nationalsozialismus auf dem Gebiete der Strafrechtspolitik?

In dem wirren Durcheinander seiner Programmatik kehrte nur ein Gedanke immer wieder: dem formalen Recht wurde das wahre inhaltliche entgegengesetzt, das es zu verwirklichen galt. Dieses angeblich formale Recht wurde dan meist mit oberflächlichen Schlagworten als römisch, jüdisch, kapitalistisch gebrandmarkt. Die Gegenüberstellung von formalem und inhaltlichem Recht ist an sich schon eine Entartung und Schwäche des Rechtsgedankens. Alle großen Rechtsvölker haben stets gerade im Gesetze den Ausdruck ihres Rechtsbewußtseins gesehen, dieses schöpferisch zu gestalten versucht, ihre Rechtsgedanken auszuprägen verstanden. So wenig man dem Bamberger Reiter eine Idee dieses Kunstwerkes entgegensetzen wird, so wenig kann man dies für eine bestimmte Rechtsordnung als Ausdruck eines Wertbewußtseins. Vor allem aber bedurfte dieser unbestimmte und gerade dadurch so populäre Begriff erst der Ausfüllung.

Seinen entscheidenden Ausdruck hat der zu Grunde liegende Gedanke in der Neufassung des § 2 des Reichsstrafgesetzbuches, in der Rechtsschöpfungsbefugnis des Analogieparagraphen gefunden. Die Vorschrift ist bekanntlich schon sehr frühzeitig durch eine Verordnung des interalliierten Kontrollrates aufgehoben worden. So wenige Urteile auf ihrer Grundlage ergangen sind, so wenig kann in der Tat ihre grundsätzliche Bedeutung überschätzt werden. Mit ihr hat das in Jahrhunderten ausgeformte Recht unter dem Druck einer zentralen Idee gleichsam einen neuen Aggregatzustand angenommen. Sie ist die Atombombe in der Rechtswissenschaft, und der Strafrechtslehrer Professor Mezger hat sie kurz als Denkauflockerungsvorschrift abgelehnt. Sie besagt, daß zu bestrafen ist, was nach gesundem Volksempfinden und nach

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dem Grundgedanken eines Strafgesetzes strafwürdig erscheint. Eine Übersicht über die Rechtsprechung (Kohlrausch-Lange RStGB 1944) zeigt, daß die Obergerichte in voller Erkenntnis ihrer Tragweite versucht haben ,die Vorschrift sozusagen an der Nabelschnur des „Grundgedankens eines Strafgesetzes” festzuhalten und unschädlich zu machen. Bei den Untergerichten beginnen sich die bedenklichen Folgerungen dieser schwierigen Vorschrift deutlich abzuzeichnen, mit der man schon rein logisch nicht fertig wird. Wichtiger aber als die wenigen Einzelurteile ist der völlige Umsturz des Verbrechensbegriffs, den sie ausdrückt und mit sich bringt. Nicht mehr der einzelne formulierte Gesetzesbestand begründet das Verbrechen, sondern der Verbrechensbegriff ist ein allgemeiner, der allen konkreten Vorschriften vorausgeht und zu Grunde liegt. Diesem Verbrechensbegriff des nach gesundem Volksempfinden Strafwürdigen gegenüber bilden die einzelnen Straftatbestände, die bisher das Zentrum des Strafrechts darstellten, nurmehr einzelne Anwendungsfälle. Wird der Täter aber wiederholt straffällig, so tritt bereits an die Stelle der Schuld an der einzelnen Tat nach dem neuen § 20 a eine sogenannte Lebensführungs- und Charakterschuld, auf Grund deren er zur Sicherung eine besonders erhöhte Strafe verwirkt hat. Es handelt sich scheinbar dabei um eine Verallgemeinerung der speziellen Rückfallschärfungen bei Diebstahl, Hehlerei und Betrug. Aber es ist kennzeichnend, daß diese speziellen Rückfallvorschriften vermöge der strengen normativ-tatbestandsmäßigen Denkschulung der Richter über den Rahmen der Einzeltat hinaus kaum durch wirklich entscheidende Erhöhung der Strafen im Sinne des Sicherungsgedankens ausgenutzt worden sind. Nunmehr aber wird das Tatstrafrecht folgerichtig zum Täterstrafrecht umgebildet. Man spricht vom Tätertypus. Dies Wort kann zweierlei bedeuten. Solange man nur daran denkt, daß das Gesetz mit einer Vorschrift gewisse in der kriminologischen Wirklichkeit vorkommende Erscheinungen treffen will, kann man den Begriff zur Auslegung des Einzeltatbestandes mit Erfolg benutzen. Man bleibt damit aber innerhalb des gesetzlichen Tatbestandes. Es handelt sich nicht eigentlich um einen Tätertypus, sondern um einen soziologischen Tattypus. Der § 2 neuer Fassung dagegen ist nicht zur Auslegung sondern zur Ausdehnung der Tatbestände bestimmt. Vom Tätertypus kann man richtig erst

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sprechen, wenn man den Menschen als Träger bestimmter verbrecherischer Neigungen betrachtet. Bei formeller Aufrechterhaltung des Einzeltatbestandes liegt diesem Strafrecht die Weltanschauung des biologischen Determinismus zu Grunde, die den Menschen als Produkt anlagemäßiger Faktoren bewertet. In immer stärkerem Maße wird im Willensstrafrecht Gesinnung und biologische Beschaffenheit des Menschen als Grundlage dieser Gesinnung in den Vordergrund gestellt. Je mehr das subjektive Moment bewertet wird, desto mehr versucht man, den verbrecherischen Willen im allgemeinen statt der Einzeltat zu erfassen und zu bestrafen. Dementsprechend dringen in die Tatbestände immer mehr allgemeine Wertbegriffe, Typenbegriffe ein, wie „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher, Volksschädling”, die eine ebenso allgemeine Bewertung der Persönlichkeit der Bewertung der Tat voranstellen. Die Einzeltat wird zum bloßen Indiz für das Vorhandensein einer verbrecherischen Persönlichkeit. Das sittliche Moment der Verantwortung und Sühne der einzelnen vergangenen Tat tritt zurück hinter dem Gedanken der Sicherung von der möglichen künftigen Tat, dem gefährlichen Täter. So findet das folgerichtig durchgeführte Willensstrafrecht seine Krönung und sein Schwergewicht in der Ausbildung eines Sicherungsstrafrechts. Faschismus und Nationalsozialismus haben entsprechend ihrem weltanschaulichen Kompromißcharakter ein zweigleisiges Strafrecht geschaffen, in welchem Sicherung und Sühne nebeneinanderstehen, in welchem aber der Akzent auf der Sicherung steht. Sowjetrußland hat auf der weltanschaulichen Grundlage des ökonomischen Materialismus folgerichtig ein eingleisiges reines Sicherungsstrafrecht ausgebildet.

Diese Wandlung des Rechtsdenkens ist bisher noch kaum in das Bewußtsein getreten und von der wissenschaftlichen Kritik nicht verarbeitet worden. Alle strafrechtlichen — ja, überhaupt alle Rechtsnormen wurden bisher in die Form des Tatbestandes gefaßt. An eine begrifflich umschriebene Handlung ist eine Rechtsfolge geknüpft. Wer etwas Verbotenes tut, wird bestraft. Nunmehr heißt es: Wer etwas ist, wird in irgendeiner Form, ganz oder teilweise, dauernd oder nur auf Zeit, aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen. Die Strafe geht in die Sicherungsmaßnahme fließend, ohne feste Grenze über. Voraussetzung ist die Subsumption

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des Betroffenen — man kann nicht Täter sagen — unter diesen Seinsbegriff einer Beschaffenheit, einer typischen Willens- oder Gesinnungsrichtung, für die ein konkretes Verhalten, eine einzelne Tat nur ein Anzeichen ist. Und als solches werden die Merkmale dieser Beschaffenheit auch in Gesetzen aufgeführt; der Begriff läßt sich weder handlungsmäßig in Einzelmerkmale zerlegen noch überhaupt abschließend logisch definieren. Im Rahmen des Tatstrafrechts hat es solche Begriffsformen als ausgesprochene Ausnahme bei Dauerdelikten im Bereich der Zuhälterei und Kuppelei gegeben. Nunmehr erlangen sie entscheidende und typische Bedeutung.

Man könnte diese Erscheinung als Erzeugnis eines Systems ansehen, das von tausend prophezeiten Jahren neunhundertachtundachtzig der Nachwelt schuldig geblieben ist. Aber eine einmal geschaffene Denkform ist immer ein typisches Produkt einer Zeit und von dem Gehalt unabhängig, mit dem man sie ausfüllt. Denn auch im Befreiungsgesetz vom 5. 3. 1946 finden wir ebensolche seinsmäßige Umschreibungen als Voraussetzungen von Rechtsfolgen, für Sühnemaßnahmen, Täterbestände, an Stelle von Tatbestanden, — Aktivist, Militarist, Nutznießer, wie vordem Gewohnheitsverbrecher und Volksschädling. Die Werte, die geschützt werden sollen, sind verschiedene, die Rechtsformen sind die gleichen. Ein verändertes Lebensgefühl drückt sich in ihnen allen aus. Der Optimismus, der den Menschen als freien Herrn seiner Handlungen sah, und es deshalb für genügend hielt, auf diesen freien Willen abschreckend oder bessernd einzuwirken, hat sich in einen Pessimismus verwandelt, in einen Determinismus, der einen Teil der Menschheit als verdorben und schädlich ansieht, nach welchen Merkmalen man dabei auch urteilen mag. Der Mensch ist schicksalhaft, wesenhaft in seiner ganzen Willensrichtung bestimmt, so wenig seine Verantwortlichkeit damit aufgehoben ist. Der Subjektivismus, der das Gesinnungsverbrechen privilegiere, ist ganz verschwunden angesichts der objektiven Gefährlichkeit des Täters. Das im Tatstrafrecht immanent enthaltene allgemeine innere Tatbestandsmerkmal des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit wird geleugnet oder einschränkend ausgelegt.

Alle diese Merkmale, aber auch die völlige Verschiedenartigkeit der Gehalte, unter denen sich dieser Formwandel vollzieht, kennzeichnen und beweisen seine Grundsätzlichkeit. Scheinbar und

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äußerlich handelt es sich nur um eine Verfeinerung der kriminalistischen Technik, die die Tat nunmehr an ihre Quelle, den Willen zurückverfolgert und dort zu treffen sucht. Aber dies hat in Wahrheit das Strafrecht der Abschreckung und Besserung auch schon versucht. Auch ohne Lombroso und die moderne Kriminologie und Psychologie hat man schließlich immer gewußt, daß es geborene und berufsmäßige Verbrecher gibt. Aber der Versuch, die schwarzen Schafe juristisch begrifflich aus der Herde auszusondern, ist erst unter veränderten weltanschaulichen Voraussetzungen möglich geworden.

Diese Wandlung des Tatbegriffs aber tritt nicht auf bei den belanglosen Gelegenheitstaten des Alltags, sondern das gemeinsame Merkmal aller dieser Erscheinungen ist, daß es sich um Gesinnungsverbrechen gegen den höchsten Wert der Rechtsordnung handelt. Der Gewohnheitsverbrecher ist Volksschädling, der Militarist Friedensstörer. Die Felonie, die bewußte Feindschaft, die körperliche Untreue, das crimen laesae majestatis gegen den König als Repräsentanten der religiös begründeten Staatsordnung wandelt sich in die Gegnerschaft gegen einen abstrakten ideenmäßigen Wert, sei er biologisch oder humanitär gedacht. Dieser höchste Wert aber wird nicht ausgedrückt in den einzelnen von dieser Rechtsordnung geschützten Gütern, in Leben, Ehre, Eigentum der Rechtsgenossen, sondern er wird gerade zusammengefaßt und durch die Abstraktion gesteigert zu umfassender totaler Wirkung gebracht. Der Gewohnheitsverbrecher ist sozusagen ein Hochverräter gegen die sozial-biologische Gesundheit des Volkes, der Militarist ein Hochverräter gegen die Humanität. Den stärksten Ausdruck findet jene Rechtsform in dem neugeschaffenen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit”. Selbst jedes objektiven Tatbestands entbehrend, kann es durch jede Handlung gegen die Person begangen werden, sofern der Täter nur aus einer bestimmten inhumanen Willens- und Gesinnungsrichtung handelt. Hier tritt erst richtig an die Stelle der körperlichen Lehnsuntreue gegen die konkrete Person des Fürsten die tätige Verneinung der Forderung einer abstrakten Ideologie, eines unkörperlich diesseitigen Summum Bonum, eines höchsten Wertes. In dem Zurücktreten der einzelnen Rechtsgüter, die nun im Rechtsdenken an die zweite Stelle treten, drückt sich der Verfall der kulturbildenden Symbolkraft aus. Mit dieser

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Rechtsordnung und um dieser Rechtsordnung willen wurde auch das Rechtsgut des einzelnen geschützt. Man erkannte und achtete auch in dem eigennützigen Rechte des einzelnen die Eigentumsordnung, im fehlsamen Richterspruch das Amt, in unbedeutenden Fürsten die Dynastie, im Priester schlechthin den Dienst des Heiligen — je weniger man diese Repräsentation verstand und alles unmittelbar zweckhaft dem Menschen dienstbar machen wollte, umso mehr verfielen diese Ordnungen. Der Mensch aber, um dessentwillen dies alles geschah, fand sich am Ende einer totalen namenlosen, unkörperlichen Abstraktion rechtlos gegenüber. Mit dem fest geprägten konkreten Rechtsbegriff aber löst sich seine Rechtsposition, der Persönlichkeitsbegriff selbst auf.

Der Mensch wird zum Rechtsobjekt. In jener Wendung zum Determinismus ist der alte Streit des Augustins gegen Pelagius enthalten, die Frage, ob Sünde die existentielle Beschaffenheit oder eine einzelne Handlung sei. Ohne Zweifel hat Augustin mit der ersteren Meinung die tiefere Einsicht vertreten. In der alten Kirche hat jedoch die Lehrer des Pelagius in gemäßigter Form Anerkennung gefunden. Erst Luther und Calvin haben Augustin in diesem entscheidenden Punkte wieder zu Ehren gebracht. Immer aber sind bis in die Gegenwart kirchliches und profanes Strafrecht reines Tatstrafrecht geblieben. Die Probleme der Willensfreiheit wurden in das medizinische abgedrängt, ihrer metaphysischen Bedeutung entkleidet. Erst jetzt sind sie wieder recht eigentlich hervorgetreten. Man glaubte bis dahin ein rein positives diesseitiges profanes Strafrecht unabhängig von jenen metaphysischen Fragen schaffen und lehren zu können. Das war ein Irrtum, der sich jetzt im Problem des Willensstrafrechts und der Gesinnungsstrafe unausweichlich zeigt. Das neue, den ganzen Menschen wertende, und damit schon totale und totalitäre Strafrecht schließt zurück von der Einzeltat auf die Gesinnungsrichtung des Menschen, auf seine Beschaffenheit, benutzt die Einzeltat als Indiz. Das alte Strafrecht sieht bewußt von allem, was nicht handlungsmäßig in Erscheinung getreten ist, von allen lediglich inneren Tatsachen ab und beschränkt sich streng auf die konkrete Tat. Es ist gerade ein Grunddogma der bisherigen Rechtslehre auf allen Gebieten, von allen lediglich inneren Tatsachen abzusehen. Der Vorsatz ist nur Mittel zur Deutung der Tat, zur Abgrenzung der

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unendlichen objektiven Kausalreihe und ihrer Zurechnung auf den Täter. Beide Betrachtungsweisen sind also völlig einander entgegengesetzt. Das Tatstrafrecht ist andererseits unbestreitbar ein Minus, eine Einschränkung gegenüber dem Willensstrafrecht, es ist vom Standpunt der psychologischen Technik unvollkommen. Warum gestattet es nun so dem Menschen, scheinbar seinen unendlich bösen Willen der Strafe durch die magna charta des Verbrechens, das Strafgesetz, durch die strenge Begrenzung auf die Tat zu entziehen? Es ist jedenfalls und sicherlich kein Zufall. Man wußte bisher in einem personalistischen Weltbild von Jahrtausenden, daß in dem Menschen ein Unauflösbares, ein X steckt, man war nicht bereit, diese auch dem letzten Menschen anhaftende Eigenschaft urteilend anzutasten, eine Aufgabe sich anzumaßen, die nur einer höheren Einsicht zukommt.

Wie überall wendet sich auch hier heute die Technik gegen den Menschen. Das Willensstrafrecht sieht den Menschen hoffnungslos verstrickt, aber auch abschätzbar — das Tatstrafrecht ließ Raum für eine Wandlung und damit überhaupt für eine wirkliche Strafe, nicht nur die höchstens humanitär verschleierte Ausstoßung aus der menschlichen Gemeinschaft. Wir hoffen, bitten und glauben, daß mit, neben und unter der Strafe sich eine Wandlung vollzieht, — wenn der Täter die Strafe innerlich annimmt, — nicht im Sinne der Besserung einer moralisierenden Weltbetrachtung. Gegenständlich begrenzt und gerade dadurch stellvertretend ist alles sakramentale Handeln. Alles echte Handeln am Menschen bedarf der gegenständlichen Vermittlung, dieser Umschreibung und Verkleidung. Alles Handeln am Menschen besitzt diese Zweigleisigkeit, in der das Äußere das Innere verdeckt. Die drei Urberufe des Priesters, des Richters und des Arztes sind solche sakramentalen — und mit ihnen die drei alten Fakultäten unserer Hochschulen. Im Gegensatz dazu stehen die artes liberales, die freien Künste, Philosophie und Naturwissenschaft, die die Dinge und Menschen direkt als Objekte eingleisig zu betrachten, zu erfassen, zu bewerten trachten. Sie denken in der Analogie nicht metaphysisch-kausal, sondern mechanisch-kausal. Alles autonome Denken, alles Streben nach prometheischer Weltbeherrschung steht auf dieser Ebene. Der Einbruch dieses Denkens in das sakramentale Lebensgebiet des

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Strafrechts ist spät über den Subjektivismus vorbereitet worden und hat sich jetzt zu einer Sturmflut ausgewachsen.

So gut wie man die Menschheit vor dem Exzeß der Technik, der Verwendung der Atombombe schützen muß, in der sich diese Technik zerstörend gegen sie kehren kann, so muß man es auch in der Überwindung des Exzesses der psychologischen Technik tun. Jene Lücke, die dem Handeln Gottes am Menschen offenblieb, die letzte Freiheit des Menschen in der Unmittelbarkeit zu Gott, die man zu schließen unternahm, muß offen bleiben.

Indessen ist diese Entwicklung nur eine folgerichtige Fortbildung der im bürgerlichen Strafrecht des 19. Jahrhunderts gegebenen Grundlagen mit einem — man könnte sagen dialektischen — Umschlag, sie war aber nur möglich, weil auch die liberalen Gegner des totalen Staats die tieferen Voraussetzungen dieser Rechtsordnung nicht mehr kannten. Wir haben gezeigt, daß in der Entwicklung des Willensstrafrechts zum Sicherungsstrafrecht sich eine totale Erfassung und Wertung des Menschen durchsetzt. Das gleiche läßt sich für die Entwicklung auch des bürgerlichen Rechts, insbesondere des Eigentums-Begriffs zeigen, der immer mehr zum Ausfluß des politischen Status des betreffenden Trägers wird. Dies ist eine Erscheinung, der die liberale Rechtslehre hilflos gegenübersteht. Ja, sie ist geneigt, an ihr vorbeizuziehen, ebenso wie der Nationalsozialismus jede sichtbare Verwüstung auf dem Rechtsgebiet als Einzelfall bagatellisierte. In Wahrheit liegt dieser Erscheinung jene jedem Glauben innewohnende Erkenntnis zu Grunde, daß die Frage von Gut und Böse nicht eine des menschlichen Willens, sondern der existenziellen Beschaffenheit ist. Der böse Baum trägt böse Früchte. Vor zwanzig Jahren waren noch ganz andere Anschauungen als fortschrittlich und vernunftgemäß im Schwange. Der Mensch als Maß aller Dinge hielt sich für frei und gut. Wollte man diese These nicht in Frage stellen, so konnten nur äußere Zwangslagen, Krankheit und Not die Verzerrung des Menschenbildes im Verbrechen erklären. Man scheute sich, der unangenehmen Tatsache ins Auge zu sehen, daß das Böse als Potenz der menschlichen Natur eingeboren ist. Deshalb war keine medizinische und psychologische These zu verstiegen und konstruiert, kein tatsächlicher Grund zu weit hergeholt und fadenscheinig, um durch Entlastung des einzelnen Täters,

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durch Schuldausschließungsgründe aller Art das Gesicht der Menschheit zu wahren. Mit wirtschaftlicher Not auf der einen, Krankheit und Sexualnot auf der anderen, versuchte man, den Komplex der der Menschheit wirklich vorwerfbaren Taten auf ein Mindestmaß einzuengen. Traf man auf krasse Fälle schwerster Verbrechen, wie das Eisenbahnattentat in Leiferde 1926, auf die keine dieser Erklärungen paßte, so mischte sich Verwunderung mit betretenem Schweigen. Im Namen der Menschenrechte suchte man die sittliche Verantwortung so weit wie möglich einzuengen. Dabei muß zur Ehre der Menschheit gesagt werden, daß auch in der äußersten Wirtschaftskrise von 1932 die Kriminalität auch nicht annähernd im Verhältnis zur Not der breiten Massen stieg. Kriminell wurden nicht diejenigen, die Not litten, sondern die diese Not mit Betrug und Wucher ausbeuteten und die Schwäche des Staates ausnutzten. Diese Gedankengänge aber wiederholen sich mit umgekehrten Vorzeichen nach 1933. Was ehemals mit allgemeiner Psychopathologie entschuldigt wurde, wurde nun erbbiologisch gerechtfertigt. So entwickelten einmal Medizinprofessoren der Universität Jena den erstaunten bäuerlichen Geschworenen eines thüringischen Landgerichts die Theorie, daß der zur Aburteilung stehende Vatermord eines Bauernsohnes die Reaktion des gesunden Blutes gegen das entartete sei. Man konnte also auch so; im ganzen überwog der entgegengesetzte Versuch, mit den Mitteln des Strafrechts das Verbrechen als vorzugsweise erbbedingte Erscheinung aus dem Volkskörper auszuscheiden.

Diese scheinbar so gegensätzlichen Anschauungen stammen jedoch aus der gleichen Wurzel. Immer mehr sieht das bürgerliche Strafrecht des 19. Jahrhunderts in der Straftat eine subjektive Angelegenheit des einzelnen, für die er lediglich nach Maßgabe des inneren Tatbestandes, des Maßes seines Schuld unter Vernachlässigung der äußeren Tatfolgen einzustehen hat. Die Gemeinschaftsbedeutung der Tat wird nur noch durch die Anerkennung der Abschreckung als Strafzweck berücksichtigt, also rein subjektiv und a posteriori. Wie der moderne Mensch Krankheit und Tod aus der menschlichen Gemeinschaft herauszudrängen, sie praktisch und psychologisch zu isolieren trachtet, so auch das Verbrechen. Ist er liberal, versucht er das Faktum Verbrechen in der geschilderten Weise einzuengen, daß nur ein Erdenrest zu tragen peinlich

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überbleibt. Ist er Naturalist oder Materialist, so geht er diesen sozial schädlichen und Entartungserscheinungen entschlossen mit den Mitteln der Sozialhygiene, der Sicherung zu Leibe, als ob es sich um Tuberkulose oder Syphilis handelte. Der optimistische Individualismus ist folgerichtig in einen brutalen Kollektivismus umgeschlagen. Den guten und gesunden Menschen geht diese Nachtseite des Lebens im Grunde nichts an, als ob es nicht auch ein Teil seines Selbst wäre, in ihm ebenso als Möglichkeit schlummerte. Nun hat gewiß das allgemeine Rechtsbewußtsein und die überwiegende Praxis jene Exzesse Freudscher Psychoanalyse ebenso abgelehnt, wie die Härte einer gewaltsamen Verbrechensvernichtung. Aber dieses juste milieu, in dem man sich auch heute wieder seelenruhig bewegt, ist doch nur eine Scheinposition. Auch dieser Mensch, ob von bürgerlichen oder proletarischem Lebensgefühl getragen, hat das Bewußtsein eingebüßt, daß eine jede Tat auch einen Anteil an seinem eigenen Herzen hat, daß er auch ein Mörder und Ehebrecher ist. Selbst das großherzige Wort Goethes, daß er sich selbst als Täter jedes denkbaren Verbrechens vorstellen könne, verschiebt schon diese Erkenntnis ins Subjektive, so hoch sie über diesen verzerrenden Ideologien steht.

In dem Versuch, das Verbrechen zu leugnen, wie in dem, es zu vernichten, liegt gleichermaßen ein Ausweichen vor ihm. Daß die Strafrechtslehre mit dem Faktum des Verbrechens nicht fertig wird, zeigt die Tatsache, daß keiner ihrer angeblichen Strafzwecke, von der Vergeltung über die Sühne, Abschreckung, Besserung bis zur Sicherung allein oder in einer Kombination die Erscheinungen dieses Lebensgebietes wirklich zur Gänze erklärt. Die Funktion von Schuld und Sühne im menschlichen Leben ist auf der zweckhaften Ebene überhaupt nicht zu verstehen.

Mit ungeheurer Eindringlichkeit stellt der Ödipus Tyrannos des Sophokles diese Probleme dar. Unwissentlich, schicksalhaft, schuldlos wird Ödipus zum Vatermörder, Usurpator und Blutschänder. Der Dichter will nicht mit moderner Psychologie einen besonderen ruchlosen Verbrecher darstellen, sondern hebt im Gegenteil den Vorgang aus dem Bereich des Subjektiven und des Willens in den Bereich des Objektiven. Die Ungeheuerlichkeit dieser Taten, die die göttliche Weltordnung verletzen, befleckt ohne Rücksicht auf subjektive Schuld den ganzen Staat, das ganze volk ruft die Erynnien

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auf sie herab und verlang nach Sühne, das heißt nach Reinigung. Jede Tat ist immer zugleich gemeinsame Schuld der Gesamtheit und des einzelnen gegen Gott. Dies wird auf einer ren diesseitigen Ebene immer übersehen, und deshalb werden die Erscheinungen des Strafrechts unverständlich.

In gläubigeren Zeiten, die härter strafen als wir, begrüßte zuweilen das Volk den Täter auf dem Wege zur Hinrichtung nicht mit Rachegeschrei, sondern als Opfer für alle, und der Henker bat jeden Delinquenten um Verzeihung.

Gereinigt werden müssen Volk und Täter, das erstere durch die Bestrafung des letzteren. Nicht weil bei Nichtbestrafung andere zu gleichen Taten angereizt werden könnten (a posteriori), sondern die objektive Bedeutung der Tat ist der Grund der Strafe (a priori). Die Gemeinschaft reinigt sich durch Ausschließung des Täters für Dauer oder Zeit. In der Strafe liegt immer noch ein Moment der Opferung auch mit der darin liegenden Mitübernahme fremder Schuld.

Aber auch der Täter selbst wird gereinigt, indem er die Strafe auf sich nimmt, die der Tat entspricht, aber nicht Vergeltung ist, sondern gerade an die Stelle der Vergeltung tritt. Strafe zielt daher als Reinigung des Täters immer wieder auf Wiederherstellung der Gemeinschaft: Hier liegt das Problem der absoluten Strafe. Wer mit dem Sühnebegriff Ernst macht, muß die Rückführung des Täters in die Gemeinschaft ins Auge fassen. Der Mittelweg der lebenslänglichen Haft zwischen Todesstrafe und zeitiger Strafe, die im Regelfall zur mechanischen Zerstörung der Persönlichkeit führt, ist eine feige und ganz unhumane Ausflucht wie alle langfristigen Freiheitsstrafen. Die absolute Strafe, als Todesstrafe, ist andererseits noch nie von einem Mörder grundsätzlich bestritten worden. Ein gläubiger Christ, der sich eines Mordes schuldig weiß, müßte sie selbst fordern und willig auf sich nehmen, wie das Gretchen im Faust. Diese echte Bereitschaft, die Strafe auf sich zu nehmen, ist andererseits die echte Voraussetzung der Gnade.

Schuld ist unter religiösem Aspekt immer existenzielle Schuld, Wesensschuld. Folgerichtig kommen die modernen Ersatzreligionen auf dem gedanklichen Umwege des Determinismus zur Charakterschuld und deshalb zum Sicherungsstrafrecht. Jeder Glaube, jede Weltanschauung, die sich auf ein diesseitiges, endliches Prinzip

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gründet, und deshalb auch eine Vollendung der Menschheit in der Endlichkeit erstrebt, muß das Böse gegenständlich verkörpert im sozial schädlichen Menschen vor sich sehen und es radikal ohne Gnade ausschalten und vernichten. Gnade wird zum Frevel am Höchsten, Menschlichkeit und Milde zur Schwäche und Dummheit. Allein der Liberalismus entgeht dieser Folgerung auf Grund seiner Voraussetzung vom guten und freien Menschen. Aber er sieht sich mit dieser heute widerlegt und steht ratlos vor den Erscheinungen, vor den Straftaten wie den Strafen. Jede Anschauung, die die Vollendung nicht äußerlich, sondern inwendig und transzendent sieht, kann und muß den Menschen in seiner Vorläufigkeit, Bedingtheit und Endlichkeit betrachten und bejahen. Der Satz: „Richtet nicht, daß Ihr nicht gerichtet werde!” bedeutet nicht die Verneinung der staatlichen Gerichtsbarkeit — das Urteil über die Schächer am Kreuz ist niemals angefochten worden —, er bedeutet vielmehr, daß wir sub specie aeternitatis, vor dem Angesicht Gottes kein Urteil über den Menschen haben, kein endgültiges Verdikt über ihn sprechen können. Erst diese Anschauung weiß von dem reinigenden, sühnenden, also sakramental wandelnden Charakter der Strafe wie der freien Gnade. Nur deshalb kann überhaupt Gnade an die Stelle von Strafe treten, ohne zur Schwäche zu werden. Mit einer sogenannten Besserung hat dies nichts zu tun. Erst dies beides befreit das profane Strafrecht von einem sonst unerträglichen Moralismus. Deshalb kann der Mensch von Rechts wegen nicht nach einer Klassenzugehörigkeit, allgemeinen Gesinnung, seinem biologischen Wert oder sonstigen allgemeinen Beschaffenheit bewertet werden, sondern nur nach konkreten Taten. Das liberale Strafrecht hatte also die Einsicht in das Wesen der Schuld als Wesensschuld und Gesamtschuld verloren, aber das Tatstrafrecht erhalten. Das moderne kollektive Strafrecht hat die beiden ersteren Momente wiedergewonnen, aber das Tatstrafrecht preisgegeben. Der Fortfall der religiösen Voraussetzungen drückt sich in der allgemeinen öffentlichen Verwirrung der Begriffe auf diesem Gebiet aus. Erst auf ihrer Grundlage ist Tatstrafrecht überhaupt folgerichtig denkbar und wiederherzustellen. Nach dem tiefen, gläubigen Bewußtsein aller Völker wird die stellvertretende Strafe auch angenommen, und dies ist ein entscheidender Schritt zu einer höheren

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Gottesauffassung gewesen. Wo aber die Völker aus der wiedergewonnenen Erkenntnis von der Gesamtschuld und Wesensschuld wieder zur Gesamtstrafe und zum Täterstrafrecht kommen, tun sie aus Unverständnis für die religiösen Voraussetzungen diesen Schritt der Menschheitsgeschichte wieder zurück.

Deshalb muß sich das Strafrecht ebensoweit entfernt halten von dem — schon im Stufenstrafvollzug ad absurdum geführten — Wahn der Besserung — wie von Vergeltung und Vernichtung. Aber auch dieses Handeln am Menschen wirkt nur, ist nur gültig sub conditione fidei, nur wenn der Täter eine echte Einsicht erlangt. Und deshalb sind Geständnis und Einstellung zur Tat von echter materialer Bedeutung für das Urteil, nicht nur konventionelle Gesichtspunkte einer offiziellen Heuchelei.

Entscheidend ist, die Einsicht festzuhalten, daß das moderne Strafrecht aller Richtungen, sei es humanitär oder kollektivistisch, steht und fällt mit einer negativen Voraussetzung: mit der Verwerfung der christlichen Grunderkenntnis von der Erbsünde. Nur so vermag der moderne Mensch die Erscheinung des Verbrechens in der geschilderten Weise von sich abzuwälzen. Er vermag sich wohl den anderen als Verbrecher, aber sich nicht selbst als Sünder vorzustellen. Auch der Heilsegoismus des individualistischen Kirchenbürgers vergißt ebenso, daß die Bitte des Vaterunsers um Vergebung nicht die Bitte vieler einzelner, sondern der vereinigten ganzen Menschheit ist. Aber ebenso wichtig ist zu erkennen, daß diese echten religiösen Seiten des Schuldproblems, Wesensschuld und Gesamtschuld, sich der Darstellung im materiellen Strafrecht begrifflich und notwendig entziehen. Wo diese versucht wird, wird mit der Tatbestandsmäßigkeit des Rechts der Rechtscharakter selbst aufgehoben und der Urteilsspruch in die freie Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts verwandelt. Diese Verebnung aber ist die Folge jeder diesseitigen und Ersatzreligion, die die Spannung zwischen Gott und Welt aufhebt, und so nach unmittelbarer diesseitiger Verwirklichung ihres höchsten Wertes trachtet. Das moderne Strafrecht ist nach einem Stadium scheinbarer religiöser Indifferenz zum offenen Ausdruck der Diesseitsreligion geworden. Dabei ist für die gegenwärtige geistesgeschichtliche Lage kennzeichnend, daß auch der bürgerliche Liberalismus in einer tiefen Inkonsequenz, aber doch einer inneren Gesetzlichkeit folgend, in

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steigendem Maße deterministisch wird. Je mehr auch seine formale Ethik materielle Gehalte bekommt, diese Gehalte geschichtlich konkrete Formen annehmen, die freie Diskussion dogmatisch eingeengt wird, desto eher sieht er wenigstens einen Teil der Menschheit als rettungslos verdorben an, der dann auch rücksichtslos auszuschalten ist.

Tatschuld, Täterschuld und Gesamtschuld stehen in einer sehr tiefsinnigen dreiseitigen Verknüpfung. Werden sie alle drei auf eine Ebene des positiven Strafrechts projiziert, Täterschuld und Gesamtschuld mit der Tatschuld gleichgesetzt, so tritt eine völlige Zerstörung aller drei ein.

 

II

Die gleichen grundsätzlichen Entwicklungsmerkmale wie auf dem materiell-strafrechtlichen zeigen sich auch auf dem formell-prozessualen Gebiet. Auch bei der Betrachtung dieser Seite des Problems gehen wir zunächst von den Veränderungen aus, die der Nationalsozialismus mit sich gebracht hat. Für das Strafprozeßrecht war ebenfalls die Veränderung des Begriffs im § 2 neuer Fassung von entscheidender Bedeutung. Wenn nicht mehr der festumrissene Tatbestand des Gesetzes das Verbrechen macht, sondern ein allgemeiner Begriff des Strafwürdigen, so ist die Zweiseitigkeit des Rechts damit aufgehoben. Das Strafgesetzbuch ist nicht mehr die magna charta des Verbrechers, die selbst dem todeswürdigen Täter noch eine klare, unaufhebbare Rechtsposition zuweist. Aus der Zweiseitigkeit der normativ geregelten Rechtsbeziehung des Prozesses als Rechtsverhältnis wird eine einseitige, praktisch nicht mehr voll kontrollierbare Befugnis des Richters, wird Machtbefugnis, wird Macht. Der Verbrechensbegriff wird ein ganz allgemeiner und damit totaler, es besteht auch hier, wie in der Staatsorganisation, eine große Sorge, daß irgendwo eine Lücke des Gesetzes offenbleiben könne — als ob das ganze Strafrecht aus lauter Lücken bestände. Das Recht gewinnt einen fließenden, dynamischen Charakter, der sich jeder Bindung entzieht. So wird begreiflich, daß auch auf allen anderen Rechtsgebieten nirgends mehr eine echte Verbindlichkeit des Rechts anerkannt wird.

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Mit dieser Veränderung des Verbrechensbegriff veränderte sich auch die Stellung des Gerichts. Für den Nationalsozialismus war das Verhältnis des Richters zum Staat mit der Aufrichtung einer allgemein verbindlichen, nicht nur formalen Staatsidee prinzipiell geklärt. Die rechtsstaatliche Spannung zwischen Staat und Recht war aufgehoben. Das alte Mißtrauen gegen die Staatsanwaltschaft konnte beseitigt werden, mit ihm viele formelle Schranken, die den Gerichten gesetzt waren. Das System der gegenseitigen Sperren und Kontrollen fiel weitgehend fort. Die Autorität der Gerichte konnte erhöht und herausgestellt werden. Was aber das System mit der einen Hand an Schlagkraft in der Verbrechensbekämpfung, an Konzentration der Prozeßführung gab, nahm es mit der anderen Hand wieder fort. Denn diese wiederhergestellte Autorität wurde durch die Wandlung des Verbrechensbegriffes wieder völlig aufgehoben. War der einzelne Tatbestand nur ein Indiz für das Vorhandensein einer verbrecherischen Persönlichkeit, so ist folgerichtig das gerichtliche Verfahren auch nur eine Erkenntnismöglichkeit neben anderen. Ja, gegenüber einer einfachen und entschlossenen Entscheidung des freien Ermessens, unabhängig von der formellen Beweismöglichkeit erschienen die sorgfältigen Prozeßregeln der Gerichte schwerfällig und veraltet. Am krassesten zeigt sich der Gegensatz bei der Behandlung der Homosexualität. Man gab die Polizei nahezu unumschränkte Befugnisse zu Präventivmaßnahmen neben den gerichtlichen Verfahren, ohne damit die eigene Staatsrechtskonstruktion und Strafrechtstheorie zu durchbrechen. Das Strafverfolgungsmonopol der Staatsanwaltschaft, jede negative Kompetenz der Gerichte wird im Sinne der dynamischen und totalen Verfassungsform des Nationalsozialismus stillschweigend aufgehoben. Denn diese Verfassung baute sich auf dem Prinzip des biologischen Lebenskampfes, der Konkurrenz, dem positiven Kompetenzkonflikt überwiegend personaler Ermächtigungen und Befugnisse, auf einem neuen laissez-faire auf. Obwohl Sühne und Sicherung im materiellen Strafrecht nunmehr nebeneinander standen, bildete sich darüber hinaus ein zweizügiges System, indem die Polizei auf Grund ihrer Präventivbefugnisse gleichberechtigt neben den Gerichten stand.

So müssen die Gerichte zu ihrer Tiefen Erniedrigung erleben,

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daß freigesprochene Angeklagte an der Tür des Gerichtssaales in Polizeihaft genommen wurden, ohne daran etwas ändern zu können. Diese üble Situation hat, so paradox das klingen mag, wenigstens bis zum Ausbruch des Krieges gleichzeitig auch einen gewissen Schutz der Gerichte vor Eingriffen bedeutet. Die Möglichkeit, unerwünschte Freisprüche durch Polizeihaft nachträglich zu korrigieren, überhob die politischen Stellen der Notwendigkeit von Eingriffen und dies vermied man gern. Niemöller beispielsweise ist in einem korrekten Verfahren unter Zubilligung ehrenhafter Motive und eines nicht volksschädigenden Verhaltens zu sieben Monaten Festungshaft verurteilt worden, die durch die Untersuchungshaft verbüßt waren. Nach Aufhebung des gerichtlichen Haftbefehls wurde er im Anschluß an die Verhandlung von der Polizei verhaftet und blieb bis zum Ende des Krieges in Haft. Das Gericht wäre nicht gehindert gewesen, ihn, wie in einem parallelen Verfahren den Generalsuperintendenten Dibelius wegen Beleidigung des Ministers Kerrl freizusprechen. Das Urteil bildete nicht die Grundlage, sondern nur die erwünschte propagandistische Rechtfertigung für die Schutzhaft. Bei Verfahren, an deren Unterdrückung umgekehrt die Partei ein Interesse hatte, richtete sich daher der politische Druck weit überwiegend gegen das Reichsjustizministerium und die Staatsanwaltschaften, um Niederschlagungen, Verfahrenseinstellung und Gnadenakte zu erreichen, sobald es nicht gelang durch Verschleierung des Sachverhaltes und Behinderung der Ermittlungen oft weit über die Grenzen des strafbaren Begünstigung hinaus die Aufklärung zu vereiteln. Die Partei hat es dem Reichsjustizminister Dr. Gürtner nie verziehen, daß er durch die Übernahme der Justiz auf das Reich, 1935 den Reichsstatthaltern das Gnadenrecht aus der Hand nahm.

Jener relative Schutz der Gerichte fiel mit Kriegsbeginn fort, da nunmehr die ganze Strafjustiz für kriegswichtig erklärt wurde, und die Richter immer wieder auf die Notwendigkeit strenger Strafen zur Aufrechterhaltung der Kriegsmoral und der Ordnung hingewiesen wurden. Die Eingriffe der Polizei auch in völlig unpolitische Sachen vervielfachten sich wie die Erschießungen „wegen Widerstandes”. Aber diese bloße Steigerung der früheren Verhältnisse würde keine Erwähnung verdienen, wenn sie nicht nach dem Tode Gürtners ihren Abschluß 1942 in jener berüchtigten 

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Reichstagsrede Hitlers gefunden hätte, in der er das vollkommene Versagen der Justiz vor allem im Kriege feststellte, den Richterstand in einer noch nie dagewesenen Form vor der Öffentlichkeit diffamierte und eine radikale Reform ankündigte. Damit war eine totale Justizkrise, aber auch das Eingeständnis gegeben, daß die gesamte Justizpolitik der vergangenen neun Jahre vollständig gescheitert war und dies bereits zu einer Zeit, als die Bewegung äußerlich noch im vollen Besitz der Macht stand. Wenn weder die parteipolitische Gleichschaltung der Richterschaft noch jener Umsturz der Rechtslehre eine Justiz im Sinne des Nationalsozialismus hatte schaffen können, so war es mit den bisherigen Mitteln überhaupt nicht möglich, auf dem Wege der Gesetzgebung und Rechtslehre den Gedankengehalt der Bewegung so zum Ausdruck zu bringen, daß er durch Anwendung neuer, aber ebenso wie bisher logisch abstrakt gefaßter Tatbestände verwirklicht werden konnte. Einer solchen Fixierung entzog sich dieser kraft seines dynamischen Charakters vollkommen. Solange man versuchte, diesen Gedankeninhalt, in die normative Denkform zu bringen und damit zu begrenzen, handelte man schon gegen seinen Geist. Es war schon in der Denkmethode ein radikaler und unüberbrückbarer Gegensatz gegeben. Der Rechtsgehalt kann also überhaupt nicht mehr abschließend logisch definiert werden sondern die positiven Normen können nur noch als Anhalt dienen. Recht kann nur noch decisionistisch, das heißt von Fall zu Fall verwirklicht werden. Viele Richter, die sich redlich bemühten, die konkreten Vorschriften im Sinne des Nationalsozialismus, wie sie ihn verstanden, auszulegen, wunderten sich, daß sie von „Stürmer” und „Schwarzen Corps” genau so angegriffen wurden, wie die anderen. Diese Erscheinung erklärt sich aus dem Gesagten vollständig. Solange der Richter streng sachlich und tatbestandsmäßig dachte, war er schon in der Verdammnis. Weit mehr als ein subjektiver Bekennermut und die Bereitschaft für die Unabhängigkeit der Gerichte zu kämpfen, hatte die Richter schon der einfache Zwang der Logik, die ererbte sachliche und normative Denktradition und Denkform auf der Bahn des Rechts festgehalten, und in einen immer weniger überbrückbaren Gegensatz getrieben, dessen folgerichtiger Ausdruck jene Reichstagsrede war. Denn das

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materielle Rechtsdenken des Nationalsozialismus löst sich immer stärker auf. Jede Parteidienststelle, jedes Parteiblatt war in jener Gegenüberstellung des gesunden Volksempfinden mit dem formalen Recht jederzeit in der Lage, die Rechtsprechung prinzipiell zu bekämpfen.

Diese Art des Rechtsdenkens hat sich indessen wie alle entscheidenden Merkmale des Faschismus im Antifaschismus fortgesetzt. Als Papen, Fritsche und Schacht in Nürnberg freigesprochen wurden, war die erste Reaktion der sozialistischen Presse die Erklärung, daß das „formale Recht” eben solche Tatbestände nicht zu erfassen vermöge, statt einfach zu sagen, daß der Freispruch auf der internationalen Ebene die nationale, innerpolitischen Verantwortlichkeit nicht aufhebe.

Diese Auflösung des prozessualen Denkens zeigt sich am deutlichsten bei einer Vorschrift, die der neue Staat selbst geschaffen hatte, dem § 55 des Ehegesetzes. Dieser gestattete die Scheidung zerrütteter Ehen auch gegen den Widerspruch des schuldlosen Ehegatten, wenn diesem die Scheidung nach den gesamten persönlichen wie wirtschaftlichen Verhältnissen zugemutet werden könne. Sie erforderte also eine eichte Billigkeitsentscheidung des Richters. Als nun aber die Gerichte, beispielsweise des Oberlandesgericht Kiel, in zahlreichen Fällen die Zumutbarkeit verneinten, wo Männer ihre Frauen nach langer Ehe grundlos und unversorgt verstießen, um junge Mädchen zu heiraten, wurden sie vom „Schwarzen Corps” heftig und grundsätzlich angegriffen, weil sie den biologischen Zweck des Gesetzes, neue fruchtbare Ehen zu ermöglichen, vereitelten. Das heißt: gegenüber dem reinen biologischen Zweckgedanken trat der Rechtsgedanke der billigen Abwägung, obwohl im Gesetz ausdrücklich enthalten, völlig zurück. Das Scheidungsurteil wurde aus einem Rechtsakt ein reiner zweckmäßiger Verwaltungsakt. Die Zweiseitigkeit alles Rechts wird auch hier einer einseitigen Zweckhaftigkeit völlig untergeordnet.

Der Versuch der Lösung jener letzten entscheidenden Krise von 1942 begann mit einer vollständigen Neubesetzung leitender Stellen des Reichsjustizministeriums vom Minister bis zum Ministerialdirektor. Zugleich wurde das Verhältnis zur Partei bereinigt, Reichsrechtsamt und Rechtswahrerbund der Leitung des neuen

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Justizministers Thierack unterstellt. Damit war die dauernde Reibung zwischen Staat und Bewegung auf diesem Gebiet ausgeschaltet.

Die sachliche Reform verknüpft sich vor allem mit den Namen des neuen Staatssekretärs Rothenberger, bisher Oberlandesgerichtspräsident in Hamburg. Die Hamburger Justiz nahm von jeher eine Sonderstellung ein. Nach Auswahl der Persönlichkeiten, sozialen Ansehen und materieller Stellung stand sie der Richterschaft der übrigen Länder weit voran. Die hohe Stellung des Richters in Engeland galt in den Hansestädten als Vorbild. Rothenberger selbst war vor 1933 längere Zeit zum Studium der Gerichtsverfassung in England.

Rothenberger hat seine Vorschläge schon vor dem Ausbruch der Krise in seinem 1941 erschienenen Buch: „Der deutsche Richter” zusammengefaßt. Ebenso wie 1933 verdecken hier zahlreiche längst fällige Einzelreformvorschläge den wesentlichen und grundsätzlichen Kern. Er wendet sich vor allem gegen die Verbeamtung des Richters, will diesen wieder als echten Vertreter eines Ur-Berufsstandes, einer menschlichen Urfunktion herausstellen, einen neuen Richtertyp, ein Richterkorps unabhängig von allen anderen Laufbahnen des öffentlichen Dienstes bilden. Deshalb fordert er eine radikale Verminderung der Richterzahl — nach anderen Verlautbarungen um zwei Drittel — unter Abstoßung und Abwälzung aller nicht wirklich dem Richter eigentümlichen, verwaltungsähnlichen Zuständigkeiten der Gerichte, Übernahme in das Amt erst nach einer längeren Bewährung in einem anderen öffentlichen Beruf im reifen Alter. Heranziehung der besten Persönlichkeiten aus allen anderen juristischen Sparten, entscheidende materielle Besserstellung. Dies war so stark gedanklich übersteigert, daß er bereit war, den gesundesten und wurzelechtesten Teil der Rechtspflege, den einzelnen Amtsrichter der kleinen Stadt zur Erhaltung des Niveaus und zur Konzentration in der Mittelstadt zu opfern. Rothenberger ist mit seiner aristokratischen Tendenz, seinem romantischen Ideal des Richters alsbald gescheitert und nach wenigen Monaten schon wieder abgelöst worden.

Sein Vorschläge aber bedeuteten in der gegebenen politischen und geistigen Lage notwendig etwas völlig anderes. Wenn die nationalsozialistische Justiz nicht auf dem Wege der Rechtslehre und der gesetzgeberischen Ausprägung seiner

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Rechtsgedanken geschaffen werden konnte, so war dies ausschließlich eine Personenfrage. Und dies nicht im Sinne einer üblichen Personalpolitik einer Fachverwaltung, die versucht, mit dem vorhandenen Personal hauszuhalten und die besten Leute an die wesentlichsten Stellen zu bringen. Hier hing die Verwirklichung der Rechtsidee, die Bewältigung der Aufgabe schlechthin von der Persönlichkeit ab, von ihrer Eigenschaft als Glaubensträger. Die Theorie des Richteramtes lautete nunmehr, dieser müsse Stellvertreter des Führers für den Einzelfall sein. Der rein personalistische Staatsbegriff, der rein decisionistische Rechtsbegriff fließen hier zusammen. Der Richter sollte vollkommen frei gestellt werden, materiell durch die Rechtsschöpfungsbefungnis des Analogieparagraphens, im Strafmaß durch die Befreiung von allen Vorschriften über Mindest- und Höchststrafen, prozeßrechtlich durch die Umwandlung aller zwingenden und damit nachprüfbaren Prozeßregeln in Ermessensregeln. Es ist in Wahrheit nicht mehr der königliche Richter unter dem Gesetz, sondern der judex praeter legem, der Richter in der politischen Form der Diktatur.

Hinter dieser Anpassung an die dynamische Verfassungsform des neuen Staates aber stand ein harter Zwang. Da in diesem organisierten Kampf aller gegen alle die formalen Zuständigkeiten nur wenig galten, war die Angleichung der Justiz an die politische Struktur, die starke Herausstellung des Richteramtes das einzige verzweifelte Mittel, überhaupt noch eine Position der Rechtspflege zu behaupten. Die leitenden Männer des Justizministeriums können sich darüber nicht im Unklaren gewesen sein.

Die energisch in Angriff genommenen Vorarbeiten für die Reform kamen durch die Erklärung des totalen Krieges zum Erliegen. Umso schärfer wurden nunmehr diese nach den Worten Hitlers nichtsnutzigen Richter an die Kandare genommen. Die Unabhängigkeit wurde formell in eine Weisungsfreiheit umgedeutet, in „Richterbriefen” wurden Standardurteile zur Nachachtung bekannt gegeben, die Landgerichtspräsidenten ermächtigt und beauftragt, in Strafsachen von Bedeutung das zu verhängende Strafmaß mit dem Vorsitzenden vorzubesprechen. Dies, wie die wahnwitzige Steigerung der Strafen wie viele andere Symptome, zeigte, daß es sich nur noch um eine Agonie handelte. Jeder Richter, der Soldat sein konnte, statt unter diesem für Richter wie für Angeklagte

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gleich mörderischen Zwang zu amtieren, war froh darüber. Diese Entwicklung ist bis zum bitteren Ende auf dem Rücken des Volkes wie der Richterschaft ausgetragen worden.

Materielles Strafrecht und Strafprozeß sind also von einem zentralen Ansatz her in völliger Folgerichtigkeit umgeformt, in ihrem Rechtscharakter aufgelöst worden. Die rechtsdogmatischen Merkmale dieser Entwicklung müssen klar ins Auge gefaßt werden.

Die Fortentwicklung der bürgerlicht-subjektivistischen Strafrechtstheorie führt über das Willensstrafrecht zum Täterstrafrecht und zum Sicherungsgedanken und findet seinen entscheidenden Niederschlag in der Rechtsschöpfungsbefugnis des Analogieparagraphen. Dem entspricht folgerichtig die Freistellung des Richters von allen Bindungen an Höchst- und Mindeststrafen beim einzelnen Straftatbestand, und ebenso die Durchbrechung des Prinzips der materiellen Rechtskraft durch die unbestimmte Verurteilung zur Sicherung. Zugleich verwandelt sich der Gnadenbegriff. Referenten des Reichsjustizministeriums vertraten 1943 in der „Deutschen Justiz” einen neuen Gnadenbegriff. Wenn man den Richter so frei stellte, daß er im Sinne des Willensstrafrechts alle subjektiven Momente, ja, über den Tatkomplex sogar hinaus die sozialen Verdienste des Täters aufrechnend berücksichtigen kann, so bleibt die Gnade nur noch ein Mittel zur Korrektur von Fehlurteilen. Hier hat sich die subjektive Theorie in ihrer Eingleisigkeit sichtbar ad absurdum geführt.

Alle diese Merkmale kehren auf dem Gebiete des Prozeßrechts sinnentsprechend wieder. Der Analogie entspricht die Rückwirkung der Strafgesetze, die Aufhebung der festen Strafrahmen, die Beseitigung der bindenden Prozeßregeln, die in Ermessensregeln verwandelt werden, so daß die Revisionsgerichte in steigendem Maße zu Tatsacheninstanzen werden, die nach Lage der Akten entscheiden. Der Durchbrechung der materiellen Rechtskraft entspricht diejenige der formellen durch die Schaffung außerordentlicher Rechtsmittel und die konkurrierenden Befugnisse der Polizei.

Diese Neuerungen sind bisher in ihrem gedanklichen Zusammenhang weder dargestellt noch auf ihre Wurzel zurückgeführt worden. Sie entspringen sämtlich jenem transzendenten, vorgesetzlichen Verbrechensbegriff. Wenn man die Rückwirkung von Strafgesetzen als einen Exzeß der Rechtssetzungsbefugnis leidenschaftlich

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bekämpft hat, so übersah man, daß der eigentliche gedankliche Ansatzpunkt ein genau entgegengesetzter war. Wenn der Inbegriff des Sittengebots allen konkreten Geboten, aber ebensosehr der Begriff des Strafwürdigen allen konkreten Straftatbeständen vorausgeht, so ist damit der radikale Versuch gemacht, alles strafrechtlich überhaupt Erfaßbare auch zu bestrafen, ja, darüber hinaus Sittengebot und Strafrechtsdrohung in einem noch nicht dagewesenen Maße rigoristisch zur Deckung zu bringen. Wenn damit zwar die subjektivistische Staatstheorie des Vertrags verneint ist, die den Rechtsgrund der Strafe in dem als Einzelakt des Staatsvertrages erlassenen Gesetz sieht, so is doch damit zugleich der emotionale und Satzungscharakter des Rechts mit der entscheidenden Bedeutung des einzelnen Gebots und Verbots aufgehoben. Die geistesgeschichtliche und staatsrechtliche Lage der Gegenwart kommt darin rein zum Ausdruck. In ihr ist die Freiheit einer formalen Ethik durch den Rigorismus einer sich mit dem Sittengebot selbst identifizierenden Staatsordnung ersetzt.

Dies drückt sich im besonderen Maße in dem Verfall des Rechtsgedankens der formellen Rechtskraft aus. Der Gedanke, daß der Strafanspruch des Staates durch das Urteil — also auch durch ein freisprechendes — verbraucht werde, die Bindung der Gerichte an einen solchen Spruch war bis dahin ein Eckpfeiler des Rechtsdenkens. Nunmehr zeigt sich die steigende Tendenz der Gesetzgebung durch immer weitere Durchbrechung dieser Schranke, durch Schaffung außerordentlicher Rechtsmittel die Bindung der Gerichte aufzuheben, soweit irgendein materielle Grund gegeben schien, die sogenannte materielle Gerechtigkeit es erfordere. Die Revisionsinstanz als reine Rechtsinstanz wandelte sich allmählich zur Tatsacheninstanz. Insbesondere konnte nunmehr das Urteil aufgehoben werden, wenn neue Momente eine wesentlich schwerere Beurteilung der Tat rechtfertigten, vor allem also bei fortgesetzten, gewerbs- und gewohnheitsmäßigen Taten, solchen, die den Täter in einer bestimmten Weise typenmäßig kennzeichneten — im Gegensatz zum Gelegenheits- und Einzeldelikt. Um der totalen Erfassung des Verbrechens willen richteten sich alle diese Vorschriften stets nur gegen den Täter, wirkten nicht zu seinen Gunsten. Formelle Rechtskraft hat vollen Sinn nur für ein Tatstrafrecht. In einem Täterstrafrecht kann echte Rechtskraft stets nur

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eine zur Höchststrafe verurteilende Erkenntnis erlange. Verbrauch der Strafklage, überhaupt die dem Staat auf der Ebene des Täters sehende Rechtsfigur des Strafanspruchs hat nur Sinn für einen begrenzten, als einzelnen gedachten Anspruch, für eine einzelne Tat, nicht für eine Qualifikation des Täters, die seiner Person anhaftet, deren Vorliegen an Hand eines, wenn auch ganz geringfügigen Indizes immer wieder behauptet werden kann.

Aber auch diese Auflösungserscheinungen des formellen Strafrechts sind in der liberalen Epoche vorgebildet, in der antifaschistischen fortgesetzt worden. Nun hat es zwar im liberalen Zeitalter weder Analogie, diskretionäre Strafzumessung und Sicherung, noch Rückwirkung, ermessensfreies Verfahren und außerordentliche Rechtsmittel gegeben. Aber die Auflösung des Prozeßrechts ist in der Verkürzung seines Verständnisses längst vor dem Nationalsozialismus angelegt. Eine rein subjektivistische Anschauung läßt auch das Strafurteil lediglich als eine technische Form der Festsetzung der erforderlichen individuellen Strafe erscheinen. Der Gedanke des staatlichen Strafanspruchs, mit dem sich der Staat aus sehr grundsätzlichen Gründen formell auf die Ebene des Angeklagten begibt, wird privatistisch dazu mißbraucht, die öffentlich-rechtliche Bedeutung des Strafprozesses zu verkürzen, das Strafurteil seiner wahren Bedeutung zu berauben. Der Angeklagte wird zu einem Privatpatienten des Richters, und dieser selbst zu einem mit erweiterten Zwangsbefugnissen ausgestatteten Vormundschaftsrichter. Das Gleichgewicht in der Bewertung subjektiver Schuld, objektiver Tatfolgen und Gemeinschaftsbedeutung der Tat ist völlig verschoben, und dem entspricht jene verantwortungslose Gnadenpraxis des preußischen Justizministeriums, die zwischen 1919 und 1932 je länger je mehr die Bekämpfung des Verbrechertums gerade in seinen großstädtischen Zentren illusorisch zu machen drohte.

Der Gedanke der Rechtskraft ist in der bürgerlichen Rechtslehre mit großer Betonung vorangestellt und intensiv durchgebildet worden. Das ganze Sicherheitsbedürfnis dieses Zeitalters strömte hier hinein. Um so dürftiger ist die theoretische Begründung. Wenn man zu ihrer Rechtfertigung nicht mehr von der Rechtsidee selbst auszugehen vermag, sondern nur die Zweckmäßigkeit der durch individuelle Sicherheit gewährleisteten allgemeinen

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Sicherheit ins Feld führt, darf man sich nicht wundern, wenn nach einer sichtbaren Lähmung der Strafgewalt von genau dem gleichen Zweckmäßigkeitsdenken her die Sicherheit der Allgemeinheit — wenigstens theoretisch — vorangestellt wird. Bei dem kurzen Gedächtnis der Gegenwart ist diese Erinnerung nötig. Wichtiger ist der Nachweis, daß jene Tendenzen des faschistischen Strafprozesses sich in der Gegenwart mit großer Energie fortsetzen. So wie das Befreiungsgesetz Tätertypen einem Sicherungsstrafrecht unterwirft, so sühnt (das heißt in Wahrheit straft) es Tatbestände, die zur Zeit ihrer Begehung unter keiner gesetzlichen Strafandrohung standen, ja, als positiv verdienstlich galten. Hier wird es ganz deutlich, daß diese echte Rückwirkung nicht auf einem Exzeß der Rechtssetzungsbefugnis, sondern auf einem vorgesetzlichen Verbrechensbegriff und der Gleichsetzung des Ethos mit dem Recht beruht. Wer damals etwas gegen ein — ex post — als vorgegeben ewig und absolut gesetztes Sittengebot getan hat, muß auch ohne konkrete vorausgehende Strafdrohung die spätere Straf auf sich nehmen. Die entsprechenden Erscheinungen auf dem Gebiete internationalen Handelns komplizieren sich noch durch die völkerrechtliche Problematik. Diese überschreitet den Rahmen dieser Arbeit. Der gedankliche Ansatz eines ethischen Totalitarismus ist der gleiche. Dies rückwirkende Befreiungsgesetz wird in einem nach freiem Ermessen gestalteten Verfahren durchgeführt, und führt als weitere Parallele zu Urteilen ohne echte, mit jedenfalls nur bedingter Rechtskraftwirkung. Es kennt zwar eine Befristung der ordentlichen Rechtsmittel, läßt aber jederzeit die Anordnung der Wiederaufnahme zu, kennt also Rechtskraft nur durch Ablagerung, nicht durch echten Verbrauch der Strafklage. Die Zwei- oder genauer Dreigleisigkeit des Systems, das Nebeneinander von Strafe, gerichtlicher und polizeilicher Sicherung wiederholt sich in der Bestätigungsbefugnis der Regierung und diskretionären Sicherungsanordnungen. Je mehr allgemeine Wertbegriffe über die konkreten Merkmale der Tat hinaus in die Gesetzestatbestände eindringen, desto mehr wird das Strafrecht zu einem Mittel nicht mehr der Strafe, sondern der politischen und biologischen Bereinigung des Staatsverbandes, zur Desintegration. Der Mensch wird im ganzen bewertet und ebenso total aus der Gemeinschaft entfernt. Der Strafprozeß wird schließlich zur negativen Statusklage,

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zum Prozeß um die bürgerlichen Rechte überhaupt. Werde ich aber von einem hinreichend geschickten oder einflußreichen Gegner in einen solchen Statusprozeß verwickelt, so bin ich ohne weiteres von jeder tatsächlichen Feststellung hors de la loi; denn die Grundrechte beispielsweise der württembergisch-badischen Verfassung ebenso wie die vorgesehene habeas corpus Akte, gelten grundsätzlich nicht nur nicht für tatsächliche, sondern auch nicht für angebliche Nationalsozialisten, Kriegsverbrecher usw., nämlich nicht für den ganzen Bereich dieser politischen Gerichtsbarkeit. Damit aber bin ich, wenn auch zunächst nur vorläufig, aus meiner gesamten bürgerlichen Existenz durch die Zwangsverwaltung des Vermögens und die Beschränkungen auch unpolitischer bürgerlicher Tätigkeit herausgesetzt. Die gleiche totalitäre Tendenz zeigt sich auch auf dem Gebiete des Zivilrechts. Alle bürgerlichen Rechte und Ansprüche erscheinen in steigendem Maße als Ausfluß des personenrechtlich-politischen Status. Vermögenseinziehungen und Enteignungen bis auf den notdürftigsten Unterhalt sind heute eine alltägliche Erscheinung des europäischen Rechtslebens geworden und werden von einem stumpf gewordenen Rechtsbewußtsein kaum noch registriert. Selbst kluge und verantwortungsbewußte Männer sind bereit, bei jeder Gelegenheit diese Tendenz weiterzutreiben. Die Staatspraxis des totalen Staates hat sich auch dort, wo sie theoretisch verneint wird, in ganz Europa durchgesetzt. Der glühende Atem der Zeit hat mit einem Hauch die papiernen Sicherungen des bürgerlichen Rechtsstaates zu Asche gebrannt, und man kann sie nicht einfach wieder herstellen. Todesstrafen und Ächtungen, das heißt die Vernichtung der gesamten Rechtsexistenz bis auf das physische Leben, häufen sich in einem bisher noch nicht dagewesenen Maße. Für ungezählte Menschen ist heute der Nachweis einer gegnerischen und daher sittlich verdammenswerten Gesinnung der vollgültige Beweis zugleich, daß jedes Recht, mindestens jeder Rechtschutzanspruch dieses Menschen zu verneinen sei. Das Recht, als Idee und in einer früheren Wirklichkeit eine Gegebenheit über den Parteien, positiv wie naturrechtliche, ist zu einem einseitigen Anspruch geworden. Die Gleichsetzung und Vermengung von Politik, Ethik und Recht hat alle drei miteinander korrumpiert. Wir erleben heute im ethischen Totalitarismus die Tragödie der Selbstzerstörung des Liberalismus. Jellinek schrieb

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vor vierzig Jahren in der Kritik der subjektiven Staatstheorie, daß noch ein gewaltloser Privatverein die Strafe der Ausschließung und Ächtung besitzen werde. Er konnte nicht ahnen, daß noch zu seinen Lebzeiten der Sieg dieser Theorie mit dem Pathos der Gewaltlosigkeit zwar nicht zur Beseitigung der Gewalt, aber zu einer noch nicht dagewesenen Steigerung der staatlichen Machtanwendung gegen den Menschen und zur Massenächtung als Strafform führen würde. Diese von der offiziellen Rechtswissenschaft fast geflissentlich übersehenen Erscheinungen wären ein hinreißendes Schauspiel auf der Bühne der Rechtsgeschichte, wenn sie nicht gleichzeitig eine Art Vivisektion an unserem eigenen Leibe darstellten. Eine Rechtslehre, die sie bagatellisiert oder verschweigt, macht sich ebenso mitschuldig wie ehedem — die Staatssklaverei der Wissenschaft und der Bildungsschicht ist freilich dieselbe geblieben, und mit ihr das schreiende Mißverhältnis zwischen Rechtslehre und Rechtswirklichkeit. Jede neue Welle von Volkstribunen übt die Peitsche ihrer Demagogie an den wehrlosen Rücken derer, die das Verbrechen begangen haben, mehr gelernt zu haben als sie.

Wir können zur Zeit nur die gedanklichen Voraussetzungen einer Gesundung durch die schonungslose Aufdeckung der Krankheitsursachen vorbereiten. Keinesfalls ist es damit allein getan, daß man summarisch alles, was nationalsozialistisch sein soll, abschafft und die Dinge auf den Gesetzesstand vom 1. 1. 1933 zurückführt. Man hat damit nur erreicht, daß es heute nicht möglich ist, eine einwandfreie Textausgabe des Strafgesetzbuches zu schaffen.

Wenn Tatbestandsmäßigkeit das entscheidende Merkmal des materiellen Strafrechts ist, so die Zweiseitigkeit eines revisiblen Prozeßverhältnisses — anstelle der Formfreiheit des politischen und Verwaltungsverfahrens die Grundlage des formellen Strafrechts. Diese Forderung ist noch verhältnismäßig am leichtesten zu erfüllen, wenn auch nur wenige der alten wirklichen Könner des Prozesses übrig geblieben sind — Krieg und Politik sind gleichermaßen eine negative Auslese.

Weiter aber gilt es, entgegen dem privatistischen Mißbrauch, das Verständnis für die öffentliche Funktion des Strafprozesses klar wieder herzustellen. Durch das feierliche Strafurteil verwirft, verurteilt der Richter die Tat und begründet und umgrenzt das sittliche Gemeinschaftsbewußtsein aufs neue. Strafrecht ist

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sittliche Integration wie Verfassung politische, ein dauernder sich stetig erneuernder Lebensvorgang. Das Strafurteil erschöpft sich daher weder im praktischen Gehalt der Straffestsetzung, noch ist es funktionsmäßig durch eine Verwaltungsentscheidung ersetzbar. Es bedarf der festen Form und der Öffentlichkeit. Daraus ergibt sich ferner, daß die objektive Schwere der Tat nicht in dem Maße zurücktreten kann wie bisher unter der Herrschaft der subjektiven Theorie. Tat und Schuld habe nebeneinander ihre selbständige Bedeutung, die nicht ohne Schaden verleugnet werden kann. Sie stehen in einer Spannung, die zu überbrücken eine der Aufgaben der Gnade ist. Und um der Gemeinschaftsbedeutung willen kann nicht darauf verzichtet werden, die Strafe auszusprechen, selbst wenn Begnadigung angezeigt ist. Richten heißt richtig stellen, zurechtrücken, des einzelnen wie der Gesamtheit, aus der auch diese einzelne Tat hervorgegangen ist, wie auf die Disziplinlosigkeit eines einzelnen immer die Ganze Truppe angesprochen werden muß. Subjektives und Objektives, Einzelnen und Gesamtheit gleicht der urteilende Richter gegeneinander aus; er muß die lebendige Synthese darstellen. Der angelsächsische Prozeß, der sich zwischen Anklage und Verteidigung vor dem Richter abspielt, drückt — ganz unabhängig von prozeßtechnischen Vorzügen und Nachteilen — diesen wesentlichen Sachverhalt deutlicher aus, als der Amtsprozeß des kontinentalen Rechts, der sowohl von der Anklage wie von der Verteidigung her eher mißbraucht werden kann.

Ob wir schließlich die echte Achtung vor der Rechtskraft des Urteils wieder zu gewinnen vermögen, hängt davon ab, ob wir überhaupt noch einmal zu einer Rechtskultur kommen, ob wir aus dem politischen verwaltungsmäßigen Zweckdenken herausfinden. Es zeigt sich hier deutlich, daß wie auf allen Lebensgebieten eine nur dünne Schale unzulänglicher Zweckvorstellungen vorhanden und ein zerstörender Einbruch in längst unbewußt und unverständlich gewordene tiefere Schichten und Lebensgebiete erfolgt ist. Der Respekt vor der Unwiederholbarkeit des Richterspruches ist aus dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit noch weniger zureichend zu erklären als die Strafe als Abschreckungs- oder Besserungszweck. Es ist auch hier keineswegs so, daß ein sakralrechtlich verkleideter Rechtszweck rational auf seinen verständlichen Kern zurückgeführt

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wird, sondern umgekehrt ohne sakralrechtliche Grundlage sind weder die Formen voll verständlich noch das Rechtsinstitut einschließlich seines vernünftigen Zweckes mit Erfolg zu verteidigen. Die Unwiederholbarkeit des Urteils ist in der Sache begründet; das wird am deutlichsten in jedem Kapitalprozeß. Die Revision ist sinngemäß das echteste Rechtsmittel, nicht die für Bagatellsachen zuständige Berufung. Der Respekt vor dem Sachurteil ist nicht in einer künstlichen Überhöhung des Amtes begründet, sondern im konstitutiven Charakter des Urteils, das den freigesprochenen Angeklagten absolviert, das den ausgeklagten Streitgegenstand, wie es noch sinngemäß die Zivilprozeßtheorie enthält, zu einem neuen macht. Der Wahn der Instanzen ist immer aus dem Irrglauben an menschliche Weisheit und aus der Schwäche des Rechtsgefühls entstanden, das nichts mehr von der notwendigen Ergänzung durch die Gnade weiß.

In der bewußten und unbewußten Zerstörung dieser Einsichten sind Rationalisten wie Faschisten, Liberale und Totalitäre einig. Ihr Zweckdenken verwüstet die Rechtskultur des Abendlandes hundertfach mehr, als Mißbrauch und menschliche Unzulänglichkeit es jemals vermocht haben, zu deren Überwindung sie auszogen. Wenn die Immanenz eines in sich logisch geschlossenen Rechtssystems nicht mehr ausreicht und die Funktionsausfälle durch machtpolitische Eingriffe ersetzt werden, so wird sichtbar, daß die Krise des gegenwärtigen Staates eine Krise seineer gemeinschaftsbildenden Substanz und damit seiner rechtsgarantierenden Grundlagen ist. Hierfür ist auch die Entwicklung des Strafprozeßrechts ein vollgültiges Beispiel. Entsprechend der geistesgeschichtlichen Lage ist auch das Recht aus einer rationalen in eine nihilistische Epoche getreten. Je mehr das ganze Leben des Menschen in einem Netz formaler Ordnungsvorschriften und Lenkungsbestimmungen eingefangen ist, die reine Machtgebote sind und jeden sittlichen Gehaltes entbehren, desto gegenstandsloser wird auch jede Bemühung um die Wiederherstellung der sittlichen Grundlagen des Rechts und seiner Sicherung.

 

III

Die Krise des Strafrechts ist zugleich auch eine Krise des Richteramts. Dies kann nicht dargelegt werden ohne Erörterung des

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Standes der Entwicklung der Gerichtsverfassung. Dies Gebiet ist allerdings wie kaum ein anderes zum Stiefkind der Rechtswissenschaft geworden. Während die Positivisten Gerichtsverfassung rein technisch als Gerichtsorganisation verstanden, versuchten die Nationalsozialisten ihr grundsätzlich den Verfassungscharakter abzusprechen.

Von jeher ist Recht ebensosehr als Gegenstand und Inhalt einer sorgfältig gehüteten, treu gewahrten Tradition eines ewigen Wertes tieferer, nicht alltäglicher Erkenntnisse, wie als Gemeinbesitz des Volkes angesehen worden. Der Richter muß mehr sein als der zu Richtende, und er muß von gleicher Art sein. Diese Spannung muß immer erhalten und gelöste werden. „E” gleich Recht, Ehe als Rechtsverhältnis schlechthin, und E-wigkeit entstammen der gleichen Wurzel. Dieser Doppelcharakter des Rechts als Tradition und Weistum, überlieferte Weisheit der Alten wie als gegenwärtiger Gemeinbesitz drückt sich deutlich in der ältesten Form der Gerichtsverfassung aus. Der Richter als Verwalter des königlichen Strafbanns urteilt nicht ohne „Umstände”, das heißt mit der Zustimmung der um die Thingstätte herumstehenden Gerichtsgenossen. Weder beansprucht diese Allgemeinheit kraft eigener Einsicht Recht zu sprechen, noch emanzipiert sich der Richter von der Zustimmen ihres Rechtsbewußtseins. Beide wissen sich gleichermaßen unter dem Recht stehend. Der Richter aber ist etwas grundsätzlich anderes als ein Obmann oder Sprecher von Geschworenen. Diese Doppelgliederung hat sich am reinsten in den englischen Geschworenengerichten erhalten, aber schon Dickens hat in seinen großen sozialen und rechtspolitischen Satiren die Fragwürdigkeit und Urteilslosigkeit dieser Volksgerichte geschildert.

Im Gegensatz zu der ungebrochenen Rechtstradition Englands hat die Rechtsentwicklung auf dem Kontinent andere Wege eingeschlagen. Teils Fürstengerichte, teils die weitreichende Obergerichtsbarkeit der städtischen Schöffenstühle, die für das gesamte osteuropäische Recht maßgebend wurde, tritt an deren Stelle. Die starke Tendenz der bürgerlichen Gerichtsbarkeit zum Kollegialgericht, in der sich Rechtstradition und Gemeinbewußtsein verschmolzen, hat den Fürstenstaat weit überdauert. Man sollte annehmen, daß dem absoluten Fürstenstaat bürokratische Methoden in Verwaltung und Rechtsprechung, einseitige Verfügungen und

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Urteile von weisungsgebundenen Personen entsprochen hätten. Das Gegenteil war im Großen gesehen der Fall. Die kollegiale Form der Gerichtsbarkeit hat vielmehr weitgehend die Formen selbst der Verwaltung beeinflußt. Der absolute Fürst betrachtete sich nicht als Motor, sondern als Ingenieur, der den regelmäßigen Rechtslauf ebensowenig antastete wie die soziale Struktur selbst, sondern sich nur das Recht der Kontrolle und des Eingriffs, freilich uneingeschränkt, vorbehielt. Bis in die Gegenwart, bis zu dem Ende fast der monarchischen Staaten, bis zur technischen Unmöglichkeit durch die moderne Häufung der Geschäfte haben die monarchischen Verwaltungsbehörden in einem uns heute kaum vorstellbaren Maße justizförmig gearbeitet, referiert, votiert, beraten und abgestimmt.

Auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung war allmählich an die Stelle der Schöffenkollegien, die Tradition und Gemeinbewußtsein verbanden, eine ausschließliche Gerichtsbarkeit der Kollegien beamteter Juristen geworden; das Juristenprivileg hatte sich durchgesetzt. Allein die Bagatellgerichtsbarkeit blieb noch in der Hand rechtsungelehrter Feudalherren, Magistrate und Dorfgemeinden. Der bürgerliche Liberalismus beseitigte gerade die Reste eigenständiger ständischer Gerichtsbarkeit, statt sie fortzubilden, um der formallogischen Staats- und Rechtseinheit willen, er schuf seiner Metaphysik entsprechend eine einheitliche und unteilbare Staatsgewalt und versuchte, erst auf ihrer Grundlage das Verhältnis von Königsrichter und Volksrichter neu zu gestalten. Das königliche Richteramt wurde zum gesetzlichen, einem in sich geschlossenen System der juristischen Logik unterworfen; ihm wurde folgerichtig die Beurteilung aller erworbenen Rechte überlassen. Auf der anderen Seite wurde Schwurgerichten und Volksgerichten die Beurteilung der Verletzung angeborener Rechte, Leben und Ehre, und die politischen Entscheidungen — Preßprozesse — vorbehalten. Diese grundsätzliche Teilung ist seither längst aus dem Bewußtsein geschwunden. Sie spiegelt das ungeklärte verfassungspolitische Spannungsverhältnis zwischen Monarchie und Volkssouveränität, aber ebenso zwischen liberalem Verfassungsdenken und souveräner Demokratie zutreffend wider. Die allmähliche Verwischung dieser Grundgedanken hat sich in der steigenden Bedeutung gemischter Gerichte (Schöffengerichte, Strafkammern mit Laienbeisitzern) und

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der Umwandlung des alten Schwurgerichts in ein größeres Schöffengericht mit gemeinsamer Beratung ausgewirkt. Dieser gemäßigte Kompromiß des juste milieu, der zu einer durchaus befriedigenden Stufung der Gerichte nach der Schwere der Tat und der Höhe der zu erwartenden Strafe geführt hat, bedeutet aber nicht den Stillstand jener tieferen Problematik.

So wie die Strafe des einzelnen zugleich seine Wesensschuld wie die der Gemeinschaft ablöst, so wie der Richterspruch zwischen dem einzelnen und der Gesamtheit ausgleicht, so stehen auch die beiden Urformen des Richteramtes, der königliche und der Volksrichter, gemeinsam unter der Verbindlichkeit des Rechtes. Gerade diese echte Verbindlichkeit ist heute von innen heraus in Frage gestellt. Die liberale Theorie des 19. Jahrhunderts versuchte das Rechtsleben, ja, das gesamte Staatsleben in einen geschlossenen Kreis gesetzlicher Akte und Maßnahmen ebenso legalistisch wie moralistisch zu verwandeln. Von diesem Standpunkt stellte der Volksrichter nur eine Art geduldeten clerus minor dar, der in der Beherrschung der Baugesetze dieses juristischen Kosmos immer ein Anfänger bleiben mußte. Dieser Versuch, Staat und Recht als einen solchen Kosmos aus sich selbst formallogisch erklärbarer Normen aufzufassen, ist in der radikalen Theorie aufgegeben worden zugunsten des Rechtsdenkens ideologischer Generalklauseln, mit denen man eine unübersehbar gewordene, chaotische Welt zu ordnen trachtet. Für dieses Denken ist wiederum der Glaubensträger, nicht der juristische Techniker der Logik entscheidend, wird folgerichtig der Jurist zum argwöhnisch betrachteten Anhängsel des Volksrichtertums, in dem besten Fall zum unvermeidlichen Übel. Das gilt für den Nationalsozialismus so gut wie für seine antifaschistischen Erben. Nachdem das Recht völlig zur technischen Ordnungsnorm herabgesunken ist, ist der Widerstreit dieser in sich selbst wertfreien Normen nur noch aus der zentralen Position des Glaubens und deshalb decisionistisch von Fall zu Fall zu überwinden. Das hochentwickelte Säugetier deformiert sich zum massenhaft auftretenden uniformen Einzeller. Soweit aber die Volksgerichtsbarkeit nicht schon das gesetzliche Richteramt überhaupt verdrängt hat, stehen beide heute in einem Konkurrenzverhältnis. An die Stelle des negativen Kompetenzkonflikts ist die Kumulation der Kompetenzen getreten. Der Fundamentalsatz „ne bis in idem” hat sich in ein

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„bis in idem” verkehrt. Wie die politische Haft des Konzentrationslagers sich an das Urteil der ordentlichen Gerichte anschloß, findet niemand heute mehr etwas dabei, neben die Verurteilung durch die ordentlichen Gerichte beispielsweise wegen Mißhandlung von Fremdarbeitern eine solche durch die Spruchkammern mit langdauernden Arbeitslagerstrafen zu setzen.

Wenn im liberalen Gerichtsverfassungsrecht mit den Sondergerichten jede politische Gerichtsbarkeit ausgeschaltet werden sollte, droht unter dem Einfluß der modernen radikalen Demokratie aller Richtungen jede Gerichtsbarkeit zur politischen zu werden. Das unbewältigte Problem liegt also im Problem der politischen Gerichtsbarkeit, wie der politischen Grundlage der Gerichtsbarkeit überhaupt. Vergleichbare Erscheinungen für das Problem der politischen Gerichtsbarkeit haben wir sowohl auf dem Gebiet des Staates wie der Kirche. Eins ist sicher: je mehr die politischen Ideologien der Gegenwart sich der Katholizität nähern, desto näher rücken auch die Scheiterhaufen ihrer Gegner. Auf diesem Gebiet steht freilich die römische Inquisition nicht allein da: zur gleichen Zeit verbrannte Calvin den Dr. Servet, brachte Zwingli den Vater eines verstorbenen wiedertäuferischen Gegners aus einem nichtigen Grunde aufs Schafott und starb der Patriarch Nicon, der die Reformation der orthodoxen russischen Liturgie versucht hatte, den Flammentod. Allein die lutherische Kirche kann für sich in Anspruch nehmen, daß sie niemals Häretikern nach dem Leben getrachtet hat. Zu allen Zeiten aber haben leitende Staatsmänner den politischen Mißerfolg wie den bloßen Umschwung der Konstellation mit dem Tode büßen müssen. Mit den früheren Zielen erschienen plötzlich auch die bisherigen Mittel verwerflich. Immer aber ist der Souverän unverletzlich, denn gegen ihn wird der Hochverrat ja begangen. Die Inquisition nun trifft die Gesinnung jedes einzelnen, auch des Niedrigsten, der politische und speziell Hochverratsprozeß den politischen Führer als integrierenden Faktor eines bestimmten Staatszustandes, einer bestimmten Außen- oder Verfassungspolitik. Wie Staat und Kirche in den modernen politischen Ersatzreligion auf eine Ebene gebracht werden, so ist das Zusammenfallen von Inquisition und Hochverratsprozeß für die gegenwärtige politische Gerichtsbarkeit kennzeichnend. Daraus ergeben sich mehrere Widersprüche:

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1. Die Inquisition setzt eine verbindliche Dogmatik voraus und gerät damit in Widerspruch mit dem Entscheidungscharakter und der freien Zweckhaftigkeit politischen Handelns. Die Unmöglichkeit, politische Urteilssprüche überzeugend rechtslogisch wie sittlich zu begründen, ist ein Ausdruck dieser Tatsache.

2. Der Hochverratsprozeß setzt ebensosehr einen Souverän voraus, den man verraten kann, wie eine Gefolgschaft, die man verführt. Wo Souverän und Gefolgschaft zusammenfallen, folgt daraus notwendig das Scherbengericht über den erfolglosen oder mißliebig gewordenen Führer oder Verführer. Das parlamentarische System hat dies zum Mißtrauensvotum humanisiert. Heute hat es sich wieder zu tödlichen Gegensätzen verschärft. Wo es sich aber mit der Inquisition verbindet, also die Masse die Masse verurteilt, steht die politische Gerichtsbarkeit ihrem eigenen Zweck, der Neuintegration im Wege. Nichts bedroht die Zukunft der deutschen Demokratie so sehr wie die zu ihrem Schutze eingeleitete Massenentnazifizierung, nicht in erster Linie wegen der Unzahl von Fehlsprüchen und Haßmaßnahmen, sondern allein schon deswegen, weil sie mit den Massen einen integrierenden Bestandteil des Volkes entrechtet und politisch verprellt, indem sie ihm die Rechtsstellung des Souveräns, nämlich das souveräne Recht zu irren, vorenthält. Sie ist ein Schlag ins Gesicht der Theorie von der Volkssouveränität. Sie wird heute politische Gerichtsbarkeit, von jeher ein fragwürdiges Kapitel menschlicher Unzulänglichkeit und Leidenschaft, stets auf der Grenze von Recht und Macht stehend, zu einer bedrohlichen politischen Selbstzerstörung, an deren Folgen wir nicht weniger schwer zu tragen haben werden als an denen des Nationalsozialismus. Eine jede Revolution ist weit weniger eine Befreiung als eine Verengung des bisherigen geistigen Lebensgrundlagen. Die Spannfähigkeit, die positive Toleranz reicht nicht mehr aus, die Gegensätze zu ertragen; das Band, das das Ganze zusammenhält, verengt sich wie in gerissenere Treibriemen, den man wieder zusammenflickt. Jedes europäische Volk hat sich von seiner eigenen Wesenseinheit wie von der europäischen Gemeinsamkeit mit seiner Revolution entscheidend entfernt. Wenn schon die europäischen Revolutionen mit Ausnahme der puritanischen zu einer tiefgreifenden und unüberwindlichen Spaltung zwischen religiöser Staatstradition und Aufklärung geführt haben, so droht vor allem

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in Deutschland der gegenwärtige Prozeß der politischen Gerichtsbarkeit einen Zustand der Zersetzung zu verewigen, der die größten Besorgnisse für die Zukunft erwecken muß. Wie die religiöse Reformation als Konfessionsbildung, so ist auch die politische Revolution in Deutschland in einem Zustand der Unentschiedenheit und Formlosigkeit steckengeblieben.

Umso gefährdeter ist die Stellung des Richteramtes. Der moderne Rechtsstaat ist nicht echter Rechtsstaat als Wirklichkeit, sondern Rechtsstaat als Ziel. Er ist aufgebaut auf einem dauernden Spannungsverhältnis zwischen Staat und Recht, zwischen Gemeinschaft und Einzelmensch, das durch den Richter überwunden und gelöst werden soll. Als Mittel besitzt dieser hierzu materiell eine gewisse Zahl von Grundrechtsnormen, formell seine vom Staate geschützte Zuständigkeit und Unabhängigkeit. Es ist ein labiles Gleichgewicht, in dem der Staat auf seine tatsächliche Macht verzichtet und sich freiwillig auf die Ebene jener Rechtsträger begibt, sich der Gewalt eines seiner eigenen Organe anvertraut, das selbst über keine eigene Macht verfügt, das von der Unterstützung und der Achtung der streitenden Teile vollkommen abhängig ist.

Nun kann keine Rechtsnorm lediglich aus sich allein ausgelegt werden, am allerwenigsten, wenn es sich um Grundsatzfragen handelt. Die Rechtsprechung bedarf immer der Rückbeziehung auf bestimmte Grundauffassungen, die sich der normativen Festlegung weitgehend entziehen. Erst von ihnen aus kann die Fülle der Rechtsnormen und die Rechtsprechung in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden. Nur wenn über diese Grundauffassungen zwischen den Streitenden selbst Einigkeit besteht, können die Gerichte ihre Funktion des Rechtsschutzes erfüllen. Sonst werden ihre Sprüche unvollziehbar, der Staat einerseits oder große Organisationen der Staatsbürger oder auch die unorganisierten Massen entziehen sich auf alle mögliche Weise der Vollstreckung. Dieses System muß also gerade dann versagen, wenn es am dringendsten gebraucht wird, im Falle echter Verfassungsstreitigkeiten. Am allerwenigsten kann sich das Verfassungsleben in einem fortgesetzten Prozeß vor dem Staatsgerichtshof abspielen. Eine reiche Wirksamkeit eines Verfassungsgerichtshofes beweist umgekehrt, daß die ideelle Grundlagen des Staates noch unangefochten sind.

In dem Bewußtsein dieser schwierigen Mittelstellung suchen die

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Gerichte ihre Autorität so weit wie möglich aus der Kampflinie zu ziehen. Wehrlos auf der einen Seite gegen Eingriffe des Staates, der sie unterhält, disziplinär überwacht und doch auch geistig trägt, ebenso wehrlos gegen Presseangriffe und Parlamentskritik suchen sie überall die Angriffsflächen möglichst zu verkleinern. Sie streben danach, ihre Urteile ohne jene tiefere Rückbeziehung aus dem positiven Gesetzestext allein zu begründen und so formallogisch unanfechtbar zu machen. So entstand jener Gesetzespositivismus, der mit den Mitteln wissenschaftlicher Textkritik das zu ersetzen sucht, was ihm an Gehalt abgeht. Der Richter wird zum Techniker der Logik. Wenn auch gewiß meist die völlige Durchdringung des Sachverhaltes das Urteil fast zwangsläufig erfließen läßt, so ist dies in keinem echten Rechtsfall so. Diese Rechtsprechung mit ihren sinnentleerten, aber logisch unanfechtbaren Ergebnissen unterliegt erst recht der begründeten Kritik eines tieferen Rechtsempfindens. Hier liegt der wahre und berechtigte Kern des Rufes nach dem „wahren Recht”. Gerade indem man den Ausgleich jenes Gegensatzes ganz dem Richter auflastete, endete man im Positivismus, der die folgerichtige Fortentwicklung einer festen Rechtsprechung, das Präjudiz als seine Rettung und sein Teil ansehen muß, in dem die Persönlichkeit hinter der logischen Auslegungsaufgabe notwendig zurücktritt. Seine Aufgabe ist im Grunde unlösbar, wenn auch die Staatsautorität und das überlieferte Ansehen der Gerichte die Schwierigkeiten überdecken. Die Aufgabe ist insbesondere dann kaum zumutbar, wenn der Anspruch eines sozialistischen Gemeinwesens in echten Konflikt mit subjektiv individuellen Rechten tritt. Es zeigt sich mit aller Deutlichkeit, daß es eine solche freischwebende Konstruktion nicht geben kann, daß dieses Verhältnis einer festen Grundlage bedarf, um nicht gerade dann zusammenzufallen, wenn es einer Belastungsprobe unterworfen ist. So wird die Persönlichkeit überlastet und damit gerade am sichersten ausgeschaltet und zerstört.

Die Krise des Rechtsstaates tritt also immer dann und dort ein, wo die dem Rechtssystem zu Grunde liegenden Wertauffassungen umstritten werden. Diese Lage ist in Deutschland schon seit Jahrzehnten vorhanden und bestand insbesondere schon vor dem Weltkrieg. Das kaiserliche Deutschland war mit seiner vollausgebauten Gerichtsbarkeit, mit der tatsächlichen Unabhängigkeit seiner

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Richter unbestreitbar ein Rechtsstaat. Dennoch stand seine Richterschaft keineswegs außerhalb der Drecklinie. Wenn man heute die Presseberichte aus dem Sensationsmordprozeß Hau aus dieser Zeit liest, so erstaunt man über das Maß der Unsachlichkeit und Gehässigkeit, mit der auch große Blätter die selbstverständlichsten Schritte des Gerichts kommentieren. Man war gewohnt, an den Gerichten in einer Form Kritik zu üben, die in den angelsächsischen Ländern mit der hohen Stellung des Richters undenkbar gewesen wäre. Auf der anderen Seite galt die Justiz als liberale Domäne und spielte neben Verwaltung und Heer sichtbar eine Rolle zweiten Ranges.

Der Umsturz von 1918 hat diese Lage nicht grundsätzlich verändert, sondern nur gradweise verschärft. Weit mehr als je waren die Grundlagen des Staates umstritten. Der Richter, der gegenüber einem starken Staat als liberal erschienen war, erschien in einem schwachen als konservativ, ja als reaktionär. Der Richter ist seinem Wesen nach überhaupt konservativ. Er richtet über gegebene Rechte, über vergangene Taten und gestaltet nicht frei die Zukunft. Die Republik besaß keinen Konservatismus, und der Konservatismus — auch unabhängig von der Frage des Staatsform — kein Verhältnis zu ihr. Als Ausdruck dieses Mißverhältnisses begegnete die Justiz auf der Linken einem Mißtrauen, welches in gelegentlichen politischen Fehlurteilen seine traditionelle Begründung, aber keine zulängliche Rechtfertigung fand. In Wahrheit liegt darin eine Verwechslung von Ursache und Wirkung und jener Spannung die Spaltung zwischen Aufklärung und Tradition zu Grunde.

Wenn man in diesem Zusammenhange von einer Justizkrise gesprochen hat, so ist der Ausdruck unzutreffend. Unter Krise versteht man den Höhepunkt einer krankhaften Entwicklung, jenseits deren entweder der Tod oder die Genesung steht. Zutreffender kann man die Lage als einen Zustand langdauernder Schwäche bezeichnen. Sie drückt sich seit langem im sinkenden Ansehen der Gerichte aus. Je weniger dem Richter eine tiefere Grundlage geboten wurde, desto mehr zog er sich auf eine positivistische Haltung und seine formelle Unabhängigkeit zurück. Der Versuch einer oberflächlichen Politisierung im Sinne des republikanischen Richterbundes wurde auch in den Einflußgebieten des republiktreuen

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Zentrums als Preisgabe des Berufsethos abgelehnt. Umso mehr sank die Stellung der Gerichte. Daran waren weniger die vereinzelten Eingriffe republikanischer Regierungen Schuld — die uns heute nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus als verhältnismäßig harmlos erscheinen —, als die Schwäche des Staates überhaupt. Mißbrauch der Rechtsmittel, Hinschleppung der Verfahren, Einsatz der Skandalpresse durch Anwälte, eine aus falsch verstandener Humanität weit übertriebene Gnadenpraxis, die eine wirksame Verbrechensbekämpfung durch uferlose Strafaussetzungen immer mehr in Frage stellt, kennzeichnen diese Zeit ebenso wie die Vernachlässigung der äußeren Formen des Verfahrens bis zur Amtstracht der Richter. Neben diesen Krisengründen, die in allgemeinen geistigen und politischen Verhältnissen begründet sind, ist jedoch die Schwäche des Richteramtes durch besondere Momente bedingt, die im liberalen Gerichtsverfassungsrecht liegen. Das Anliegen des Liberalismus bei der Neuordnung der Gerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert war ein vorzugsweise negatives: die Ausschaltung jeder ständischen und Sondergerichtsbarkeit. Darüber hinaus besaß er außer der sinngemäß durchgeführten Forderung der Schwurgerichtsbarkeit kein positives Strukturprinzip für den Aufbau der Gerichte. Dieser erschien bei der allgemeinen Gesetzlichkeit aller Gerichtsakte eine reine Frage der Zweckmäßigkeit. Das war ein großer, freilich bis heute ein in seinen schwerwiegenden Folgen übersehener Irrtum. Der Liberalismus tastete weder das Juristenprivileg an, noch die Form der alten juristischen Kollegialbehörde. Im Gegenteil, der Landsgerichtsprozeß vor der Zivil- oder Strafkammer erschien als der Kern des ganzen Aufbaus. Zum Schutze der Rechtssicherheit suchte man um einer ausgeglichenen und feststehenden Rechtsprechung willen auf Kosten der Entfernung vom Tatort kräftige Gerichtskörperschaften, die Landgerichte, zu bilden, in denen sich Persönlichkeiten, Fähigkeiten und Meinungen ausglichen. Indem man der Scylla örtlicher Einflüsse auswich, fiel man indessen in die Charybdis der Entpersönlichung und Anonymisierung. Auch ein kollegiales Gericht behält, wenn es mit einem übersehbaren Sprengel fest verknüpft ist, seinen personalen Charakter. Dies fiel mit der Häufung der Geschäfte, mit der immer stärkeren Teilung der Gerichte in Kammern und Senate unmerklich fort. Aus dem gesetzlichen Richter wurde unversehens

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der nach einem komplizierten, der Öffentlichkeit notwendig unbekannten Geschäftsplan zuständige. Auf diesem Geschäftsplan aber konnten auch in sehr erheblichem Umfang politische Einflüsse der Verwaltung geltend gemacht werden. Die Ablösung von Strafkammervorsitzenden in Berlin aus politischen Gründen und der Selbstmord des Landsgerichtsdirektors Bombe zeigten, daß doch kein echter Anspruch des Richters auf sein Amt vorhanden ist. Vor allem aber fiel die Richterschaft mit Ausnahme der kleinsten Amtsgerichte einer steigenden Anonymisierung anheim. Jedermann kennt seinen Landrat, seinen Bürgermeister. Niemand kennt, außer an kleinen Orten, seinen Richter. Beim Landrat, beim Bürgermeister hat man noch ein echtes Gefühl dafür, daß der Vertreter im Amt eben nur ein Vertreter ist; für das Richteramt verlor sich dies infolge der Ersetzbarkeit des Richters durch jeden Inhaber der großen Staatsprüfung. Wie in einem Karussell tritt bald der eine, bald der andere ins Blickfeld. Eine bloße Gesetzlichkeit schien jedes Persönlichkeitsmoment überflüssig zu machen. Die schematische Gleichstellung des Vorsitzenden beim unteren Gericht mit dem Beisitzer beim nächsten höheren verhinderte jede natürliche Auslese und Randordnung der Persönlichkeit. Der Verfasser revisionssicherer Urteile erhielt die gleiche Chance wie der echte berufene Richter. Kein Personalpolitik der Ministerien hätte, selbst wenn man das eingesehen hätte, diese organische Schwäche des Systems ausgleichen können.

In nicht weniger großen Schwierigkeiten befindet sich die Volksgerichtsbarkeit. Das humanistische Juristenprivileg hat entscheidend zur Zerstörung der Rechtstradition beigetragen, aber es hat doch nicht den modernen Menschen geschaffen. Eine Menschheit, die in ihrer Jugend imstande war, weitreichende naturwissenschaftliche und astronomische Kenntnisse, eine große Geschichtstradition in ungeheuren Heldenepen ohne schriftliche Aufzeichnungen zu überliefern, war auch imstande, eine große Rechtstradition zu bewahren. Von alledem sind wir weit entfernt. Der moderne Mensch ist bei aller Sehnsucht nach dem Recht dem rechtlichen Denken entwöhnt. Er schwankt zwischen einer Feigheit, die in der unausweichlichen Entscheidung stets nach dem geringsten Widerstand geht, und äußerer Zweckmäßigkeit und subjektiver Willkür. Er ist weitgehend entscheidungsunfähig geworden. Wenn dies auch durchaus

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nicht auf alle Schichten und Einzelpersonen gleichmäßig zutrifft, so sind doch die Auswahlmaßstäbe mehr als fragwürdig. Daß den politischen Parteien maßgebender Einfluß auf die Auswahl der Schöffen eingeräumt worden ist, kann nur als verhängnisvoll angesehen werden. Was soll besser werden, wenn anstelle der bewährten Parteigenossen einer Partei diejenigen von vier Parteien auf der Richterbank erscheinen? Wir können nur hoffen, daß sich genügend Menschen finden, die trotzdem echten Maßstäben der Auswahl zum Durchbruch verhelfen. Die Gegenwart ist geneigt, von dem dreifachen sozialen Bezug des Menschen einseitig nur die Gesinnung zu werten, aber Persönlichkeit und Leistung hintan zu setzen. Der Gedanke des Volksrichtertums hat durch die Erfahrungen mit den Spruchkammern den schwersten Stoß erlitten; umgekehrt sind die Juristen durch die Tätigkeit in den Berufungsspruchkammern von neuem zu Ehren gekommen. Diese Problematik hat sich schon in der Abschaffung der alten Schwurgerichte ausgedrückt und seitdem mit der Steigerung der politischen Gegensätze ins Maßlose verschärft.

Das Wesentliche kann hier nur auf der Seite des Berufsrichtertums geschehen, wenn es überhaupt gelingt, ein solches gegenüber einem hemmungslosen Radikalismus zu behaupten. Es liegt auf der Hand, daß diese Krise nicht durch eine neue oberflächliche Gleichschaltung der Richterschaft, nicht durch eine neue Welle der Politisierung gelöst werden kann. Im Gegenteil — wir sind schon in dieser Richtung weit abgetrieben worden. Die Ausschaltung eines großen Teils der besten Kräfte, das noch stärkere Eindringen politischer Gesichtspunkte in die Personalpolitik haben nahezu jeden Wettbewerb der Persönlichkeit und Leistung zum Erliegen gebracht. Im übrigen stellt sich das Bildungsproblem der Gegenwart auch für den Richterstand in der Erscheinung des ungebildeten Gebildeten. Es würde sich auch dann stellen, wenn die gegenwärtige Kulturpolitik nicht sichtbar die Reste der humanistischen Bildung vernichtete und noch stärkere Einbrüche in das Bildungsniveau erwarten ließe, als schon vorhanden sind. Politische Persönlichkeits- und Bildungsfragen fließen zusammen in der Frage nach den metajuristischen Grundlagen. Wenn schon die bürgerliche Rechtslehre im vollen Besitz der humanistischen Grundlagen den Sinn der von ihr verteidigten Rechtsinstitute nicht zu bewahren

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vermocht hat, so vermag sie es heute weder mit formaler Logik noch mit rationalem Zweckdenken oder einem kramphaften Neuhumanismus. Es scheint sich in der Tat nur darum zu handeln, ob nach Marx’ Willen der bürgerliche Rechtshorizont abgelöst oder jene Einsichten wiedergewonnen werden.

Man kann nicht leugnen, daß Rothenberger vom Standpunkt des Nationalsozialismus das Problem als vierfaches, als solches der Gerichtsverfassung, der politischen Grundlage, der Auswahl und der Bildung in großzügiger Weise in eins gesehen und zu lösen versucht hat. Von einem grundsätzlich anderen Standpunkt aus müssen wir es ebenso zentral anfassen. Es besteht freilich wenig Hoffnung, hier voranzukommen. Seit den Reformvorschlägen des Frankfurter Oberbürgermeisters Adickes wird durch alle Systeme hindurch herumgedoktert und auch im totalitären System Hitlers ist Rothenberger sein folgerichtiges Programm nach wenigen Monaten aus der Hand geschlagen worden. Die materielle Seite des Problems ist abhängig von der Überwindung der politischen Ideologien, der Zerspaltung der Völker, der Wiederherstellung der Rechtsidee überhaupt. Wenn die schmutzigen Fluten dieser Ideologien einmal abgeflossen sind, wird, zwar verwüstet und verschlammt, doch der ewig fruchtbare Boden des Rechts wieder beackert werden können. Das große Beispiel für die Auflösung des Rechtsdenkens bietet der Nationalsozialismus, aber er ist nur ein Beispiel in der europäischen Gesamtentwicklung. Er begann mit dem Ziele, den Positivismus zu überwinden und endete in einer völligen Auflösung des Rechtsbegriffes überhaupt, in einem dynamischen Decisionismus. Die Sehnsucht des Volkes rief nach einer tieferen Rückbeziehung der Rechtsordnung, einer Vertiefung in der Vertikalen. Der Nationalsozialismus weitete das Recht in der Horizontalen bis zur Zerstörung aus. Die Aufgabe der echten Darstellung der Rechtsidee liegt daher noch vor uns. Dazu brauchen wir freilich eine Theologie des Rechtes. Wer wagt heute noch, von einer autonomen Rechtswissenschaft zu sprechen?

Die andere Seite des Problems ist die des Richteramtes. Jede Rechtsreform ist behaftet mit dem romantischen Ideal vom Richterkönigtum und der Vorstellung, daß die materielle Besserstellung der Richter wesentlich sei. Beides geht am Kern vorbei. Nirgends gab es mehr Menschen, die mit solcher phrasenlosen Leidenschaft

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um der Aufgabe willen vielerlei Nachteile auf sich nahmen. Was ihnen Rechtslehre und Rechtsphilosophie an tieferen Einsichten vorenthielten, gewannen die Berufenen unter ihnen aus der echten Berührung mit der Rechte und den Menschen, so wie selbst die Verirrungen einer aufgeklärten Theologie das geistliche Amt nicht zu töten vermocht haben. Diese Menschen sind auch heute noch vorhanden, freilich nicht an äußeren Merkmalen zu erkennen. Krieg und Politik als die großen Mittel der negativen Auslese haben unter ihnen schwere Lücken gerissen. Nicht wesentlich andere Menschen können gewonnen werden, noch die vorhandenen geändert werden, es muß nur vielmehr die Rangordnung der Persönlichkeiten hergestellt und ihnen eine entsprechende öffentliche Wirksamkeit gegeben werden. Dies ist der Fall, wenn überhaupt an die Stelle der sachlichen soweit als möglich die sprengelmäßige Zuständigkeit gesetzt wird. Wenn jedem Einzelrichter wie jeder Kammer alle Sachen eines bestimmten Bezirks für lange Zeitdauer zugewiesen, wenn die Landgerichte bis in die Größenordnung des Großkreises aufgegliedert und dezentralisiert werden, wenn eine grundsätzliche und rechtlich gesicherte Verknüpfung des Richters mit seinem Amtsbezirk geschaffen wird, dann werden mit einer echten, öffentlich sichtbaren Verantwortung auch die rechten Persönlichkeiten an die rechten Plätze kommen. Allzu lange haben wir vor dem Gesetze der Masse kapituliert. Auf die Menschen kommt es an wie auf die Rechtslehre. Das Recht wie die freie, an keine Regel zu bindende Gnade sterben ohne persönliche Repräsentation, ohne persönlichen Vollzug. Persönlichkeit und Zweiseitigkeit sind auch die Merkmale des Rechts, ohne das der Mensch zum Objekt der einseitigen Herrschaft eines namenlosen Prinzips herabsinkt, ohne das die Gemeinschaft verfällt.

 

IV.

Der Zweck dieser Untersuchung wäre verfehlt, wenn das Persönlichkeitsproblem letztlich doch wieder als der alleinige Schlüssel für die Behebung aller Schwierigkeiten erschiene. Forderungen auf diesem Gebiet sind seit langem schon zu Ladenhütern einer fruchtlosen Programmatik geworden, weil sie vom Strukturproblem losgelöst wurden. Dieses Strukturproblem besteht auf allen

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drei Ebenen, des materiellen, des formellen und des Gerichtsverfassungsrecht. Der gegenwärtige Entwicklungsstand ist eine vollständige Umkehrung des bisherigen Rechtssystems, als ob man der euklidischen Geometrie eine nicht euklidische gegenüberstellt. Die grundsätzlichen Merkmale dieser Entartung seien daher in einem doppelten Schema mit positiven und negativen Vorzeichen noch einmal zusammengefaßt:

I. Positive Form

1. Materielles Recht:

a) Gesetz als allgemeiner konkreter Tatbestand und Satzung

b) Tatbestand als konkrete Tat

c) materielle Rechtskraft, bestimmte Strafe

2. Prozeßrecht:

a) Gesetz als allgemeiner formeller Tatbestand

b) Klage (Anklage) als formeller konkreter Tatbestand, Prozeß als Rechtsverhältnis

c) formelle Rechtskraft des Urteils

3. Gerichtsverfassungsrecht:

a) königliches Richteramt

b) Gesetz beide unter dem Gesetz; ne bis in idem

c) Volksrichteramt

II. Negative Form

1. Materielles Recht:

a) Analogie

b) Tätertypus

c) Sicherung, unbestimmte Strafe

2. Prozeßrecht:

a) Rückwirkung

b) ermessensfreies Verfahren

c) Durchbrechung der formellen Rechtskraft durch außerordentliche Rechtsmittel

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3. Gerichtsverfassungsrecht:

a) gesetzliches Richteramt b) ohne verbindenden Oberbegriff, kumulative Kompetenzen, bis in idem c) Politisches Richteramt

 

V

Im Folgenden wird, um die oben begründeten Vorschläge im einzelnen praktisch verständlich zu machen, der Entwurf für eine Art kleiner Justizreform mitgeteilt, der das wesentliche Anliegen mit einfachen Mitteln zum Ausdruck bringt. Eine solche kleine Reform ist auch heute erreichbar und stellt wenigstens einen wesentlichen Anfang dar. Sie würde zugleich eine unserer heutigen Verarmung entsprechende erhebliche Kostenersparnis an Reise- und sonstigen Prozeßkosten mit sich bringen und die Verfahren durch Ortsnähe erheblich vereinfachen. Sie bedeutet zugleich eine Anpassung der Gerichtsorganisation an die Bevölkerungsverteilung.

 

Entwurf einer Verordnung über die Geschäftsverteilung bei den Gerichten und die Übertragung von Zuständigkeiten

Um die öffentliche und persönliche Verantwortung des unabhängigen, gesetzlichen Richters im demokratischen Staate herauszustellen, seine Vertrautheit mit Personen und Verhältnissen zu stärken und diese einer volksnahen Rechtsprechung dienstbar zu machen, ist die Organisation und Geschäftsverteilung der Gerichte nach dem Grundsatz der persönlichen und dauernden Zuständigkeit (Sprengelprinzip) zu ordnen.

Dieser Grundsatz ist wie folgt anzuwenden:

 

I. Geschäftsverteilung bei dem Amtsgerichten

1. Der Bezirk jedes Amtsgerichts, an welchem mindestens zwei planmäßige Richter bestellt sind, ist in soviel Sprengel einzuteilen, als Richterstellen vorhanden sind. Einer der Sprengel ist um so viel kleiner zu halten, als die Arbeitskraft des aufsichtführenden

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Richters durch Aufgaben der Verwaltung und Dienstaufsicht und des Vorsitzes (vgl. Art. II Ziff. 3) in Anspruch genommen wird (Oberamtsrichtersprengel). Wird der Aufsichtsrichter durch diese Geschäfte ganz in Anspruch genommen, so unterbleibt die Bildung eines Sprengels für ihn.

2. Jeder Richter wird bei seiner Berufung ins Amt durch Verfügung des Landgerichtspräsidenten in einen bestimmten Sprengel eingewiesen. Dem aufsichtführenden Richter fällt der Oberamtsrichter-Sprengel ohne besondere Bestellung zu.

3. Die Versetzung eines Richters in einen anderen Sprengel im Wege der Geschäftsverteilung nach den bisherigen Grundsätzen darf nur von vier zu vier Jahren zu Beginn eines neuen Kalenderjahres erfolgen und soll nach Möglichkeit vermieden werden. Innerhalb dieser Zeit kann sie nicht gegen seinen Willen erfolgen.

4. Eine Änderung der Sprengeleinteilung ist nur bei dauernder erheblicher Verschiebung der Geschäftslast und nur nur zu Beginn eines Kalenderjahres durch Verfügung des Landgerichtspräsidenten zulässig.
Wird eine Entlastung der Sprengelrichter durch Hilfsrichter oder zusätzliche Planrichter erforderlich, so sind die Geschäfte in folgender Reihenfolge auf diese Richter zu übertragen:
a) Geschäfte der nicht-streitigen freiwilligen Gerichtsbarkeit mit Ausnahme der Jugend- und Vormundschaftssachen,
b) Zivilprozeßsachen,
c) Strafsachen und Jugend- und Vormundschaftssachen.
Das entsprechende gilt, wenn ohne Änderung der Sprengel ein Ausgleich der Geschäftslast zwischen den Sprengelrichtern erforderlich wird.

5. Eine sachliche Zuständigkeit für den gesamten Amtsgerichtsbezirk darf einem Richter nur übertragen werden für Eilsachen und Strafsachen gegen ortsfremde Personen.

6. Bei der Sprengelbildung darf der Bezirk einer Gemeinde nicht geteilt werden. Sind für einen Gemeindebezirk mehrere Richter erforderlich, so können die Geschäfte sachlich verteilt werden. Besteht ein Amtsgerichtsbezirk überwiegend aus dem Bezirk

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einer Gemeinde und reicht der übrige Bezirk zur Bildung eines gesonderten Richtersprengels nicht aus, so kann ebenfalls die bisher übliche sachliche Geschäftsverteilung stattfinden.

 

II. Übertragung landgerichtlicher Zuständigkeiten auf die Amtsgericht

1. Die landgerichtliche Zuständigkeit ersten Rechtszuges wird auf bestimmte Amtsgerichte übertragen, welche mit mindestens zwei Planrichter besetzt sind. Diese führen die Bezeichnung Kreisgericht. Bei jedem Kreisgericht sind Schöffengerichte und ein Schwurgericht zu bilden.

2. Den Kreisgerichten wird zugleich diese Zuständigkeit für die übrigen Amtsgerichte übertragen.

3. Bei den Kreisgerichten wird die erforderliche Zahl von Vorsitzenden der Zivil- und Strafkammern (Kreisgerichtsdirektoren) bestellt.
Ist die Bestellung eines hauptamtlichen Vorsitzenden nicht erforderlich, so nimmt der aufsichtführende Richter die Geschäfte des Vorsitzenden wahr.

4. In den Zivil- und Strafkammern ist einer der Beisitzer grundsätzlich der ordentliche Sprengelrichter. Dies gilt auch für die Richter bei den Einmanngerichten. Diese sind insofern Mitglieder des zuständigen Kreisgerichts.

5. Die dritten Mitglieder der Kammern und die ständigen Vertreter im Vorsitz sind nach den bisherigen Grundsätzen zunächst aus der Zahl weiterer Richter und dann aus den Sprengelrichtern durch Geschäftsverteilungsplan zu bestellen.

6. Ist die Bestellung eines hauptamtlichen Vorsitzen erforderlich, wird auch die eines ständigen Beisitzers nötig sein. Sonst kann die Zahl der Sprengel um die wegen Vermehrung der Geschäftslast erhöhte Zahl der Richter ebenfalls erhöht werden.

7. Einer Kammer sollen ebenso die Zivil- und Strafsachen bestimmter Sprengel für die Dauer zugewiesen werden. Ist dies nicht möglich, kann eine sachliche Geschäftsverteilung eintreten.

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III. Bestimmungen für die Landgerichte und Oberlandesgerichte

Die Geschäftsverteilung bei den Landgerichten als zweiter Tatsacheninstanz und bei den Oberlandesgerichten soll dem Grundsatz der ständigen örtlichen Zuständigkeit soweit als möglich angepaßt werden. Die Bildung von Spezialkammern und Spezialsenaten ist zulässig.