Wendland, H.D.

Geist, Recht und Amt in der Urkirche

Genre: Tijdschriftartikel

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Geist, Recht und Amt in der Urkirche

Dr. theol. Heinz-Dietrich Wendland, o. Prof. an der Universität Kiel

 

Die göttliche Heilsoffenbarung und der göttliche Geist, der die erstere in der Gesamtkirche wie allen einzelnen Gemeinden, die selber im vollen Sinne Kirche repräsentieren, gegenwärtig und lebendig macht, setzen Ordnung und Recht in der Kirche. Mit und in dem Wirken des Pneuma entstehen die die Kirche leitenden Ämter; daher diese denn auch den Aufbau des Leibes Christi als konkret-geschichtlicher Gemeinschaft zu vollziehen vermögen (Eph. 4, 11 ff.).

Wenn wir diesen Leitsatz aufstellen, so setzen wir uns damit in Widerspruch zu weit verbreiteten Anschauungen, die noch bis in die jüngste Zeit hinein wirksam gewesen sind, werten aber zugleich auch Neuansätze der Forschung aus, wie sie teils in Karl Holls berühmter Untersuchung über den „Kirchenbegriff des Paulus in seinem Verhältnis zu demjenigen der Urgemeinde”, teils auch in Günther Holsteins evangelischen Kirchenrecht vorliegen.1) Sohm hatte das Kirchenrecht überhaupt und grundsätzlich im Widerspruch zum Wesen der Kirche gesehen.2) Er hatte den pneumatisch-charismatischen Charakter der Urkirche scharf erkannt, in der alles vom Worte Gottes geleitet und bestimmt war. Es gab für ihn kein Kirchenrecht im Urchristentum, und es war der mit dem Katholizismus eintretende Sündenfall der Kirche, daß nun die religiöse Ekklesia mit der Kirche im Rechtssinn gleichgesetzt wurde. Gegenüber dieser Anschauung von großartiger Geschlossenheit, aber ebenso schroffer Einseitigkeit hatte Harnack das Miteinander und Nebeneinander eines göttlichen und eines weltlichen Prinzips in der Urkirche gelehrt.3) Profane Kirchenrechtsbildung und göttliches Kirchenrecht sind verbunden da: Geist und Amt, Charisma und Rechtsordnung, Pneumatiker und Beamte, Gesamtchristenheit und organisierte Einzelgemeinde (welch letztere es nach Sohm nicht gibt), sind nach Art eines Gesetzes der


1) Karl Holl, Ges. Aufsätze zur Kirchengeschichte II, Tübingen 1928, S. 44 f. — Günther Holstein, Die Grundlagen des Evangelischen Kirchenrechts, Tübingen 1928. — Der folgende Überblick im wesentlichen in Übereinstimmung mit Fr. Gerke, Die Stellung des 1. Clemens-Briefes innerhalb der Entwicklung der altchristl. Gemeindeverfassung, TU. 47, 1, Leipzig 1931, S. 2 ff.
2) Rudolph Sohm, Kirchenrecht I, Neudruck, München und Leipzig 1923, S. 1 ff.
3) Adolf von Harnack, Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts, Leipzig 1910. Vgl. auch denselben, Mission und Ausbreitung des Christentums I, Leipzig, 4. Aufl. 1924, S. 332 ff.

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Polarität zusammen da. Holstein dürfte mit Recht bemerkt haben, daß Harnack dennoch die „Zusammenhänge des Rechtlichen in der Urgemeinde mit dem eigentümlichen, nur ihr eigenen religiösen Inhalt unterschätzt” habe.4) Holl lehrte in der Urgemeinde zu Jerusalem eine „regelrechte Hierarchie, eine gottgesetzte Ordnung, ein göttliches Kirchenrecht, eine Kirche als Anstalt”5) erkennen und zeigte damit erstens, wie es schon vor Paulus Rechtsbildung in der Urkirche gegeben habe, und zweitens, daß Charisma und Tradition, die so oft für Gegensätze erklärt worden waren, weil man der Urkirche die durchaus moderne Anschauung von einem regellosen Enthusiasmus untergeschoben hatte, gleichzeitig und an derselben Stelle erwüchsen. Holstein endlich suchte die soziologisch-rechtliche Struktur der Ekklesia aus dem Wesen der Kirche heraus zu begreifen und erkannte eine eigentümliche und bestimmte, schon mit dem Wirken des kommenden Reiches Gottes gegebene Sozialität, die personal-führerschaftlich geformte Gemeinschaft der Jesusjünger. Das Kirchenrecht ist eigenwüchsig; es ist ein Recht im Dienste und in der Sphäre des Pneumatischen, ein „urförmiges Recht”, das im Religiösen selber liegt, ein Recht, das noch nicht formalisiert ist, dennoch aber schon mehr ist als bloß werdendes Recht.6) Mit dieser Auffassung ist es verwandt, wenn Linton in seinem lehrreichen Überblick über das Problem der Urkirche in der neueren Forschung Paulus als den Pneumatiker des Amtes, der Tradition und der Ordnung kennzeichnet.7)

Diese Beispiele zeigen, daß eine ganze Reihe von neuen Ansätzen vorliegen, die über die ältere Diskussion hinausführen und bei denen die weitere Arbeit einzusetzen hat. Es ist die Aufgabe, den Dualismus von Geist und Amt, Charisma und Recht zu überwinden, ohne daß dabei der pneumatisch-charismatische Grundcharakter der Urkirche verleugnet wird, wie ihn die ältere Forschung herausgestellt hat. Drei allzu einfache Thesen müssen freilich fallen, und die Beachtung der Quellen wird uns diese Notwendigkeit erweisen. Das sind 1. die Entwicklungstheorie des theologischen Historismus, nach welcher das Amt das Pneuma abgelöst haben soll; denn Geist und Amt sind von allem Anfang an miteinander da und stehen in einem bestimmten und klaren sachlichen Verhältnis zu einander; — 2. der früher behauptete Gegensatz der charismatischen und der Verwaltungsämter, der anders gefaßt bzw. aufgehoben werden muß. Im Gegensatz zur dualistischen Lehre des Consensus hatte Sohm Richtiges gesehen, wenn er die Einheit von Lehramt und Verwaltungstätigkeit in der Kirche betonte. Vor allem aber muß endgültig fallen 3. die These Sohms, daß es kein Kirchenrecht im Urchristentum gäbe, weil das Kirchenrecht im Widerspruch zu ihrem pneumatisch-charismatischen Wesen stünde. Hier hat eine sehr moderne, spiritualistische Frömmigkeit das Bild der Urkirche


4) Holstein a.a.O. S. 57.
5) Holl a.a.O. S. 54.
6) Holstein a.a.O. S. 59.
7) Olof Linton, Das Problem der Urkirche in der neueren Forschung, Uppsala 1932, S. 206 ff.

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verzeichnet. Freilich wird es sehr darauf ankommen, welcher Charakter dem zu bejahenden Kirchenrecht der Urkirche zu geben ist.

Es handelt sich nämlich wirklich um Kirchenrecht — das ist von vornherein festzustellen. Es ist keineswegs ohne weiteres von profan-rechtlichen Analogien aus zu fassen! Die Versuche, das Wesen der urchristlichen Kirchenverfassung mit Begriffen wie demokratisch, aristokratisch, anarchisch, monarchisch oder Kombinationen von diesen zu fassen, die auf unsere humanistische Denktradition zurückführen, haben sich als Irrwege erwiesen, weil sie Wesen und eigentümliche Struktur der Kirche nicht beachtet haben. Auch der Begriff „pneumatische Demokratie” kann solchen Irrtum nicht aufheben.8) Indem nämlich Amt und Recht in der Urkirche unmittelbar aus der göttlichen Heilsstiftung im gegenwärtig wirkenden göttlichen Pneuma entspringen, bleiben sie auch von diesem Gotteshandeln umschlossen und getragen, in ihm ganz und gar gefangen, so daß aus diesem urchristlichen Kirchenrecht keinerlei Verrechtlichung und Politisierung der Kirche entstehen kann. So bedeutet z.B. die Kirchenleitung des Apostels Paulus über die kleinasiatischen und griechischen Missionskirchen nicht Herrschaft über die Gemeinden und ihren Glauben, sondern einen Dienst (2. Kor. 1, 24), der ihrem Glauben und ihrer Heiligung, dem immer völligeren Erreichen ihres Zukunftzieles am Tage Jesu Christi geleistet wird, obwohl diese Kirchenleitung einen durchaus autoritativen Charakter trägt, wie besonders die zahlreichen Ermahnungen und Weisungen der beiden Korintherbriefe zeigen (vgl. z.B. 1. Kor. 5, 1 ff; 7, 40; 9, 1-2; 11, 34; 16, 1; 2. Kor. 2, 9; 13, 1 ff.). Ebenso gilt entsprechend auf seiten der Gemeinden, daß ihre Unterordnung, ihr Gehorsam, zu dem sie verpflichtet sind, etwas ganz anderes ist als der Gehorsam gegen einen Befehl oder ein Gesetz; denn er ist von der Liebe (im christlichen Sinne! — also der göttlich-pneumatischen Agape) erfüllt und getragen. Es ist kein Zwang in der Autorität und kein Gezwungensein im Gehorsam. Es ist der freie Gehorsam der Liebe, wie er nur in der Bruderschaft der Söhne und Erben Gottes möglich ist, zu der eben durch den Apostel, der sie leitet und mahnt, die Gemeinden gerufen worden sind. Gerade diese Freiheit ist gegenseitiger Dienst durch die Liebe (Gal. 5, 13). Darum ist das einzige natürliche Verhältnis, mit dem das Verhältnis des Apostels zur Gemeinde beschrieben werden kann, nicht das des Schulmeisters und Aufpassers (paidagogos), sondern das des Vaters, der das Recht und die Vollmacht, mit dem Stocke zu strafen besitzt, lieber aber mit Sanftmut und Liebe zu seinen Kindern kommt (1. Kor. 4, 14-15. 21). Der Charakter des Dienstes, der diakonia, ist jedem Amte und jeder Funktion innerhalb der Urkirche aufgeprägt, vom höchsten, dem Apostolat, bis zum niedrigsten. In der Urkirche herrscht nicht der Legalitätsgehorsam, nicht der bloße Rechtsanspruch der Autorität, auch nicht im Sinne eines kultischen Rechtes, wie etwa der Führungs- und Gehorsamsanspruch der Priester oder der Rabbinen, sondern Leitung durch die Verkündigung der Wahrheit des göttlichen Wortes in der


8) So leider noch F. Gerke a.a.O. S. 59 im Anschluß an A. v. Harnack.

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Haltung des Dienstes der Liebe. Insoweit war es richtig, wenn R. Sohm z.B. dem Amte des episkopos den rechtlichen Charakter bestritt und grundsätzlich formulierte: „Die Frage nach der Ordnung der Ekklesia ist eine Frage nach der aus Gottes Wort sich ergebenden Ordnung”, der menschlichen Bestimmung aber sei diese Ordnung entrückt.9) Und wir müssen mit Wilhelm Brandt hinzufügen, daß in der Entwicklung der Ämter der Urkirche die Erkenntnis und der Wille Jesu selber wirksam geworden sind: „Größe ist Dienst. Weil die Gemeinde diesen Satz anerkennt, erkennt sie auch die Autorität der Amtsträger an.”10) Jesus selber hat seine ganze Sendung, sein ganzes Werk unter diese Losung gestellt: „Ich aber bin in eurer Mitte wie der Dienende” (Luk. 22, 27). „Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen . . .” (Mark. 10, 45). Damit ist die Grundordnung für alles Leben in und unter der herbeigekommenen Gottesherrschaft gegeben, welche Jesus ausdrücklich in Gegensatz zu den weltlichen Ordnungen der Herrschaft stellt, in denen es Macht und Gewaltanwendung gibt und geben muß (Mark. 10, 42; Luk. 22, 25). In der Jüngerschaft Jesu soll „der Führende wie der Dienende” sein (Luk. 22, 26); diesen Satz hat die ganze Urkirche sich tief eingeprägt und alle ihre Ordnungen von ihm aus bestimmt. Weder enthusiastische Regellosigkeit der Geisteswirkungen noch Verfassungsgedanken und Organisationsschemata der jüdisch-griechischen Umwelt haben die Verfassung der Urkirche letztlich und entscheidend bestimmt, sondern der Geist und Liebeswille Jesu Christi, des Kyrios in göttlicher Hoheit und Macht, der im Gehorsam gegen den Vater allen Sündern sich dienstbar machte. Das „Gesetz Christi”, das kein Gesetz mehr ist, weder im kultischen noch im moralischen Sinne, ist das Gesetz der Liebe (Gal. 6, 2; Joh. 13, 34). Der Dienst der Liebe in und an den Gemeinden ist es, der Gehorsam und Ehrerbietung beanspruchen kann und soll — wofür sich etwa der Apostel Paulus nachdrücklich einsetzt: „in Liebe” sollen sie hochgehalten werden um ihres Tuns willen (1. Thess. 5, 12-13, vgl. 1. Kor. 16, 16; Phil. 2, 29; 1. Tim. 5, 17). Der Weg der Urkirche geht von Liebe und Dienst zu Autorität, Ehre und Gehorsam, und aus diesen wieder in jene zurück. Stellung und Funktion der Ämter in der Urkirche können nur dann wirklich verstanden werden, wenn wir auf die Forderung blicken, die Jesus an seine Jünger richtete, und auf die Formung, die er ihrer Gemeinschaft faktisch gab, an die sich Führende wie Gehorchende, Apostel und Gemeinden gebunden wußten. Erst von hier aus hat es dann Sinn zu fragen, welche natürlichen Bedürfnisse des urkirchlichen Gemeinschaftslebens es gewesen sein mögen, deren Erfüllung vom Gedanken der Liebe und des Dienstes geordnet worden ist und ob etwa Lösungen und Formen der Umwelt die Art mitbestimmt haben, in der dies geschehen ist. Die Urkirche war aber als Ganze, aus der Heilsoffenbarung in


9) Sohm a.a.O. S. 105.
10) Wilhelm Brandt, Dienst und Dienen im Neuen Testament. Gütersloh 1931, S. 185.

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Christus entstanden, eine neue Gemeinschaft. Daher sagt H.W. Beyer in seiner Untersuchung über den Begriff episkopos mit Recht, daß die ersten Christen „die zur Erfüllung ihrer Sendung notwendigen Ämter neu geschaffen” haben oder „sie sich aus der Sache heraus” haben „schenken lassen”.11)

Die Ämter der Urkirche sind bezogen auf und gebunden an geschichtliche Offenbarung. Auch das in der Kirche wirkende göttliche Pneuma muß so verstanden werden. Es ist ja der Geist des Herrn, der Geist Jesu Christi, und wenn dieser der Herr des Geistes ist, den er sendet und in dem er selber gegenwärtig ist (2. Kor. 3, 17-18), so ist dieser Geist niemals gelöst von seiner Sendung und seinem Gebot. Die Träger der Charismen und charismatischen Ämter, Apostel, Propheten und Lehrer, sind nicht von irgendeinem religiösen Enthusiasmus ergriffen, sondern vom Geiste Jesu Christi bewegt, der das Zeugnis ablegt: Herr ist Jesus, und daran vom dämonischen Geiste unterschieden werden kann, eine Feststellung, die nicht umsonst die paulinische Lehre von den Charismen und den charismatischen Ämtern eröffnet (1. Kor. 12, 3; 12, 4 ff., 28 ff.). So gewiß dieser Geist Gottes und Christi sich in ekstatischen Formen äußern kann und äußert, so ist er doch gerade nicht ein Geist der Zucht- und Regellosigkeit, ein Geist, der seine Träger vereinzelte und von den anderen abschlösse — dies kann, wie Paulus uns zeigt, vielmehr nur von der pneumatischen Glossolalie gelten, welche ohne Deutung bloß eine Rede für Gott und den Beter allein ist (1. Kor. 14, 2 ff.) —, sondern gerade ein Geist der Erbauung. Was erbaut er? Die Gemeinde. Er ist der Geist der Gemeinschaft, der gemeinschaftstiftende Geist schlechthin — Gemeinschaft hier natürlich nicht in irgendeinem allgemeinen Sinne verstanden, sondern als Ekklesia, als Bruderschaft im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung, als die neue gottgesetzte Gemeinschaft des Heils und der Heiligen, die Gott berufen hat zu seinem Reich. Dieser Geist spendet Ermahnung und Tröstung, Weisheit, Erkenntnis und Offenbarung; aus ihm stammt die Fülle der Charismen; aus ihm stammt die Agape, die alle Glieder der Gemeinde verbindet und zu gegenseitigem Tragen und Dienen ruft (1. Kor. 12, 4 ff., 26-27; 13, 1 ff.; 14, 2 ff.). Der Gott, der diese Geistesgaben schenkt, ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens, d.h. jener Ordnung, die im Reiche Gottes herrscht (1. Kor. 14, 33). Und diese himmlisch-transzendente Ordnung der Gottesherrschaft, die Ordnung der Liebe, kann und soll in Kraft des Geistes schon jetzt das Leben der Gemeinde wie ihre Gottesdienste prägen und bestimmen. Das ist es, was Paulus im 12.-14. Kap. des 1. Korintherbriefes seiner Gemeinde zeigt. Der heilige Geist ist ordnender, bauender Geist, Geist einer himmlischen Ordnung, die irdische wird und werden soll. Er ist es, der die Christen durch die Sakramente der Taufe und des Herrenmahles wirkend zu einem Leibe erschafft, zum Leibe des Christus (1. Kor. 12, 13). Dieser


11) H.W. Beyer bei Kittel, Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament II, S. 615.

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Leib aber ist, aus konkreten Menschen bestehend, keineswegs eine unsichtbare Größe, eine sog. bloße Herzensgemeinschaft, sondern eine reale, irdisch-geschichtliche Wirklichkeit, die Kirche Gottes zu Korinth und wo es sonst sein mag, darum auch der heilige Geist immer konkret-geschichtlich wirkend und bauend. Und eben hierin und hieran setzen Verfassung und Amt der Urkirche an. Es ist von hier aus als vollkommen sachgemäß begreiflich, wenn es einmal heißt, daß der heilige Geist Aufseher über die Herde setzt (Apg. 20, 28). Und der Pneumatiker, der ein Charisma empfangen hat, ob nun das der Weisheitsrede oder das der Krankenheilung oder das der Leitung, ist zu nichts anderem da, als der Gemeinde zu dienen und sie zu erbauen. Nicht die pneumatische Verzückung als solche ist von Wert, sie muß sich daran messen lassen, was sie für die Gemeinde leistet.12) Nach diesem Kanon bemißt Paulus die Zungenrede, und sie muß es sich daher auch gefallen lassen, der Prophetie nachgeordnet zu werden, welche die Gemeinde ohne weiteres verstehen kann. —

Allein dadurch, daß der heilige Geist der kirchebauende Geist war, konnten Kirchenverfassung und Kirchenämter entstehen. Denn er gab der Kirche, wie Paulus 1. Kor. 12, 12 ff. zeigt, die Ordnung und den Zusammenhang eines Leibes, für den zugleich die Verschiedenartigkeit und Vielheit der Glieder und Funktionen, als auch zweitens die Einheit charakteristisch sind. In ihm gilt darum auch die Forderung, daß es „nach der Ordnung” zugehe (1. Kor. 14, 40). Die Ämter der Kirche sind Verrichtungen am und Dienstleistungen in der Ordnung des Leibes Christi, in der jeglicher die ihm verliehene Gnadengabe freudig und verantwortlich zu betätigen hat. Aber sind „Funktionen”, sind Charismen schon Ämter? Ist eine Ordnung schon Recht? Das sind Fragen, die sich an diesem Punkte alsbald erheben.

Doch im Sinn der Urkirche sind Charisma und Amt eben nicht die Gegensätze, als die sie uns erscheinen! Das Charisma begründet, wie schon Harnack gesehen hat, Autorität und fordert Anerkennung und Gehorsam.12a) Daher wird mit Recht von „charismatischen” Ämtern der Urkirche gesprochen. Das ist kein hölzernes Eisen. Der bevollmächtigte Gesandte Jesu Christi, der Zeuge seiner Auferstehung und der Träger seines Geistes ist es, der die apostolische Vollmacht der Kirchenleitung hat, so in der palästinensischen, so in der paulinischen Kirche.

Hier ist aber noch ein anderes zu bedenken. Das Recht der Urkirche ist nicht rationalisiertes und formalisiertes Recht, es ist nicht geschriebenes, nicht Gesetzes-Recht. Ein autonomes, nur in einer sog. Rechtsidee gegründetes Recht ist dem Neuen Testament vollständig unbekannt. Wir dürfen nicht neuzeitliche Rechtsbegriffe, die stets die rationale Formung und Differenzierung an sich tragen, die die Rechtsideen und -institutionen auf dem Boden der modernen


12) G. Schrenk, Geist und Enthusiasmus, in „Wort und Geist”, Festgabe für Karl Heim, Berlin 1934, S. 85.
12a) Z.B. Kirchenverfassung S. 119: „. . . Das Charisma schafft sich auch Rechte.”

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Kulturentwicklung, besonders seit dem Zeitalter der Aufklärung kennzeichnen, seitdem auch das Recht immer stärker dem Prozeß der Säkularisierung verfiel, in das Neue Testament zurücktragen. Holstein war daher mit seinem Begriff vom „urförmigen” Recht auf dem richtigen Wege, wenn es freilich auch ein solches ebensowohl in der Sphäre der weltlichen Gemeinschaften wie Volk und Staat geben kann wie innerhalb der Kirche, worauf Holstein selbst aufmerksam gemacht hat.13) Das Recht der Urkirche ist für ihn daher ein solches urförmiges Recht, das „in seiner Ordnungsfunktion im Dienste des Pneumas steht”.14) Es ist in der Tat weder Naturrecht noch Recht einer irdisch-geschichtlichen Ordnung, sondern pneumatisches Recht, Recht, das aus Dienst und Liebe göttlichen Ursprunges wächst. Selbst die kybernesis, die Leitung ist Gnadengabe (Röm. 12, 8; 1. Kor. 12, 28). Es gilt nicht nur von der Kirche zu Jerusalem, sondern auch von der Kirche der paulinischen Missionsfelder, was Holl von der ersteren gesagt hat: „Die Kirche ist damit eine irdisch-himmlische Größe zugleich. Sie ist jenseitig in ihren Ursprüngen und reicht doch aufs Bestimmtest in das Greifbare hinein.”15)

Die Funktion, die bestimmte Aufgabe, der konkrete Dienst an der Gesamtkirche oder einer einzelnen Gemeinde ist gewiß nicht Amt im Sinne einer durch Gesetze und Verordnungen genau umrissenen Stellung mit Beamtenrechten und -pflichten, und damit klar von dem unterschieden, was wir heute ein kirchliches Amt nennen, dessen Gestalt nicht nur eine gewaltige innerkirchliche Geschichte, sondern die Rechtsgeschichte überhaupt von Jahrhunderten hinter sich stehen hat. Andererseits ist es durchaus richtig, wenn Holstein von „kontinuierlichen Ordnungen mit bindenden Charakter” spricht.16) Das Entscheidende an den Ämtern der Urkirche ist der Auftrag, der mit der Einsetzung durch Gott (Eph. 4, 11; 1. Kor. 12, 28) oder den heiligen Geist (Apg. 20, 28) gegeben ist. Aus dieser Einsetzung entstehen die Dauer des Amtes und sein Recht. Daß dieses Recht von den Gemeinden in freiem Liebesgehorsam anerkannt wird, „hebt den Charakter des Rechtes als Recht nicht auf”.17) In den Fällen, wo diese Anerkennung nicht stattfindet oder wieder aufgehoben wird, macht Paulus, so in seiner Auseinandersetzung mit den ungehorsamen Korinthern und Galatern, seine apostolische Autorität und sein gottverliehenes Recht mit aller Kraft geltend (1. Kor. 4, 1 ff.; 9, 1 ff.; 2. Kor.; Gal. 1, 1 ff.). Doch darf die klar hervortretende Ordnung der Ämter: Apostel, Propheten, Lehrer, Episkopen oder Vorsteher, Diakonen nicht im Sinne einer statisch-absoluten Hierarchie verstanden werden. Das ist 1. dadurch ausgeschlossen, daß Jesus als der Kyrios der Gemeinde auch der Herr der Ämter ist, dem die


13) Holstein a.a.O. S. 59, 57.
14) Ebenda S. 59.
15) Holl a.a.O. s. 62.
16) Holstein S. 59.
17) Fr. Brundstäd, Die Kirche und ihr Recht, Halle 1935, S. 18. Wir möchten auf diese Schrift nachdrücklich hinweisen, da sie noch keineswegs die ihr gebührende kirchenrechtliche Würdigung gefunden hat.

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Amtsträger verantwortlich sind. Im Gericht wird das Werk der Lehrer geprüft werden (1. Kor. 3, 12 ff.). Diese eschatologische Perspektive schließt jegliches absolute Insichruhen und Aufsichgestelltsein der Ämter aus. 2. aber gilt, daß nicht die Gemeinde den Lehrern, sondern die Lehrer und Apostel der Gemeinde gehören, welche Gottes Tempel ist (1. Kor. 3, 22-23. 16-17). Eben diese Unterordnung der Ämter unter die Gemeinde als den Bau Gottes schließt jede sich isolierende, auf Eigenrecht sich gründende, über die Gemeinde sich erhebende Hierarchie vollständig aus. Das gilt aber nicht nur für die paulinische, sondern auch für die palästinensische Kirche. Es scheint mir daher nicht zutreffend zu sein, wenn Holl für die Kirche von Jerusalem sagt, daß wir in ihr eine „regelrechte Hierarchie” antreffen.18) Richtig ist, daß die Zwölf und Jakobus, unter den ersteren wieder insbesondere Petrus hervorragend, als eine festumschriebene Gruppe zur Leitung befugt sind und dieselbe ausüben, und daß sie durch den Auftrag des Auferstandenen eine einmalige Vollmacht besitzen, die niemandem sonst gegeben ist. Es handelt sich also um wirkliche Kirchenleitung. Aber sie Hierarchie zu nennen, ist äußerst mißverständlich. Der „von niemand zu erreichende göttliche Vorzug”, den diese Männer nach Holl besitzen,19) bezieht sich jedenfalls nur auf ihren besonderen Auftrag. Auch dadurch, daß sie die Urzeugen der Auferstehung Jesu sind (1. Kor. 15, 5 ff.), was sie zu den entscheidenden Trägern der Evangeliumsverkündigung und zu den Bürgen und Wahrheitszeugen aller kirchlichen Überlieferung macht, haben sie wohl einen geschichtlich absolut einmaligen Beruf empfangen, an den auch die anderen Ämter der Kirche nicht heranreichen, und doch bedeutet all dieses nicht eine besondere geistliche Qualität, nicht eine besondere Nähe zu Gott und einen Heilsvorrang, nicht eine besondere Heiligkeit durch das Amt geweihter Menschen, sondern vielmehr allein die Größe des ersten und allerdings für die Kirche grundlegenden Dienstes. Anders hat die Apostelgeschichte nirgends ihr Amt und Tun verstanden. Sie werden gerade nicht hierarchisch über die Gemeinde erhoben. Das gilt auch von der Stellung des Jakobus. Ich kann daher im Gegensatz zu Holl nichts Neues und von der Urgemeinde Verschiedenes darin finden, wenn bei Paulus die Apostel „jetzt nicht mehr als die selbstherrlichen Leiter der Kirche, sondern nur noch als Werkzeuge, als Diener, Verkündiger, Boten Christi erscheinen (1. Kor. 3, 5; 4, 1 ff.; 2. Kor. 5, 20; 6, 4)”.20) Selbstherrliche Leiter der Kirche sind auch die Urapostel und Jakobus zu Jerusalem nie gewesen. Ihr Glaube an Jesus als den Kyrios, der durch den Geist seine Gemeinde leitet, schloß von vornherein und grundsätzlich eine solche Stellung wie das ihr entsprechende Amtsbewußtsein vollständig aus. Das zeigt sich auch darin, das Amt und Gemeinde in der Gemeinschaft und unter der Führung des heiligen Geistes miteinander handeln, nicht aber das Amt absolut über die Gemeinde erhoben ist (Apg. 6, 3 ff.; 15, 22. 28; vgl. 1. Kor. 5, 3). Es gibt in der


18) Holl a.a.O. S. 54.
19) Ebenda.
20) Holl a.a.O. S. 63.

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Urkirche weder einen Primat des Amtes noch einen Primat der Gemeinde, sondern allein einen Prima Jesu Christi, des Herrn der Kirche. Dieser Primat aber erstreckt sich selbstverständlich auch über die sog. „äußeren” Ordnungen der Kirche, über alle ihre Ämter, über alle Dienstleistungen, die in der Kirche geschehen. Es gibt kein Recht in der Urkirche, daß diesem Primat entnommen und nach Maßstäben geordnet werden könnte, die anderen Bereichen entstammen. Es gibt in der Urkirche keine Scheidung von „innen” und „außen”, von pneumatisch und rechtlich. Der Gedanke einer sog. „unsichtbaren” Kirche käme für sie der Preisgabe der Herrschaft Christi über seine Gemeinde und seine Amtsträger gleich.

Damit ist auch der Streit erledigt, den das Luthertum des 19. Jahrhunderts, Harleß, Vilmar u.a., über das Verhältnis von Amt und Gemeinde geführt haben.21) Die Gemeinde ist nicht eher als das Amt und das Amt nicht eher als die Gemeinde. In der Wurzel der Kirche, den Zwölfjüngern Jesu, fällt beides notwendigerweise in eines zusammen. Die Begründung des Amtes allein von der Gemeinde aus ist auf schärfste abzulehnen. Fr. Brunstäd sagt mit Recht: „Das Amt hat seine Vollmacht nicht in dem Willen der Gemeinde, sondern in dem mandatum Christi, im Namen des Herrn.”22) Aber ebensowenig gibt es in der Gemeinde Jesu eine Hierarchie!23) Amt und Gemeinde sind gleichzeitig miteinander da. Das Amt kann es nur in dem Bau der Kirche Gottes geben und weil Gott diese Kirche stiftet.23a) Die Kirche kann es nur geben mit dem Amte und durch das Amt, das die Versöhnung predigt (2. Kor. 5, 18 ff.; Eph. 4, 4 ff., 11 ff.). Amt und Gemeinde handeln zusammen als Kirche, die, um mit Linton zu reden, eine gegliederte, „abgestufte Totalität” ist. „Es beschließen nicht diese oder jene Christen, sondern die Kirche”; es gibt weder eine Sonderexistenz der Gemeinde (plethos) noch eine solche der Amtsträger.24)

Eine Hierarchie ist auch insofern ausgeschlossen, als es keinen streng gegliederten, formalisierten Stufenbau der Ämter gibt, wie ihn etwa ein Staat oder die katholische Kirche aufweist. An dem wichtigen


21) Vgl. z.B. G.Chr. Aldolph von Harleß, Etliche Gewissensfragen hinsichtlich der Lehre von Kirche, Kirchenamt und Kirchenregiment, Stuttgart 1862. Theodosius Harnack, Die Kirche, ihr Amt, ihr Regiment, Nürnberg 1862. Hier schon die richtige Erkenntnis, „daß weder der Kirche eine Priorität vor dem Amt, noch diesem eine solche vor der Kirche zukommt; vielmehr ist das Amt nie ohne Kirche, wie die Kirche nie ohne Amt gewesen” (S. 43). Hierzu vgl. vor allem K.H. Rengstorf, Apostolat und Predigtamt, Stuttgart 1934, S. 54 ff. Theodor Heckel, Adolf von Harleß, München 1933, S. 208 ff. Weitere Literatur bei W. Elert, Morphologie des Luthertums I, München 1931, S. 197, Anm. 2.
22) Fr. Brunstäd a.a.O. s. 23.
23) So auch K.H. Rengstorf a.a.O. s. 58.
23a) Hierzu vgl. H.-D. Wendland, Die Kirche als göttliche Stiftung, Leipzig 1938 (Theologia militans).
24) Linton a.a.O. s. 189 f., 193.

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Amt der Leiter der Ortsgemeinden ist charakteristisch, wie die Bezeichnungen wechseln: Bischof, Hirte, Ältester, Vorsteher oder Leiter. Fest stehen die drei charismatischen Ämter der Apostel, Propheten und Lehrer, sodann das Leiteramt unter den verschiedenen Namen, das schon in frühester Zeit vorhanden ist und vom Neuen Testament einfach vorausgesetzt wird (Apg. 11, 30; 14, 23), weswegen auch seine Entstehung weithin im Dunkeln liegt. Wenn das Amt der Bischöfe und Hirten an die Ortsgemeinde gebunden ist, so bedeutet dies keineswegs einen Gegensatz zu den drei obengenannten „Kirchenämtern”. Jede Gemeinde ist Kirche, Ekklesia Gottes im vollen Sinne mit allen ihren Gütern und Gaben, und darum ist auch das Amt des Aufsehers oder Fürsorgers der Gemeinde ein Amt der Kirche. Es ist zudem charismatisch so gut wie die anderen — nur daß Art des Charisma und Dienstleistung andere sind — und keineswegs bloß aus äußerlich-zufälligen Bedürfnissen der „Organisation” entstanden. So wenig wir von einem überall durchgeführten Schematismus einer Ämterordnung in den urchristlichen Gemeinden sprechen können, eine klare Grundordnung hebt sich doch aus der Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit freiwilliger Dienstleistungen schon in allerfrühester Zeit heraus, so gewiß es auch weiterhin in aller Fülle neben den genannten Hauptämtern die freien Dienste von Fall zu Fall oder auch auf kürzere Zeit gegeben haben wird, je nachdem Arbeits- und Ordnungsnotwendigkeiten in den Gemeinden auftraten. Es ist kein Zweifel, daß das Apostelamt als das erste und höchste der Ansatz- und Ausgangspunkt für diese Ämterordnung gewesen ist. Nach der wichtigen Bemerkung Apg. 14, 23 haben die missionierenden Apostel in den Missionskirchen Presbyter, die mit den Bischöfen = Gemeindeleitern identisch sind (vgl. Apg. 20, 17 und 28), in jeder einzelnen Gemeinde eingesetzt. Es ist klar, daß diese Einsetzung durch die Apostel keineswegs jenen Aussagen widerspricht, wonach die Gemeindeleiter durch Gott oder den Heiligen Geist eingesetzt werden (vgl. Apg. 20, 28; Röm. 12, 8; 1. Kor. 12, 28; Eph. 4, 11), da die Apostel im Namen und im Auftrage Jesu Christi und als Träger des Gottesgeistes handeln, wie denn alles Wirken Gottes in der Kirche nach dem Neuen Testament dadurch geschieht, daß er Menschen beruft und erleuchtet und zu seinen Werkzeugen macht. Weil die Apostel die einzigen von Christus direkt selber berufenen Amtsträger sind, wobei wir sowohl an die geschichtliche Berufung der Zwölf wie an die Neukonstituierung ihres Auftrages durch die Auferstehungserscheinungen zu denken haben, wird von ihnen auch die weitere Ordnung der Kirche geleitet. Von ihnen geht, wie Bauernfeind sagt, „zentripetale Macht” aus.25) Auch wenn die „Sieben” vorher die Leitung eines besonderen hellenistischen Kreises dargestellt haben sollten, bedeutet Apg. 6 doch jedenfalls, daß sie nun von den Aposteln durch die Handauflegung die Anerkennung ihres Amtes und ihre Beauftragung empfangen (6, 6). Hierin drückt sich die Tatsache aus, daß die


25) Otto Bauernfeind, Zeitschrift f. systemat. Theologie XIV, 3, 1937, S. 472.

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Gemeinde apostolische Gemeinde und in der Tat auf dem Grunde der Apostel errichtet ist (Eph. 2, 20). Wenn es sich aber nach der Annahme von W. Brandt in Apg. 6 um die „Bestellung eines Presbyteriats, die uns das Vorhandensein der Presbyter in den Gemeinden der Apostelgeschichte erklärt”,26) handeln sollte, so wäre dieser Tatbestand, daß die Ordnung des neuen Amtes von den Aposteln ausgeht, noch weit deutlicher und greifbarer. Das apostolische Amt sammelt und verbindet zur Gemeinde, ebenso aber beaufsichtigt es die Ordnung der Gemeinde und ihre Versorgung mit allem, wessen sie bedarf.

Während wir zunächst im wesentlichen mit Tatbestanden aus den paulinischen Missionsgemeinden argumentiert haben, sind wir zuletzt schon auf Verhältnisse in der palästinensischen Urkirche geführt worden. Es ist von außerordentlicher Bedeutung, daß die Urkirche schon vor Paulus eine feste, bestimmte Ordnung und Verfassung zeigt. Die „Säulen” zu Jerusalem und der weitere Kreis der Apostel haben die Stellung einer autoritativen Kirchenleitung inne, die auch Paulus trotz seines Ringens um die Freiheit der Heidenchristen vom jüdischen Gesetz bis zum Ende seines Lebens nicht antastet. Jerusalem selbst ist leitender Vorort der Gesamtkirche, was wiederum Paulus durch das Kollektenwerk seiner Missionskirchen anerkennt, die er in festen geistlichen Zusammenhang mit der ältesten Mutterkirche setzt. Die Kollekte für Jerusalem ist weder nur eine Liebesgabe für Arme, ein Hilfswerk infolge besonderer in Jerusalem aufgetretener Not noch auch andererseits bloß eine Kirchensteuer im heutigen Sinne, zu der eine rechtliche Verpflichtung bestünde, sondern wirklich das, was Paulus davon sagt: eine Charis, Leitourgia und Diakonia, ein Opferdienst der Liebe, zu dem Gott die Kraft und die Gnade und den Segen gibt, eine pneumatische Handlung, welche die Einheit der Kirche praktisch bezeugt und den geistlichen Vorrang der Mutterkirche anerkennt. Denn Jerusalem hat als Ursprung der pneumatischen Gaben, die zu den neuen Missionsgemeinden gekommen sind, Anspruch auf den Gegendienst dieser, der nur in irdischen Gütern in Erscheinung tritt, und dieser Gegendienst ist doch zugleich das Zeugnis brüderlicher Gemeinschaft (2. Kor. 8-9; Röm. 15, 26 ff.). Jerusalem übt das Aufsichtsrecht, teils durch die Apostel, teils durch andere Beauftragte wie z.B. Barnabas oder die Apg. 11, 27 genannten Propheten (vgl. Apg. 8, 14; 9, 23; 11, 12; 15, 22; Gal. 2, 11 f.). „Autonome”, von einer Kirchenleitung unabhängige Gemeinden hat es in der Urkirche nicht gegeben. Die Gemeinde-Autonomie ist eine Vorstellung des Gesellschaftsdenkens des 18. und 19. Jahrhunderts, die zu Unrecht in die theologische Geschichtsschreibung eingedrungen ist. Mit Recht hat Linton betont, daß eine Missionskirche keine autonomen Gemeinden kennt;27) die jungen Gemeinden bedürfen in allem der Anleitung und Führung. Die heutige Missionserfahrung bestätigt diese


26) W. Brandt a.a.O. S. 164. Vergl. H.W. Beyer, Die Apostelgeschichte, im „Neuen Testament Deutsch” 5, 2. Aufl., Göttingen 1935, S. 43 f.
27) a.a.O. S. 198.

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Behauptung. Wenn wir mit diesen Sätzen dem Hollschen Bilde von der Urgemeinde gefolgt sind, so darf man doch die Gemeinden außerhalb Jerusalems wie z.B. Antiochien nicht einfach nur, wie Holl will, als „Ableger der einen Gemeinde” ansehen.28) Jede Gemeinde ist vielmehr Ekklesia wie die Urgemeinde selber, und diese selbständige Würde, ihr pneumatischer Charakter, wird durch die Abhängigkeit von dieser in keiner Weise aufgehoben. Es ist das eigentümliche Verhältnis freier Gebundenheit, das hier obwaltet, und es entspringt daraus, daß die Gemeinden, ins Leben gerufen durch das göttliche Wort des Evangeliums, die Stiftung geschichtlicher Offenbarung sind, die in menschlicher Vermittlung und geschichtlicher Abfolge doch paradoxerweise das Werk Gottes und des lebendigen erhöhten Christus sind, so daß Abhängigkeit von Jerusalem oder den Uraposteln niemals das bedeuten kann, was die Abhängigkeit einer Kolonie vom Mutterlande oder einer Zweigorganisation von der Zentrale besagt.

Wir kommen zu dem Ergebnis,29) daß sich der Leitsatz, von dem wir ausgegangen waren, in der näheren Entfaltung durchaus bestätigt hat. Wir haben in der Urkirche von Anfang an gottgesetztes Kirchenrecht, pneumatisch begründete und von der Einheit der Liebe und Bruderschaft umfangene, durchdrungene Ordnung, in welcher einzelne Ämter besondere Dienstleistungen verrichten, die auch ihrerseits auf göttliche Stiftung und Einsetzung und pneumatische Gaben zurückgehen. Dieses in der Sphäre des Pneuma lebende Recht ist vom profanen wie vom kultischen Recht zu unterscheiden. Es regelt nicht wie das letztere das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, es vergöttlicht nicht menschliche Einrichtungen und Traditionen. Es lebt nicht aus Rechtsideen, wie sie uns im Raume der kreatürlich-geschichtlichen Gemeinschaften entgegentreten. Es fließt vielmehr aus der vom Evangelium der Gnade eröffneten Freiheit des offenen Zuganges zu Gott und hilft, den Leib Christi in der realen Gemeinschaft glaubender Christen zu verwirklichen. Es ist das Recht der Dienste und der Liebe, das Recht des göttlichen Auftrages der Kirche, die der Ordnung, der Führung, des Gehorsams und der Verwaltung bedarf, um Kirche sein zu können, nämlich der Bau und Tempel Gottes, der Leib Christi in vielen Gliedern, in dem der Gott der Gerechtigkeit und des Friedens Wohnung nimmt, um so die Wirklichkeit einer neuen pneumatisch-geschichtlichen, himmlisch-irdischen, ewig-zeitlichen Gemeinschaft zu stiften.


28) Holl a.a.O. S. 56.
29) Demjenigen, die dies Ergebnis zu einheitlich finden, sei gesagt, daß über der lebendigen Vielfalt von Formen nicht die theologische Fragestellung nach dem einheitlich begründeten Ursprunge von Ämtern und Ordnungen in der göttlichen Stiftung der Kirche vernachlässigt werden darf. Von Christus her wird solche Einheit sichtbar.