Dombois, H.

Zur Revision des Kirchengeschichtsbildes

Genre: Literatuur

1957

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Zur Revision des Kirchengeschichtsbildes

 

Nach dem Kriege war in Deutschland „Revision des Geschichtsbildes” ein viel gebrauchtes Wort und eine ernsthafte Aufgabe. Sie bedeutet zweierlei: die notwendige Auseinandersetzung mit geschichtlichen Erfahrungen, die aus Irrwegen entstanden waren, und die Aufdeckung ihrer Ursachen, zugleich aber die Abwehr des Versuchs, durch Vereinfachung wie durch ideologische Fälschungen unserem Volke das geschichtliche Eigenbewußtsein zu zerstören. Die ständige Bemühung um die Wertung von Personen und Ereignissen zeigt, in wie hohem Maße das Geschichtsbild gemeinschaftsbildend und wie lebenswichtig es darum ist. Auch zwischen den großen Teilkirchen ist seit Jahrzehnten eine  solche Revision des Geschichtsbildes im Gange. Die tatsächliche wechselseitige Kenntnis ist nach wie vor nicht sehr groß. Katholische Theologieprofessoren kennen die Bekenntnisschriften oft ebensowenig wie evangelische das kanonische Recht. Die wirklichen Verhältnisse, Beweggründe und Gedankenrichtungen sind ziemlich unbekannt. Festgeprägte Vorstellungen beherrschen das Feld. Im Zeitalter des Verkehrs rücken die Menschen einander ferner. Nur die Oberfläche wird bekannter: das braucht nicht ohne Wert zu sein.

Immerhin sind die Zeiten vorbei, in denen man etwa von katholischer Seite meinte, die große geschichtliche Bewegung der Reformation auf psychologische Eigenarten oder gar auf psychopathologische Erscheinungen in Luthers Persönlichkeit zurückführen oder doch in wesentliche Punkten erklären zu können. Unzweifelhaft bedeutet das bekannte Werk von

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Lortz über die Reformation einen Einschnitt in dieser Entwicklung. Ich wage nicht, diejenigen Punkte zu bezeichnen, in denen sich das Bild des Katholizismus bei uns berichtigt hat. Das beiderseitige Gespräch aber, dessen Stand hier niet erörtert werden soll, findet doch immer mehr oder weniger bald seine Grenze an den Grundpositionen, auch wenn die Abgrenzungen etwas anders liegen, als gemeinhin angenommen wurde. Und selbst wenn sich zeigt, daß die Quellpunkte auf der Höhe der Geschichte nicht allzu weit voneinander entfernt liegen, so sind doch die Ströme später in völlig verschiedene Richtungen gegangen und nicht zurückzuholen. Der Gegenstand, den wir so in den Blick nehmen, ist von vornherein ein geteilter, und so kann auch nichts anderes als eine Teilung wieder herauskommen.

Aber die Einheit der Kirche ist nicht nur eine endzeitliche oder innerlich-geistige Größe. Sie gehört im eminenten Sinn der sichtbaren, realen Geschichte an. In der Entstehung der bekenntnismäßig und kontroverstheologisch abgegrenzten Teilkirchen liegt eine schwer zu vermeidende Versuchung zu einem idealistischen Mißverständnis. Die Summe der streitigen theologischen Aussagen muß mit einer gewissen Notwendigkeit auf einen Gesamtnenner, ein Erkenntnisprinzip, einen „Ansatz”, einen zentralen Ausgangspunkt zurückgeführt werden, um nicht in einer Anhäufung von Einzelpositionen zu verlaufen. So wird leicht die konkrete Kirche zur Entfaltung eines theologischen Prinzips. Alles zeigt in dieser Art der Betrachtung den jeweiligen Stempel dieses Prinzips, und was dem widerspricht oder auch nur zu widersprechen scheint, wird aus der Betrachtung ausgeschieden.

Ein völlig anderes Bild bietet sich sofort, wenn man nicht vom Bekenntnisstande, dem theologischen System oder einem sonstigen Selbstverständnis ausgeht, sondern eine Wendung zur Betrachtung genuiner Lebensäußerungen der Kirche nimmt — zur Geschichte der Liturgie, des Kirchenrechts, des Dogmas, aber auch der Ordens- und Gemeinschaftsbildung, der kirchlichen Kunst usw. Das Gemeinte wird aus der Durchführung sichtbar werden. Mit der Reihenfolge ist keine sachliche Wertung im Sinne eines Systems gemeint.

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1. Die Liturgie. In ihrer Konkretheit bietet sie naturgemäß besonders deutliche Vergleichsmöglichkeiten. In den Anfängen der liturgischen Bewegung hat das bekannte Buch von Graff eine besondere Rolle gespielt. Der von ihm beschriebene Vorgang des Zerfalls der gottesdienstlichen Formen hat unbestreitbar im Protestantismus stattgefunden. So konnte die Vorstellung entstehen, es habe dieser Zerfall an ein klassisches Zeitalter oder doch wenigstens eine klassische Konzeption der Reformation angeschlossen. Dieser Ausgangspunkt war freilich schon zweifelhaft: in der Geschichte sind noch so gute und richtige Konzeptionen kein Ersatz für ihre verbindliche Verwirklichung. Diese Meinung schien die römische Kritik zu bestätigen, daß der Protestantismus auch erkannte Wahrheiten, die christliche Substanz in seiner Lebensformen zu bewahren außerstande sei. Der weitergefaßte Zusammenhang der Liturgiegeschichte im Ganzen ergibt jedoch ein völlig anderes Bild.

Der Jesuit J.A. Jungmann sagt in seinem Standardwerk „Missarum solemnia” mit dürren Worten, daß das Hochmittelalter bereits eine Zeit des Verfalls der Liturgie ist und gebracht das Wort „vom Herbst des Mittelalters”. Der Grund liegt in dem Zerfall des altkirchlichen Gemeinschaftscharakters der Messe; Jungmann beschreibt diesen Zerfall ausführlich, wie ihn etwa der französische Dominikaner Congar anderwärts kritisiert. Er setzt spätestens vom 13. Jahrhundert ab ein, in der Scholastik, im Zentrum der römischen Kirche, auf dem Höhepunkt ihrer Wirksamkeit, nicht erst im müden 15. Jahrhundert vergeblicher Reformversuche. Entscheidend ist das Eindringen kausaler Vorstellungen in das Verständnis des sakramentalen Geschehens, die Umdeutung des Mysteriums in das definierte sacramentum. Das Subjekt-Objekt-Schema — operari sequitur esse — reißt den Vollzieher des priesterlichen Werks und den Empfänger desselben auseinander. Der einzelne Priester kraft seines sakramentalen esse vollzieht dieses opus, welches dem Gläubigen zugewendet und von ihm im Glauben zugeeignet wird. Diese scholastische Grundkonzeption wirkt bis heute nach; sie zerstört den inneren Aufbau der Messe als progressiver,

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bestimmt aufgebauter Gemeinschaftshandlung. Gegen dieses Messeverständnis, das der alten und griechischen Kirche fremd war und ist, sind die Reformatoren mit Recht aufgetreten. Luther (Torgauer Predigt), Melanchthon (Apologie) haben die Doppelschichtigkeit und Wechselbezüglichkeit von Verkündigung und Anbetung, von sacramentum und sacrificium hervorgehoben, wie sie heute wieder Peter Brunner in der Lehre vom Gottesdienst herausgearbeitet hat. Aber diese Grunderkenntnis hat in der Reformation nicht zu einer Wiederherstellung einer gereinigten Meßliturgie geführt. Rudolf Stählin mußte in unseren Tagen feststellen, daß die Reformation den intendierten Anschluß an die liturgische Tradition der alten Kirche nicht gefunden hat. Man hat im Gegenteil aus dem alten noch stehenden, aber mißbrauchten Gebäude das herausgebrochen, was man für theologisch untragbar hielt, und hat auf lutherischer Seite das Übrige stehengelassen, während man auf calvinischer Seite das Gebäude überhaupt zerstört hat. Das Luthertum behielt auf diese Weise einen beträchtliche Traditionsbestand, der ihm heute neues liturgisches Leben ermöglicht, welches im Calvinismus den Hemmungen der Tradition unterliegt. Von einer umfassenden und grundsätzlichen Neubildung kann ernstlich nicht die Rede sein. Das geistliche Amt wurde in der Folge immer einseitiger als Predigtamt verstanden, wenn auch jener Abbau sehr lange Zeiten benötigt hat. Schließlich erschien die lehrhaft verstandene Verkündigung überhaupt als das einzige Legitime und Notwendige. Jene grundsätzlich richtigen Erkenntnisse sind weder durchgängig festgehalten worden, noch wurden sie die Grundlage einer großen Gestaltung. Es ist bedrängend, in welchem Maße man sich in der historischen Moderne mit der Entdeckung von Erkenntnissen der Reformation zufrieden gibt, ohne nach ihrer geschichtlichen Verwirklichung zu fragen. Was gedacht wird, ist schon wirklich. Ohne Zweifel hat die Liturgie mit ihrer klassischen Gestalt ihr Gewicht verloren. Der Zerfall ist jedoch ein Geschehen in der ganzen abendländischen Kirche, in der sie zunächst unter Wandlung des Verständnisses konservativ bewahrt, dann mehr oder weniger preisgegeben wird. Die Triebkraft, das

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Gesamtverständnis sind entscheidend geschwächt oder verlorengegangen.

Die Reformation ist also liturgiegeschichtlich kein neuer Anfang, sondern ein Abschnitt vor dem vorläufigen Ende. Auch in der gegenwärtigen römischen Kirche wird das scholastisch umgedeutete altkirchliche Erbe höchstens bewahrt; es wird überdeckt von katholischem Pietismus, Herz-Jesu-Frömmigkeit und Marianismus. Die liturgische Bewegung wird nicht wie im Protestantismus von vornherein bekämpft, sondern sorgfältig begrenzt und unschädlich gemacht, weil ihre „evangelisierenden Neigungen” zu höchst unerwünschten kirchenrechtlichen Folgerungen führen könnten, sobald die Concelebration der Gemeinde im altkirchlichen Sinne sich durchsetzen würde.

2. Das Kirchenrecht. Infolge der engsten Beziehung von Liturgie und Kirchenrecht spielt sich dieselbe Entwicklung auf dem Gebiet des Kirchenrechts ab. Das heute noch geltende Rechtssystem der römischen Kirche ist auf dem II., III., IV. (1139, 1179, 1215) Laterankonzil grundgelegt worden, und wurde im Vatikanum nur vollendet. Es beruht auf der Vernichtung des Rechtes der alten Kirche unter weitgehender Bewahrung der äußeren Formen. Zunächst wird das Bischofswahlrecht der Gemeinden beseitigt (für Rom nach vergeblichen Versuchen im Jahre 1059 erst 1179), dann wird in jahrhundertelangen Kämpfen das Recht der ökumenischen Bischofsgemeinschaft beseitigt und die unumschränkte Souveränität des Papsttums aufgerichtet. Alles dies war erst möglich, nachdem das Gottesdienstverständnis der alten Kirche, das mysterium im Schoß der Gemeinschaft von Bischof und Gemeinde in das sakramentale opus des Priesters verwandelt worden war.

Dieses Rechtssystem ist eine spiritualistische Konzeption — gerade in seiner sichtbaren Massivität. Unbestreitbar war die Kirche vom 9. bis 11. Jahrhundert in eine unerträgliche Abhängigkeit von den weltlichen Gewalten geraten. Gegen diese Abhängigkeit suchte die Kirche gerade ihren geistlichen Charakter durch die scharfe Begrenzung auf den geweihten Klerus als einziges Subjekt der Kirchengewalt zu sichern. Da

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jedermann Christ was, war der Laie gleichbedeutend mit der Welt. Deshalb „alles für das Laienvolk, nichts durch es”. Diese radikale spiritualistische Trennung von Innen und Außen verdeckt gerade den Übergangs- und Kompromißcharakter des Systems. Denn neben die Absolutsetzung der ordo (absolute statt bisher relative Ordination, character indelebilis statt delebilis) treten nunmehr funktionale, zweckhafte Rechtsformen, Kirchenbeamte ohne Weihe, bischöfliche Offiziale usw. Die Hierarchie wurde mehr und mehr mit ihrer liturgischen Einordnung zugleich der verfassungsmäßigen Rechte entkleidet. Metropoliten und Patriarchen wurden bloße Ehrentitel ohne rechtliche Bedeutung und traten gegenüber dem Kardinalskollegium, einer neuen Rechtsform zurück. Die Hierarchie der Weihe und die funktionale Amtsformen liegen in diesem System bis in die Gegenwart in Widerstreit miteinander. Der kunstvolle Ausgleich dieser Elemente entspricht ganz dem Kompromißcharakter der Scholastik. Aus der Transzendenz des Mysteriums wird eine metaphysische Ontologie; aus der Eschatologie eine rationale Theologie, ein Zwecksystem dem Heile dienender Veranstaltungen. So stehen sich auch im Kirchenrecht der verhärtete, seines pneumatischen Rechts entkleidete ordo und die funktionale Organisation gegenüber. Die Protestanten aber halten dies für ein fugenloses, konsequentes Gebäude und nehmen aus Unkenntnis die römische These an, daß dies die Entfaltung des in der frühen Kirchen ansetzenden Kirchenrechts sei!

In der Reformation lebte ein Bewußtseinsrest von dem pneumatischen Recht der alten Kirche und der Tatsache, daß dieses Recht erst zu Beginn des zweiten Jahrtausends vernichtet worden war. K.D. Schmidt hat mir von Äußerungen Luthers darüber berichtet. Auch in späteren Kirchenrechtslehrbüchern bis hin zu Boehmer d.J. (18. Jhdt.) findet man noch Hinweise darauf. Aber ein wirklicher Rückgriff auf das Recht der alten Kirche ist nicht vollzogen worden und nicht gelungen. Die kirchenrechtliche Väterzitate in den Bekenntnisschriften machen bei näherer Betrachtung deutlich, daß eine zulängliche Vorstellung von diesem Rechte nicht mehr vorhanden war. Dazu war die Tradition in vier Jahrhunderten schon

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zu gründlich verschüttet. Der bloße Hinweis darauf, daß die Kirche Auftrag erhalten habe, Presbyter und Diakone zu wählen, genügt dazu nicht. Die Übernahme der Begriffe Jurisdiktion und Ordination in den Bekenntnisschriften vollzieht sich schon in einem sehr eingeschränkten Verständnis und trägt positivistische Züge. Sie sind auch nicht in ihrer eigentlichen Bedeutung festgehalten und durchgebildet worden. Auch auf dem Gebiet des Kirchenrechts ist das Urteil gerechtfertigt, daß die Reformation den intendierten Anschluß an die Alte Kirche nicht gefunden hat. Im konkreten Kirchenrecht wurde die spiritualistische Konzeption der Scholastik in eine nicht weniger spirituale Gegenkonzeption umgekehrt. Jetzt trat die Geistwirkung des Wortes, die Innerlichkeit des Glaubens gegen die Äußerlichkeit der Ordnung, der Gewalt — „non vi sed verbo”. Luther selbst lehnte es etwa ab, auf Grund der Ergebnisse der kursächsischen Visitation bestimmte Dinge zu fordern, weil er nicht „wie ein Papst Gesetze geben wolle”. Aber der landesherrlichen Kirchenpolizei wird es unbedenklich anheimgegeben, die etwa Widerstrebenden aus dem Lande zu treiben und die „äußere” Kultuseinheit des Territoriums zu wahren. Noch kein Lutheraner hat es bis heute gewagt, diesen skandalösen Tatbestand in seiner ganzen Grundsätzlichkeit darzulegen und zu kritisieren. Was die römische Kirche durch Machtmißbrauch gesündigt hat, das taten die Lutheraner durch Machtverneinung, durch die sie zugleich dem allmächtigen Staat die Wege bereiteten. Heckel spricht in seinen „Initia iuris ecclesiastici Protestantium” von der „kraftvollen Bewegtheit”, die dem lutherischen Kirchenbegriff aus der Spannung zwischen ecclesia abscondita vere credentium und ecclesia permixta universalis erwachse. Diese kraftvolle Spannung hat die Kirche in den festen Schlaf und die unwürdige Abhängigkeit des fürstlichen Landeskirchentums geführt, ohne daß irgendwo vom Bekenntnis her Widerspruch erhoben worden wäre. Rudolf Sohm, der weniger oft gelesen als zitiert wird, hat schmerzhaft erkannt, daß das protestantische Kirchenrecht sich aus dem Bereich des körperschaftsrechtlichen Denkens nicht zu entfernen vermochte und damit

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in der Antithese zum scholastischen System steckengeblieben ist. Ohne sein Zutun von den Fesseln des Staates befreit, steht erst jetzt der Protestantismus wieder vor der Frage eines eigenständigen Kirchenrechts. Es ist freilich nichts damit getan, daß man bei Übernahme der scholastischen Objektivationen „ius divinum” und „ius humanum” durch Einschränkung des Bereichs des ius divinum den Schaden möglichst klein hält.

Die Reformation ist also auch im Kirchenrecht nicht der Ausgangspunkt entscheidender Neubildungen, sondern eine antithetische Umkehrung und eine letzte Epoche, die der Überfremdung des Kirchenrechts durch die Rechtsformen des Politischen erst recht die Tür öffnet.

3. Das Dogma. In der Dogmatik stehen begreiflicherweise bis heute zwischen den großen Teilkirchen die Unterscheidungslehren der Kontroverstheologie. Es mag dahinstehen, wie weit sie die wirklichen Gegensätze heute noch zulänglich bezeichnen. Schauen wir aber auf den Vorgang der Dogmenbildung selbst, d.h. Fähigkeit und Übung der Kirche, sich durch bestimmte verbindliche Lehren von der Welt zu scheiden. In den großen Dogmengeschichten von Harnack und Seeberg bildet die Reformation das Ende. In der Tat! Mit der Vollendung der Lehrsysteme aller drei Teilkirchen bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts war der Vorgang der Konfessionalisierung abgeschlossen. Das bedeutete schon von vornherein eine bedenkliche und folgenschwere Rationalisierung aller Kirchen. Im theologischen Jahrhundert von 1550 bis 1650 war jedermann Theologe — weit über die echten Möglichkeiten der Urteilsbildung hinaus. Dann aber tritt in der Dogmenbildung eine Pause ein, bis zuerst die römische Kirche sie 1854 mit der Dogmatisierung der immaculata conceptio wieder aufnimmt. Im Protestantismus erhebt sich zum erstenmal wieder Barmen 1934 zu dogmatischer Entscheidungskraft. Es ist begreiflich, daß man auf dem schmalen Boden erstmalig wiedergewonnener unzweifelhafter Geschichtlichkeit versucht, einen theologischen Wolkenkratzer zu errichten, mehr als der Boden trägt, und zu einer Überbewertung des Vorgangs kommt. Aber jedenfalls war

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zunächst für zwei bis dreihundert Jahre überall die Dogmenbildung zur Ruhe gegangen. Auch hier steht die Reformation kurz vor dem Ende; sie ist nicht der Vollstrecker eines eschatologischen Urteils über Abfall und Fehlwege, sondern der Anfang einer letzten Epoche der Entwicklung, zu der sie selbst untrennbar gehört. Sie vollstreckt die Kritik des Nominalismus an den erkenntnistheoretischen Unmöglichkeit des scholastischen Idealismus, aber sie durchbricht nicht das Schema von Position und Negation im mittelalterlichen Universalienstreit. Eben darum ist sie recht eigentlich eine unvollendete geblieben, statt sich mit der Unwiderstehlichkeit einer schlechthin gültigen Lösung durchzusetzen.

So hat auch die Reformation nicht nur die römische Kirche — zu Nietzsches Zorn — vor der Verweltlichung gerettet, sondern zugleich selbst die Kräfte erzeugt, die ihrer eigenen Durchsetzung entgegenstanden.

In ähnlicher Weise erzeugt auch in der säkularen Moderne nicht nur der Idealismus im Umschlag den Materialismus, sondern dessen Ausbildung führt zugleich zu einer Wiederbelebung eines Idealismus, mag er noch so absolut erscheinen.

Ernst Wolf hat gezeigt, daß gerade durch die lutherische Reformation der Bekenntnisbegriff im lehrmäßigen Sinne eine bis dahin nicht bekannte Bedeutung erlangt hat. Nachdem die personale Gemeinschaft der Kirche zerbrochen war, mußte man sich um so mehr auf die Einheitlichkeit der theologischen Ansätze stützen. Das bedeutete eine wesentliche Strukturveränderung. Ganz gegen ihren Willen hat die Reformation die Konfessionalisierung der ganzen Kirchen hervorgerufen und damit zugleich einen Auseinanderfall von personaler und Lehrtradition. Eine paradoxe Lage für eine Theologie, die den personalen Charakter theologischer Entscheidung so grundsätzlich herausstellt! Vielleicht ist das auch gerade der Ausgleich für die eingetretene Versachlichung. Das Verhältnis von Person und Lehre ist jedenfalls seither nie wieder ins Gleichgewicht gekommen.

4. Ein weniger zentraler, aber höchst symptomatischer Bereich ist die kirchliche Gemeinschaftsbildung. Ihre morphologische

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Entwicklung ist aufschlußreich. Denn die Großkirche mit ihrem schweren Gefüge kann sich nie vollständig wandeln, nicht von neuem anfangen. Die Kleinkirche besonderer Lebensgemeinschaften dagegen entsteht in immer neuen Ansätzen, und zwar dann jeweils ohne geschichtliche Vorbelastung in den typischen Formen ihrer Zeit. So stellt der benediktinische Abt auf Lebenszeit mit Bischofsrang einen durchaus altkirchlich-personalen Amtstypus dar. Die großen Reformorden folgen noch diesem Stil. Mit den Bettelorden jedoch tritt eine neue bürgerlich-spirituale Form auf: auf Zeit gewählte Obere, die als solche keinen ordo und keinen Rang haben: eine rein funktionale Form. Während aber der Amtsträger so bewußt entmachtet wird, behalten die Ordensglieder ihre Mitgliedschaftsrechte in der vita communis. Erst der Jesuitenorden setzt diese Funktionalisierung fort und steigert sie zur vollen Rationalisierung. Amt und Mitgliedschaft sind dort unter Aufhebung der stabilitas, unter Einschränkung des gemeinsamen Lebens völlig auf den Zweck gestellt; auch die Mitgliedschaft kann aus solchen Gründen aufgehoben werden. Der Rigorismus dieses Verfassungsstils erinnert an die gleichzeitigen calvinischen Bildungen; Jesuitismus und Calvinismus sind ja auch die Träger der großen weltgeschichtlichen Glaubenskämpfe weit mehr gewesen als das friedlich-machtfremde Luthertum. Wie ich schon früher ausgeführt habe (Über den gesamtkichlichen Sinn ev. Orden, Ev. Jahresbriefe 1950/51, Heft 4) war der Jesuitenorden die letzte Ordensbildung von allgemein-kirchengeschichtichem Rang. Was danach kam, hat keine wesentliche Bedeutung mehr erlangt und trägt nur noch partikularen Charakter.

Aber wie geht die Geschichte der Gemeinschaftsbildung weiter? Die Reformation hat trotz aller Ablehnung der Möncherei die Orden nicht schlechthin vernichten, sondern auch sie reformieren wollen. Dazu aber finden sich — Ausgrabungen vorbehalten — keine nennenswerten Ansätze. An die Stelle dessen tritt die Exklusivität der parochialen Predigtgemeinde, welche für Gemeinschaftsbildungen keinen Platz hat. Die besonderen Gemeinschaften der Anbetung, des Liebesdienstes und der Mission waren dennoch nicht zu

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entbehren und der Trieb zu ihrer Bildung ist nicht zu töten, solange die Kirche lebt. Deshalb kamen sie wieder, aber nun als abseitige Bildungen, neben oder gegen die Kirche, in spiritualer Formlosigkeit oder in ungeistlichen Rechtsformen des bürgerlichen Rechts als Missionsvereine und Diakonievereine usw. Erst in der Gegenwart ist das Problem der kirchlichen und kirchenrechtlichen Einordnung der Werke und Verbände wieder aufgetreten, welche an ihren ungeistlichen Strukturformen und dem Fehlen eines rechten Platzes im Gefüge der Kirche innerlich leiden. Die Gestaltungskraft hat sich also in einer strengen Verengung und Vereinseitigung erschöpft, die allmählich immer weniger verstehen kann, daß es in der Kirche verschiedene dienende Gliederungen geben kann. Das Pathos engerer brüderlicher Verbundenheit steht gegen den Verdacht der Absonderung und Schwärmerei. Die protestantische Großkirche dagegen setzt in ihrem Verfassungsstil die Tradition der spiritualen Bettelorden fort, — funktionale Amtsträger ohne ordo unter Wahrung der gemeindlichen Mitgliedschaftsrechte.

5. Betrachten wir als Letztes die kirchliche Kunst als Form der Verehrung wie gleichzeitig als Selbstzeugnis. Die Kunsthistoriker stellen heute den Theologen die Frage, was es mit dem Ende der stilbildenden Kraft der kirchlichen Kunst etwa Mitte des 18. Jahrhunderts auf sich habe. Auch hier war der Protestantismus kein Ende, aber der Anfang einer Endperiode. Er hat relativ wenig konstruktiv-architektonische Gestaltungen hervorgebracht (nur teil Teil des Barockbaus ist ihm zuzurechnen), aber im Kirchengesang und des großen Instrumentalmusik eine hervorragend spirituale, vom Körperlichen losgelöste, immer wiederholbare, funktionale Kunst auf den Gipfel Bachs geführt.

Das Absterben von Liturgie, Kirchenrecht, Dogma, Gemeinschaftsbildung, Kunst in einer Reihenfolge ist deutlich. Die Kirche ist deshalb nicht gestorben. Sie bleibt bis an das Ende der Tage und ist kein unfruchtbarer ewiger Jude. Aber sie hat merkwürdige Schwankungen durchgemacht. Sie war im 9. und 10. Jahrhundert ein Spielball weltlicher Mächte, im 12. und 13. eine weltumspannende, fast totalitäre Macht, im

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14. und 15. ein Chaos, im 16. und 17. neu im Angriff. In Goethes Zeit glaubte man nicht mehr, daß es noch zu einer Papstwahl kommen würde. In beiden Teilkirchen breiteten sich Aufklärung und Idealismus unwiderstehlich und lähmend aus. Im 19. erwachte die Kirche im Zuge der weltlichen Bewegung zur Verselbständigung aller Lebensbereiche zu neuem Leben und neuem Selbstbewußsein und steht noch heute in der Bewegung dieses ebenso geistigen wie äußeren Aufstiegs. Aber weder das unfehlbare Papsttum und die vollendete rechtliche Ordnung noch die reine Lehre Luthers und das Bekenntnis haben die Kirchen davon bewahrt, Spielball fremder Geistesmächte zu werden. Aber keine von diesen hat sie umgebracht. Was der Heilige Geist durch die Epochen der Geschichte in der Kirche tut, und was menschliche Bemühung im Gehorsam des Glaubens tut, ist offenbar völlig unvergleichbar. Aber umgekehrt ist ebenso klar, daß sich auch die Bewahrung der Kirche und ihr Wiedererwachen eben durch und nicht ohne unser fleißiges und eifriges Tun vollzieht. Keine Sicherung hält den Geist fest; aber das Ernstnehmen von Gottesdienst, Lehre und Ordnung ist uns dennoch mit allem Ernst geboten. Nicht der Versuch der „Sicherung” ist verfehlt, sondern höchstens die Bedeutung, die wir ihr in diesem paradoxen Verhältnis von Geist und Geschichte beimessen. Ist aber die lehrmäßige Bekenntnisbildung weniger ein Versuch, Identität und Kontinuität zu sichern als die institutionelle Form? Dabei hat die personale Bindung und Tradition nach aller Erfahrung die größere Aussicht, die Dauer zu gewährleisten als die sachliche. Personen verbinden, Lehren trennen, het sogar Harnack erkannt (Dogmengeschichte I, S. 415). Die gegenseitige Ansicht ist ein typisch humanistisch-akademischer Irrtum.

Das Bild, welches die Teilkirchen selbst von der Kirchengeschichte und damit von ihrer eigenen Stellung in ihr haben, ist ein völlig anderes. Jede von ihnen kennt ein klassisches Zeitalter und im Gegensatz dazu ein solches des Abfalls und Verfalls.

Die griechische Kirche erkennt die Geschichte bis zum 8. ökumenischen Konzil uneingeschränkt an; dann beginnen die

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Irrtümer und Abweichungen der römischen Kirche und später des Protestantismus. So entgeht sie den geschichtlichen Entscheidungen des 2. Jahrtausends, welche die lateinische Kirche mutig auf sich genommen hat. Statt der Entelechie des Aristoteles, die ein Moment der Zeit und Entwicklung in sich trägt, wählt die griechische Theologie die zeitlose Bildhaftigkeit des Platonismus. Aber sie hat für die Entwöhnung von geschichtlicher Entscheidung in der Gegenwart einen bitteren Preis zahlen müssen; ohne diese wäre wohl eine so radikale Geschichtsmetaphysik wie die bolschewistische nie in ihrem Raum zu solcher Herrschaft gelangt.

Für die römische Kirche ist das Hochmittelalter, hauptsächlich das 13. Jahrhundert, das große Idealzeitalter. Für die Kirche wird das idealistische Schema der Selbstentfaltung festgehalten. Die Welt dagegen gibt — töricht und böswillig zugleich — von da ab jene klassische Lebensform auf — so klagt man. Alle entgegenstehenden Geschichtstatsachen werden ausgeschieden und bagatellisiert. Hätten wir für den päpstlichen Primat auch nur einen Bruchteil der Zeugnisse, die wir für bischöfliche Verfassung und Gemeinderecht aus der alten Kirche besitzen, so hätten wir ganze Bibliotheken mit Darstellungen darüber. So wird dies alles in den Darstellungen unterdrückt.

Für den Protestantismus wiederum ist die vorreformatorische Zeit diejenige des Abfalls und grundsätzlich verdächtig, klassisch jedoch nur eigentlich die Zeit der Reformation, deren geschichtliche Früchte selbst schon wieder im Zwielicht stehen und gern in Gegensatz zu dem eigentlichen oder frühen Ansatz Luthers gestellt werden. Man läßt sich auch nicht eigentlich auf seine eigene Geschichte behaften, so gern man sie lobt. Es genügt vielmehr idealistisch die reine Lehre, den reformatorischen Ansatz oder das Prinzip der historisch-kritischen Forschung auf den Schild zu heben — ohne Rücksicht auf die Konkretisierung: Methodentradition ohne verantwortliche Geschichte. Die eigentümliche Geschichtslosigkeit verbietet es, wenigstens gewisse frühe Zeiträume der Kirchengeschichte anzuerkennen: ein wirklicher Consensus über

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die Anerkennung des „Consensus der ersten fünf Jahrhunderte” hat noch nicht bestanden; sodann erkennt man die Lehre der ersten altkirchlichen Konzilien an, nicht aber das von ihnen gesetzte Kirchenrecht. Dort hat offenbar, weil es um Rechtsfragen ging, der Heilige Geist geschlafen. Denn Rechtsfragen sind ohnehin der Gesetzlichkeit verdächtig. Man ist gezwungen, bis in die apostolische Zeit zurückzugehen, und die Konsequenz der Geschichtslosigkeit führt schließlich selbst zur Antastung des biblischen Kanons, je mehr dessen Geschichtlichkeit hervortritt. Was Evangelium ist und als solches anerkannt werden kann, wird vom reformatorischen Ansatz her interpretiert; nicht mehr das Evangelium bestimmt die Lehre, sondern die Lehre das Evangelium. An dieser Stelle ist Paulus nicht auch der Höhe des Evangeliums.” Die geborenen Historisten verlieren die Geschichte. Das Mittel, der Geschichte auszuweichen, ist ihre Auflösung in eine diskontinuierliche Kette von aktuellen Entscheidungen — eine erkenntnistheoretisch unmögliche Vorstellung, von der man meint, das sei die spezifische Wirkungsweise des Heiligen Geistes. So bleibt nur die Wahl zwischen einer unmöglichen Beschränkung auf den engen Raum der Reformation oder einem ebenso unmöglichen Aktualismus.

Was hier im tiefsten Grunde wider das Evangelium ist, ist nicht die eine oder die andere oder eine dritte denkerische theologische Konzeption, sondern daß die denkerische Erkenntnis der Wahrheit, sich an die Stelle der geistlichen Wirklichkeit gesetzt hat. Das Evangelium verkündet eine wirkende, wirkliche Wahrheit und widersteht jeder Trennung von Wirklichkeit und Wahrheit wie jedem Versuche mit der Wahrheit schon die Wirklichkeit haben zu wollen.

Was ist das Ergebnis:

1. Die Reformation steht in einem grundsätzlich, nicht nur quantitativ viel höherem Grade im Zusammenhang der Gesamtkirchengeschichte als gemeinhin angenommen und anerkannt wird, und kann aus dieser nicht abgelöst werden. Die Vorstellung einer zeitlos einmaligen Wiederentdeckung des Evangeliums durch die Reformation führt zu einer Leugnung der kontinuierlichen Wirksamkeit des der Kirche

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verheißenen Geistes und zur Interpretation der Schrift von der Reformation statt umgekehrt; sie bedeutet einen geschichtlos-idealistischen Ansatz, der der konkreten Geschichtlichkeit des Evangeliums widerspricht.

2. Die Reformation ist für die Kirchen der Reformation verbindlicher, unaufhebbarer geschichtlicher Anfang und Grundlage. Im Gefüge der Gesamtkirchengeschichte ist sie jedoch auf allen Lebensgebieten der Anfang einer deutlich darstellbare Endepoche. Die Ursachen für diesen Endcharakter liegen selbst wesentlich vor der Reformation und zwar hauptsächlich in der Scholastik. Die Reformation ist eine unvollendete geblieben, weil sie den Rahmen der sie auslösenden und konstituierenden Gegensätze der mittelalterlichen Theologie nicht in genügendem Maße gesprengt hat. Infolgedessen hat sie selbst die Kräfte hervorgerufen, die ihrer Vollendung entgegenstanden.

3. In beiden Kirchen ist der gewaltige weltgeschichtliche Anstoß der Reformation und Gegenreformation nach relativ kurzer Zeit erlahmt. Ohne wesentliche Unterschiede sind beide Kirchen one zureichende Widerstands- und Unterscheidungskraft säkularen Geistesmächten anheimgefallen. Beide stehen ebenso seit Mitte des 19. Jahrhunderts in einer weitreichenden Bewegung zu neuer Verselbständigung, Absetzung von der Welt und deren Durchdringung. Aus dieser Lage sind auch die Gegenwartsaufgaben des Protestantismus zu verstehen.

4. Die Kirchengeschichte vollzieht sich in dauernder Bezüglichkeit zur Welt, in ständigen Pendelbewegung der Abstoßung und Anziehung, der Freiheit und der Abhängigkeit, aber immer in deutlicher Eigengesetzlichkeit. Ihre Lebens- und Rechtsformen lassen sich nicht auf übernommene weltliche Formen reduzieren, sondern haben ihre eigene Gestaltgesetzlichkeit (Morphologie). Es spricht im Gegenteil viel dafür, daß die geistigen Entscheidungen und Formbildungen des Kirchenrechts den vergleichbaren weltlichen Bildungen vorangehen (Gesetz der Praecession des Kirchenrechts).

5. Das Geschichtsbild aller Teilkirchen ist wesentlich durch die Bildung von Sündenfallmythen bestimmt, denen nur ein

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sehr begrenzter Wahrheitswert innewohnt. Deren Berechtigung liegt nicht in der objektiven Wahrheit des geschichtlichen Urteils, sondern offenbar in der Unentbehrlichkeit maßgebender Leitbilder, die nicht außerhalb der Geschichte gedacht werden können und ihr Gegenbild erfordern.

6. Die Einordnung der Reformation in den Zusammenhang der gesamten Kirchengeschichte verleiht ihr einen viel höheren Grad der geschichtlichen Legitimität, als die Hervorhebung eines isolierten, zur Abstraktion verleitenden Neuansatzes. Es ist mit allem Ernst zu prüfen, wieweit die Struktur dieses Denkens idealistische Züge vorwegnimmt.

7. Zum Gehorsam des Glaubens gehört auch die Bereitschaft, geschichtliche Entscheidungen auf sich zu nehmen. Die Theologie ist eine verantwortliche und gefährliche Wissenschaft, deren Fehlansätze sich nach Jahrhunderten in politisch-sozialen Katastrophen auswirken. Zu diesem Gehorsam gehört auch die Bereitschaft, das Ganze des kirchengeschichtlichen Zusammenhangs zu sehen. Der Hinweis auf die Verfehlbarkeit und Vorläufigkeit alles Geschichtlichen ist kein Entschuldigungsgrund für ein Ausweichen. Das Nichthandeln ist ebenso verantwortlich wie das Handeln.

8. Die reformatorische Theologie wird in dem Maße evangelische Freiheit bewähren, ihren Auftrag erfüllen und vorwärtsleben, als sie sich von der Fixierung auf die historischen Gegensätze freimacht. Während man in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus dringlich davor warnt, sich durch verhärtete Frontbildung in die Abhängigkeit des Gegensatzes bringen zu lassen, tut man dies immer noch gegenüber dem Katholizismus.

9. Die Merkmale der Kirche sind nicht primär in Verbindung zu bringen mit soziologischen Kategorien und Idealbildern. Liturgie, Dogma, Kirchenrecht und besondere Gemeinschaften sind wesentlich eigenständige Bildungen, die als spezifische Lebensformen der Kirche in voller Freiheit entschlossen bejaht und gehandhabt werden müssen. Die nach Jahrhunderten wiedergewonnene Freiheit von Staatskirchentum und säkularen Geistesmächten stellt den Protestantismus auf allen diesen Gebieten vor gänzlich neue Aufgaben, deren Inangriffnahme

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in der Reformation sehr schnell zum Erliegen gekommen ist und die mit neuen Mitteln bewältigt werden müssen. Vor diese Aufgabe sind und werden auch diejenigen evangelischen Kirchen Gestellt, die nicht durch eine Auseinandersetzung mit einem kirchenfeindlichen Staat hindurchgegangen sind.


Asmussen, H. e.a. (1957)